Von Denise Fiedler

Nichts, nein, wirklich nichts bereitet einen auf das Muttersein vor. Man bekommt diesen zappelnden Wurm in den Arm gedrückt und wird sich mit einem Schlag der eigenen Hilflosigkeit bewusst. Als wären alle Berichte der kindererfahrenen Freunde an einer unsichtbaren Barriere abgeprallt. Da bietet auch kein Erziehungsratgeber Hilfe. Hat man die eine Phase überwunden, klopft bereits die nächste, schlimmere an die Tür.

Mia stand vor mir, den Schulranzen noch geschultert, mit geröteten Wangen, die, obwohl sich der meiste Babyspeck bereits verlaufen hatte, immer noch rund und pausbäckig wirkten. Der Blick irgendwo zwischen fiebrigen Glanz und freudiger Erwartung. »Bitte, Mama!«

»Jetzt zieh erst einmal die Schuhe aus«, sagte ich.

Zeit gewinnen. Zeit, um die Gedanken zu ordnen, die passende Antwort zu finden.

Ich hatte bereits von dem Talentwettbewerb der Gemeinde gehört, verdammt, überall in der Stadt hingen die Plakate. Nie wäre mir eingefallen, meine Tochter dafür anzumelden.

Ich liebte sie, liebte alles, was sie tat, doch irgendwo in meinem Inneren gab es diese kleine Stimme, die mir zuflüsterte, dass sie nur eine normale Sechsjährige war, deren einziges Talent darin bestand, Chaos in dem Raum zu verbreiten, in dem sie sich gerade befand.

Ignorieren, fiel mir ein. Wenn ich nicht weiter darauf einging, vergaß sie vielleicht ihre Bitte.

»Nele macht auch mit«, sagte sie später am Tisch. Sah mich mit dem gleichen flehenden Blick an, während sie ihre Tomatensuppe löffelte.

Klar, ausgerechnet das Kind, welches schon seit seinem dritten Lebensjahr in die Ballettschule ging, nicht ganz freiwillig, fünf Mal die Woche.

»Ihre Mutter sagt, sogar das Fernsehen wird da sein.«

Na, wenn Neles Mutter das sagte. Innerlich verdrehte ich die Augen.

»Schatz«, sagte ich. »So ein Talentwettbewerb ist nicht so einfach, wie du dir das vielleicht vorstellst. Hast du dir denn schon überlegt, was du vorführen willst?«

»Erst dachte ich an Blockflöte. Im Musikunterricht habe ich mal darauf gespielt. Aber dann hat Jonas gesagt, er macht das.«

Jonas, in der Musikschule seit zwei Jahren. So langsam kamen mir Zweifel, ob ich mein Kind genug gefördert hatte.

»Jetzt möchte ich auch tanzen, so wie Nele.«

Der Löffel fiel mir aus der Hand. Rote Sprenkel verteilten sich auf den Fliesen. »Maus, Nele tanzt schon seit Jahren.«

»Auf Papas Geburtstag hast du gesagt, ich tanze toll!«

Ich hasste es, wenn sie ihren Mund zur Schnute zog, aber noch mehr hasste ich, dass ich das Wort, das mir im Kopf rumging, nicht laut aussprechen durfte – Scheiße!

»Wir besprechen das nachher mit Papa.«

Doch die Hoffnung auf Rückendeckung war vergeblich.

»Das ist ja toll, du wirst bestimmt ganz toll tanzen!«, sagte Martin, meine Blicke und Gesten ignorierend. Als wir alleine im Bett lagen, fügte er noch hinzu: »Lass sie doch.«

»Sie wird sich blamieren.«

»Unsinn, das macht ihr bestimmt Spaß.«

»Sie hat gefragt, ob wir noch irgendwo Stoff haben, sie möchte sich ihr Kostüm selbst nähen.«

»Prima, dabei kannst du ihr helfen.«

»Sie will keine Hilfe.«

Er zuckte mit den Schultern und löschte das Licht. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. An der Decke waren dunkle Flecken, die Überreste der Mücken, die ich zuvor erschlagen hatte. Der Gedanke an eine riesige Fliegenklatsche hatte plötzlich etwas Beruhigendes.

Eins stand fest, mein Mann und meine Tochter hatten sich in dieser Sache gegen mich verbündet. So war es auch Martin, der wenige Tage später das Formular ausfüllte.

Jeden Tag schloss sich Mia in ihrem Zimmer ein und immer öfter kam ich meiner Mutterpflicht nach, brachte ihr frisches Obst und etwas zu Trinken, doch bevor sie die Tür öffnete, hörte ich, wie sie rumorte. Wenn ich dann über ihren Kopf hinweg einen Blick erhaschen wollte, war nirgends etwas von den Stoffen zu sehen, die ich ihr gegeben hatte.

Wenn sie in der Schule war, durchsuchte ich ihr Zimmer, stets darauf bedacht, alles so zu hinterlassen, wie ich es vorgefunden hatte. Schließlich fand ich den Stoff, tief verbuddelt in einer Kiste voller Kuscheltiere. Nachdem ich einen weiteren Blick auf die Uhr geworfen hatte, zog ich das Kostüm heraus und hielt es prüfend hoch.

Es war schrecklich!

Sollte es eine Art Einhorn sein, oder doch ein Dinosaurier? Es schien wie eine Mutation, keine coole, wie bei den X-Men, eher a la explodierter Teddybär.

Ich setzte mich auf Mias Bett und heulte. Vielleicht sollte ich … Aber dann merkte Mia, dass ich ihr Zimmer durchsucht hatte. Ich könnte sagen, dass ich es zufällig beim Putzen … Egal wie, ich spürte schon ihren tadelnden Blick, das Zerreißen des Bandes zwischen Mutter und Tochter.

Nachdem ich mich beruhigt hatte, legte ich das Kostüm zurück in die Kiste, schloss die Tür und bereitete das Mittagessen vor.

Der Kalender schob den Talentwettbewerb immer näher. Jeder Versuch, Mia ins Gewissen zu reden, wurde abgewehrt, sowie das erneute Angebot, ihr bei dem Kostüm zu helfen.

Nachts machte ich kein Auge mehr zu, wenn ich es tat, sah ich die Mitglieder der Gemeinde und Neles Mutter, wie sie schallend über meine Tochter lachten.

Martin war immer noch keine Hilfe, er klatschte in die Hände, wenn sie sich vor dem Sofa drehte und etwas, das wohl eine Art Choreographie sein sollte, vorführte.

Dann kam der Anruf. Die Dame stellte sich als Gerda Popel vor, Organisatorin des Talentwettbewerbes. Man könne nicht erwarten, eine Extrawurst zu bekommen, die Organisation sei sehr zeitaufwendig und der Wettbewerb streng ausgelegt.

»Ich verstehe nicht ganz …«

»Ihre Tochter sagte uns, dass sie wegen weiterer Termine unbedingt als erste auftreten müsse. Wir können Ihnen so weit entgegenkommen, dass Mia als dritte an der Reihe ist, aber alle weiteren Veränderungen wären zu kompliziert, da einige Teilnehmer gewisse Aufbauten für ihre Vorführung benötigen.«

Ich stammelte eine Entschuldigung, es würde schon klappen.

Mia war von dem Ganzen unbeeindruckt. »Hauptsache ich bin vor Nele dran.«

Weitere Erklärungen bekam ich nicht.

Die Vorbereitungen für den Abend glichen einer Tortur. Ich war hin und hergerissen zwischen der Wahl eines Kleides oder doch lieber einen Kapuzenpulli. Martin hatte das letzte Wort und so schlüpfte ich später in die Pumps.

Der Saal war komplett gefüllt. Neles Mutter hatte recht gehabt, ein regionales Fernsehteam baute seine Kameras auf. Zwischen den Stimmenwirrwarr suchten wir unsere Plätze, als Familienmitglieder in den ersten Reihen. Mia war bereits hinter der Bühne, auch hier wollte sie keine Hilfe von mir.

Der Raum wurde dunkel und der erste Teilnehmer trat auf. Jonas verhaspelte sich einmal, seine Mutter zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen.

Schließlich war Mia dran. Willkürlich rutschte ich tiefer in meinen Sitz. Die Schmerzen bei der Geburt waren nichts im Vergleich zu dem hier. Dieses Monster mit Mias Gesicht watschelte über die Bühne, stolperte über seinen eigenen Schwanz, stand wieder auf und drehte sich im Kreis. Entfernt erkannte ich die Choreographie aus unserem Wohnzimmer.

Um mich herum lachten die Menschen, einer pfiff sogar.

Nein, dachte ich, das hat sie nicht verdient.

Bevor das Lied um war, ging ich hinter die Bühne. Nele stand in einer Ecke, die Augen weit aufgerissen, während ihre Mutter auf sie einsprach.

Mia verbeugte sich noch einmal vor dem Publikum. Als sie auf mich zukam, kniete ich mich hin, breitete die Arme aus, um sie in Empfang zu nehmen, doch sie rannte an mir vorbei, direkt auf Nele zu.

»Nele!«, rief sie. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich war so schlecht, da kann dein Auftritt nur super werden!«

Nichts, wirklich nichts bereitet einen darauf vor. Mein Hals schnürte sich zu und mit Mühe unterdrückte ich die Tränen.

Den Wettbewerb gewann ein Klavier spielender Hund, worüber sich die Mütter von Nele und Jonas lautstark beschwerten. Wir holten uns eine riesige Familienpizza und verbrachten den restlichen Abend auf der Couch. Später kuschelten Mia und ich uns in ihr Bett. Ich blieb auch noch, als sie bereits eingeschlafen war, die Hand auf ihrem Kopf.

Ja, meine Tochter war eine ganz normale Sechsjährige, aber das Chaos, das sie hinterließ, hatte System.