Von Dagmar Droste

Der Beifall rauschte auf, als der letzte Akkord des Klavierkonzertes in A-Dur von Wolfgang Amadeus Mozart verklungen war. Benommen löste sie sich von ihrem Klavierhocker. Schaute in den voll besetzten Konzertsaal und suchte die Augen ihrer Mutter, die in der ersten Reihe saß, verbeugte sich und nahm wie durch einen Nebel, den nicht enden wollenden Applaus, die Gratulationen zum Gewinn des Nachwuchspreises und die Blumen, die ihr gereicht wurden, in Empfang.

Sie hatte es geschafft!

 

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Dina war ein bewegungsfreudiges Kind. Sie liebte es, mit der Mundharmonika im Mund auf dem Sofa auf und ab zu hüpfen. Die Sägespäne, die aus dem Untergestell des alten, morschen Sofas fielen, schränkten den Hüpf-Faktor zwar auf Dauer etwas ein, da weniger Sofainhalt auch weniger Hüpfen bedeutete, aber ein Springen vom Stuhl auf das Sofa machte ihr auch sehr viel Spaß. Musik, die erklang, setzte sie sofort in Bewegung um. Tische und Stühle wurden zu Trommeln. Sie sang, tanzte und erzählte. Das Drehen der Pirouetten, das Im-Kreis-Fahren auf kleinstem Raum vor der Haustür auf scheppernden Rollschuhen erforderte schon ein hohes Maß an Frustrationstoleranz der genervten Nachbarn. „Ein sehr kreatives und musikalisches Kind habt ihr, einen kleinen Zappelphilipp“, bekamen die Eltern zu hören.

 

Tatsächlich hatte Dina viele Talente. Sie war ein „bewegtes Kind“, entwickelte kreative Lösungen und war  geschickt im Erreichen ihrer Ziele. Dina vermittelte ihrer Umgebung ein Gefühl von „alles ist  möglich“ und, wenn nicht möglich, so doch erreichbar. Sie wollte mehr, wobei sie noch nicht recht wußte, was das „Mehr“ sein könnte. Es war ein Gefühl von Leben, das sie in ihrem Körper spürte – schwungvoll, klingend, bewegend. Den ihr eigenen Rhythmus. Eine Herausforderung für ein Elternpaar, das aus bescheidenen Verhältnissen kam und sich der geballten Energie der Tochter stellen mußte.

 

Dina wollte, genau wie ihre Freundinnen, in die Musikschule, in den Rollschuh-, den Turn- und in den Schwimmverein. Wer soll das bezahlen, fragten sich die Eltern und handelten mit Dina den Kompromiss aus, es zuerst mit der Musikschule zu versuchen.

Dina lebte auf! Sie lernte singen, tanzen, Noten lesen und auf Orff‘schen Instrumenten zu spielen. Musik klang in ihr – sie fühlte, dass Musik für sie mehr war, als sie zu hören und zu spielen. Musik war ihr Gefühl vom Leben. Es gab für sie nichts Schöneres.

Zu Weihnachten bekam Dina eine Blockflöte geschenkt und wurde in einen Kreis besonders musikalisch begabter Kinder aufgenommen, woraus sich ein Block­flötenquartett bildete, welches über die Stadtgrenzen hinaus bekannt wurde. Dinas Selbstbewusstsein wuchs, sie war eine anerkannte kleine Person. Es war eine schöne Zeit.

 

Sie verfügte schon über eine sehr fundierte musikalische Ausbildung, als die Musiklehrerin Dina den Gedanken an ein zweites Instrument nahe brachte. Klavier spielen? Das wäre wunderbar, ging es ihr durch den Kopf. Wo sollte sie ein Klavier her bekommen? „Du kannst zum Üben das Klavier in der Schule benutzen“, wurde ihr angeboten. Ein Anfang war gemacht! Zweimal in der Woche ging sie zum Üben, einmal zum Unterricht. Doch es war sehr mühsam.

 

Dina durchforstete die Anzeigen in der Zeitung. Vielleicht mochte jemand ein Klavier verschenken, hoffte sie. Aber zum Verschenken fand sie nichts. Doch die Anzeige einer Tanzschule ließ sie aufgeregt zu ihren Eltern laufen: „Klavier für 120 DM zu verkaufen“. Ihre Augen leuchteten und ihre Wangen waren vor Aufregung leicht gerötet, als die Eltern ihr vorschlugen, das Klavier zu besichtigen. Wie es die Eltern schafften, das Klavier zu bezahlen, blieb Dina verborgen, aber sie bekam ihr Klavier! Das schönste Klavier überhaupt, fand Dina. Es war schwarz, hatte Elfenbeintasten und über zwei Kerzenleuchter konnte die Tastatur ausgeleuchtet werden. Darüber hinaus war es total verstimmt und furchtbar schwer. Der Transport war kostspieliger als das Klavier.

 

Musik nahm in Dinas Leben immer mehr Raum ein. Egal wie der Tag verlaufen war, sie fand sich in der Musik wieder. Beethoven, Mozart, Chopin, Grieg, sie verfügte mittlerweile über ein reiches Repertoire, als ihre Musiklehrerin ihr vorschlug, sich für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule zu bewerben. Würde sie das schaffen? Etwas beklommen wurde ihr bei diesem Gedanken. Es wäre ein Traum, wenn sie es schaffen könnte. Sie wagte die Aufnahmeprüfung und sie wurde angenommen. Zum ersten Mal saß sie elitär – so fand sie – an einem Flügel, der in einem großen, hellen Raum mit bodentiefen Fenstern stand. Die Tür war gepolstert und die Akustik des Raumes wunderbar.

 

Ihre neue Musiklehrerin schlug ihr nach einiger Zeit vor: „Dina, du solltest Musik studieren!“ Dina war verwirrt. War das denn möglich? Sie hatte mittlerweile eine Lehre abgeschlossen und konnte so zum Familienunterhalt beitragen. Hinzu kam, dass sie noch nicht volljährig war. Entscheidungen wurden von ihren Eltern getroffen. Und dann war da ja auch noch die Schulbildung, die ihr für das Studium fehlte. Doch ihre Lehrerin zerstreute diese Gedanken :“Du schaffst das, nebenbei kannst du deinen höheren Schulabschluss machen und es gibt ein Stipendium, das  du bekommen kannst.“

 

Bisher war Dinas musikalische Entwicklung wunderbar und problemlos verlaufen. Dina war voller Zuversicht, ihre Eltern von ihrem Wunsch, Musik zu studieren, überzeugen zu können. Doch dann passierte etwas, womit sie nicht gerechnet hatte.

„Was soll das, Musik zu studieren, willst du als Barmusikerin enden?“, äußerte ihr Vater und ihre Mutter fügte hinzu „Wer soll dich ernähren, wovon willst du leben? Und überhaupt fehlt dir der schulische Abschluss für ein Studium!“ Dina war wie versteinert. „Mach was Vernünftiges, du hast einen anständigen Beruf, der dich ernähren kann. Musik ist brotlose Kunst“, erwiderte ihr Vater. Alles Flehen und Argumentieren half nicht, die Eltern blieben hart.

 

Das war das Ende! Alles schien sinnlos! „Ich werde es nicht schaffen, wer sollte mir helfen? Sie glauben nicht an mich, sie glauben nicht, dass ich es schaffen kann“, ging es ihr durch den Kopf. „Hätte ich ein Kind, so würde ich alles tun, um ihm die Möglichkeit zu geben, das zu leben, was es fühlt, was es zufrieden und glücklich macht.“

 

Dina fasste in ihrer Verzweiflung und Trauer einen schwerwiegenden Entschluss. Sie schrieb die Abmeldung und heftete eine Nachricht an das schwarze Brett in der Musikhochschule: Klavier zu verschenken! Ein junger Student war überglücklich, das Klavier abholen zu können. Sie wollte niemals mehr Klavier spielen!

 

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Die Jahre gingen ins Land. Für Dina gab es einen gut bezahlten Beruf, eine höhere Schulbildung, ein Studium, eine Tochter und ein neues Klavier …

 

© Dagmar Droste