von Marcel Porta

30.06.2017, 15:12 Uhr:

Niemand vermag zu sagen, warum sich der Schmetterling – ein gewöhnliches Tagpfauenauge – genau in diesem Augenblick entschließt, sich von der Flockenblume zu lösen und loszufliegen. Wir können mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es sich dabei um einen Zufall handelt, wie er sich zu jeder Zeit milliardenfach ereignet.

30.06.2017, 15:13 Uhr

Ein Frosch, der den Schmetterling seit geraumer Zeit beobachtet hat, entscheidet sich im selben Moment loszuspringen und verfehlt wegen dessen unverhofftem Start den Falter mit seiner hervorschnellenden Zunge um Haaresbreite. Irritiert ob seines Misserfolges, schaut er dem davonsegelnden Leckerbissen hinterher und vermasselt die Landung auf der feuchten Wiese.

30.06.2017, 15:14 Uhr

Das erweist sich als fataler Fehler, weil er so den heraneilenden Storch nicht bemerkt. Dieser ist gerade dabei, zu seinem Nest zurückzukehren, als er den unvorsichtigen Frosch bemerkt. Er unterbricht seinen Start, schnappt den Unvorsichtigen unmittelbar nach der missglückten Sturzlandung und verspeist ihn trotz heftiger Gegenwehr mit Genuss. In der Meinung, wo einer sei, müssten noch mehr sein, sucht er eine Weile vergeblich nach einem Bruder des Verblichenen. Endlich sieht er ein, dass er sich geirrt hat und erhebt sich schwerfällig in die Luft.
30.06.2017, 15:23 Uhr

Weit kommt er nicht, denn Karl Übelöhr, Malermeister mit eigenem Geschäft, geht seinem Hobby nach und kollidiert, an einem Fallschirm hängend, mit dem gesättigten Weißstorch. Letal für unseren gefiederten Freund, doch nicht minder tragisch für Karl Übelöhr. Sein Schirm fällt in sich zusammen, das inbrünstige Stoßgebet hilft nichts, und so stürzt er wie ein Stein die letzten dreißig Meter auf eine kaum befahrene Landstraße.

30.06.2017, 17:19 Uhr

Ein gnädiges Schicksal lässt den schwerverletzten Malermeister in tiefe Bewusstlosigkeit sinken, sodass er keine Schmerzen spürt und sein gebrochenes Genick nicht registriert. Fast zwei Stunden liegt er dort, nur beschnuppert von einem zufällig vorbeikommenden Fuchs. Sein unfreiwilliger Ruheplatz befindet sich direkt hinter einer Kurve, sodass der heranbrausende LKW-Fahrer keine Chance hat, rechtzeitig zu bremsen. Er überrollt den Schwerverletzten und macht ihm damit endgültig den Garaus.

30.11.2018, 23.01 Uhr

Martha Übelöhr überwindet den Tod ihres heißgeliebten Mannes nicht. Sie verfällt in tiefe Depressionen, läuft von Seelenklempner zu Heilpraktiker, von Arzt zu Scharlatan. Helfen kann ihr niemand. Immer stärkere Medikamente sollen ihre Lebensfähigkeit erhalten, doch obwohl sie es unendlich bedauert, ihren fünfjährigen Sohn Anton verlassen zu müssen, sagt sie der bitteren Welt Ade, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Während Anton im Kindergarten ist, fliegt sein Zuhause samt seiner Mutter infolge einer Gasexplosion in die Luft.

01.02.2031, 09.00 Uhr

Es gibt keine Verwandten, die bereit sind, sich um den kleinen Anton zu kümmern. Also übernehmen die Behörden die Verantwortung und stecken den kleinen, verschüchterten Jungen in ein Kinderheim. Dort bleibt er sich im Wesentlichen selbst überlassen, und als er das Heim mit achtzehn Jahren verlässt, ist aus dem lieben Kind mit glänzenden Aussichten von damals ein grausamer junger Mann geworden, der die Schuld für seine unterprivilegierte Existenz bei Ausländern, Asylanten und Andersfarbigen sucht.

03.01.2037, 17.00 Uhr

Nachdem Anton mehrmals wegen rechtsradikaler Aktivitäten mit der Justiz in Konflikt geraten ist, gründet er mit einigen Anhängern der gleichen Lebensphilosophie eine Partei mit dem Namen „Rechte Gesinnung“. In den folgenden Jahren scharen sie immer mehr Anhänger um sich.
Anton entwickelt sich zu einem begnadeten Rhetoriker, der seine verquere Logik in gewissen Kreisen bestens an den Mann zu bringen versteht. So wird er schnell zur Gallionsfigur seiner Partei.

01.03.2054, 18.00 Uhr

Dank der Medienpräsenz in den Monaten vor der Wahl überwindet Antons Splitterpartei knapp die Fünfprozenthürde. Weitere rechtsradikale Parteien ziehen dank der allgemeinen Unzufriedenheit mit den etablierten in den Bundestag ein, und als die Auszählungen zu Ende sind, steht fest, dass es mit hauchdünnem Vorsprung für die Ewiggestrigen reichen wird, wenn sie sich zu einer Koalition zusammenschließen. Womit niemand gerechnet und was keiner wirklich gewollt hat, wird zur Tatsache. Anton Übelöhr ist maßgeblich daran beteiligt, den Zusammenschluss unter Kanzler Martin Orbast, dem Spitzenkandidaten der größten Partei „Die Aufrechten“, Realität werden zu lassen.

19.12.2058, 23.30 Uhr

Trotz des hauchdünnen Vorsprungs bei den Wahlen, der sich in nur einem Sitz Mehrheit im Parlament niedergeschlagen hat, gelingt es den Regierenden in den nächsten Jahren, allen anderen Parteien Abgeordnete „abzuwerben“. Sie schwimmen im Geld, da die Zuwendungen mächtiger Interessenverbände jedes bisher gekannte Maß übersteigen.
Offiziell verschlechtert sich das Verhältnis zu Israel so weit, dass keine Botschafter mehr ausgetauscht werden. Inoffiziell allerdings geht der Hass so weit, dass unter Martin Orbast völlig neuartige Terroristenlager in Syrien finanziert werden. Mit allem versehen, was die moderne Rüstungstechnik zu bieten hat, trainieren perspektivlose junge Palästinenser den Ernstfall und warten auf den Einsatzbefehl.

20.12.2058, 04.30 Uhr

Gegen Angriffe aus der Luft sind die israelischen Atomwaffenarsenale gewappnet, nicht jedoch gegen die bestens ausgerüstete Armee von Fanatikern, die ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben bestens qualifizierte Spezialisten in die Hochsicherheitszonen bringen. Diese sind in der Lage und willens, die Atomsprengköpfe vor Ort zur Zündung zu bringen, auch wenn sie sich dabei selber atomisieren. Im Umkreis von fünfzig Kilometer bleibt kein Stein auf dem anderen, die Anzahl der Opfer geht in die Hunderttausende.
In Berlin knallen die Sektkorken und klirren die Gläser.

20.12.2058, 12.44 Uhr

Es gibt nur eine kurze Beratung in der Knesset, dann holt Israel zum Vergeltungsschlag aus. Um die übliche Verhältnismäßigkeit zu wahren, werden fünf Marschflugkörper auf den Weg gebracht. Da man in der Kürze der Zeit den wahren Schuldigen nicht ausmachen kann, belässt man es bei den üblichen. Irak, Iran, Syrien, Saudi Arabien, und weil man schon mal dabei ist, bekommt auch Pakistan sein Fett weg. Ein folgenschwerer Fehler, denn obwohl niemand in Pakistan weiß, wer die Atombombe über ihrem Land abgeworfen hat, wird im Gegenzug eine mit mehreren atomaren Sprengköpfen bestückte Bombe auf Neu Delhi abgefeuert. Danach ist es nur noch eine Angelegenheit von wenigen Minuten, bis die Atomraketen Russlands und der USA in der Luft sind.
20.12.2058, 12.45 Uhr

Ein vorbeifliegender Außerirdischer aus Beteigeuze, der gerade seinen Hyperantrieb programmiert, um auf schnellstem Weg nach Hause zu kommen und vor dieser Ecke des Weltalls wegen unheilbarer Dummheit der Bewohner zu warnen, erschrickt bis in seine gallertartigen Eingeweide, als der am dichtesten bewohnte Planet in diesem Sonnensystem vor seinen Sehtentakeln zu wabern beginnt und dann in einem wunderschönen Feuerball explodiert. In seiner Panik, rechtzeitig wegzukommen, bevor ihn die Bruchstücke ins All blasen, begeht er einen folgenschweren Fehler. Er entmaterialisierte zwar rechtzeitig, doch sein Zielort ist nicht wie geplant in der Nähe eines winzigen Sterns in Beteigeuze, sondern er liegt nur wenige Lichtminuten entfernt und ist heißer, als es jedem Lebewesen angenehm sein kann.

01.01.4991876432, 00.00 Uhr
24.12.9810, 12.00 Uhr Ortszeit

Knapp fünf Milliarden Jahre später registriert ein – in einer total veralteten Maßeinheit ausgedrückt – nur dreikäsehoher Astronom eine Supernova am Rande einer mittelgroßen Galaxie.
„Es gab vorher keine Anzeichen für eine Instabilität“, telepathiert er seinem Kollegen, „was mag nur der Grund für diese Explosion gewesen sein?“
V2
© Marcel Porta, 2016