Von Gerhard Schönbeck

Da steht eine frische Leinwand.

 

Oh mein Gott.

 

Es ist offensichtlich wieder soweit. Ich bin gespannt, was es diesmal werden wird. Ein undefinierbares knalloranges Etwas in einem undefinierbaren knallrosa Etwas vielleicht. Mit einer dunkelblauen, gelb umrandeten Linie mittendurch. Wie um Gottes willen kann man so etwas als Kunst bezeichnen? Und Millionen dafür ausgeben? Was läuft falsch auf dieser Welt?!

 

Durchatmen. Ich muss mich abregen. Schnell.

 

Ah, herrlich. Ein Blick zur Seite lindert den Schmerz. Dieses wundervolle Licht, dieser brillant eingefangene Moment eines herannahenden Unwetters, die Angst in den Augen der Landwirte… Das ist Kunst. Das ist nicht einfach Talent, das ist eine Gabe. Hach ja. Der Sommerkatalog der Galerie Zur romantisch-knorrigen Eiche ist halt immer wieder eine Augenweide. Da waren wir öfters prominent vertreten, in der guten alten Zeit… Warum er sich den noch kommen lässt, kann ich mir auch nicht erklären. Bringt ihm rein gar nichts mehr. Vielleicht, um sich die nötige Aggression für noch mehr undefinierbare Etwasse zu holen, was weiß denn ich. Aber mir solls recht sein, zumindest ein wenig Balsam für meine geschundene Seele.

 

Früher, da habe ich wirklich gerne mit ihm zusammengearbeitet. Den Moment, als er mich zum ersten Mal in ein sattes Grün getaucht hat, nur um dann noch eine Wenigkeit an Gelb und Ocker aufzunehmen und eine warme Frühherbststimmung auf die Leinwand zu zaubern, werde ich nie vergessen. Oder die Sommernachmittage am Weiher, die Sonne bricht durch das schüttere Blätterdach der Trauerweiden – was für phänomenale Lichteffekte haben wir da hinbekommen! Gut, man hat für solche Bilder nicht die Welt bezahlt bekommen, aber zum Leben hat es allemal gereicht.

 

Ich bin sein Lieblingspinsel, sein Talisman, hat er immer gesagt. Damals war das für mich eine Ehre. Ich, der Schlüssel zur Vollkommenheit. Das Werkzeug, durch das sein Genius in die Welt tritt. Die Schnittstelle zwischen seinen Ideen und deren Ausformung auf der Leinwand… Mein Gott, ich verliere mich… Aber was helfen mir Erinnerungen an goldene Zeiten, wenn er mich jetzt für seine unsäglichen neuen Einfälle missbraucht. Mit mir irrwitzige Farbmischungen aufnimmt und auf den Leinwänden nichts als Chaos anrichtet. Ein Farbspritzer hier, ein unmotivierter Pinselstrich da, ein Bild, das aussieht als hätte sich ein laktoseintoleranter Pavian nach dem Genuss von vier Litern Bananenfrappé darauf übergeben. Fürchterlich, einfach fürchterlich. Ich bin nicht aufgeschlossen gegenüber Neuem. Gebe ich offen zu. Und ich will nicht dafür verwendet werden. Sobald er mich in schreiendes Gelb taucht und mich über die Leinwand jagt, würde sich mir glatt der Magen umdrehen, wenn ich denn einen hätte. Wenn es nach mir ginge, würde es Pinsel ausschließlich nach künstlerischer Richtung getrennt zu kaufen geben. Ich wäre dann ein brillanter Pinsel was die klassisch-romantische Richtung angeht. Meinetwegen auch noch mit leicht impressionistischem Einschlag, wiewohl ich mit rosafarbenen Wolken immer noch meine Schwierigkeiten habe.

 

Naja.

 

Nein. Aus. Ende. Mit mir nicht mehr. Ich will endlich wieder Bäume malen, die wie Bäume aussehen. Weizenhalme, die sich sanft im Wind wiegen. Keine karierten Polygone, die den unvermeidbaren Zerfall der Zivilgesellschaft verdeutlichen sollen. Ich mache da nicht mehr mit. Da kann er sich von mir aus auf den Kopf stellen. Es hat lange genug gedauert, aber ich muss jetzt einmal an mich denken. Sonst gehe ich vor die Hunde. Er hat zu begreifen, dass er sich auf einem Irrweg befindet. Ich muss ein Zeichen setzen. Ein Schuss vor den Bug. Eine letzte Warnung. Das ist es. Aber wie kriege ich das hin?

 

Einen Moment.

 

Er hat auf dem Tisch mit Säure versetzte Dispersion verschüttet – noch von seinem letzten Projekt, als er es unglaublich witzig fand, in eine Ecke der Leinwand ein Loch zu sengen. Als Manifest für… Wofür war das eigentlich? Unwichtig. Wenn ich es schaffe, mich bis zu den Säurespritzern zu rollen und mich darin zu wälzen, nur ein ganz klein wenig – das müsste reichen, dass mir die Haare ausfallen, die Säure ist ziemlich stark. Ich habe mich bis jetzt zwar noch nie in meinem Leben von selbst bewegt, aber einmal ist immer das erste Mal. Konzentration… Du liebe Güte, es funktioniert tatsächlich! Nur noch ein bisschen… Geschafft. Huh, das brennt ganz ordentlich. Aber das ist es wert, selbst wenn es bedeutet, dass ich wahrscheinlich nie wieder malen kann. So. Jetzt will ich sehen, was er mit seinem Lieblingspinsel noch fertigbringt. Allenfalls noch in sehr schmalspurigem Ausmaß spachteln. Er kommt! Das wird eine Gaudi!

 

Jaja, schau du nur in Gedanken versunken auf die Leinwand und erschaffe in deinem kranken Geist ein neues, grässliches Machwerk. Ich warte nur darauf, dass du nach rechts auf den Tisch schaust und zu deinem geliebten Pinsel greifen willst… Jetzt macht er ein paar Schritte auf die Leinwand zu und – hält kurz inne. Er nimmt die Leinwand ab und dreht sich um… Er dreht sich um? Was tut er? Wo will er hin? Warum um alles in der Welt nimmt er die Leinwand mit? Er wird doch nicht…

 

Städtischer Anzeiger, Feuilleton / Kurz gemeldet

 

In der Galerie Zum unmotivierten Pinselstrich fand am gestrigen Abend unter reger Beteiligung kunstinteressierter Zuschauer die lange erwartete Vernissage einer aufstrebenden Künstlergruppe statt. Unter dem vielversprechenden Titel „Zu neuen Ufern“ wurden äußerst ambitionierte Werke vorgestellt, die einen weiten Bogen über die aktuelle stilistische Szene spannten und dabei auch die Tür zu neuen, unerhörten Denk- und Sichtweisen weit aufstießen. Die vollständige Ablösung der breitgetretenen rein abbildenden Kunst, der zum Gähnen langweiligen figürlichen Gebundenheit durch die beinahe völlige Freiheit im Ausdruck ist nunmehr einen weiteren wichtigen Schritt vorwärts gekommen.

 

Besonderes Aufsehen erregte dabei das Werk eines Geheimtipps in der Branche. Gleichwohl, Geheimtipp wird er nicht lange bleiben. Sein Werk „Die Weiße Stille“ ist ganz einfach und ohne groß Superlative zu strapazieren ein Meilenstein. Für den flüchtigen Blick nichts als eine weiße Leinwand, doch der genaue Beobachter sieht sofort diese Ruhe, diese Kraft, die von dem Bild ausgeht. In beeindruckender Manier gelingt es dem Künstler, den unvermeidbaren Zerfall der Zivilgesellschaft zu verdeutlichen, ja geradezu auf den Punkt zu bringen. Eine aufregende Alternative zu den für diesen Zweck bisher vorherrschenden karierten Polygonen, die doch schon zunehmend abgeschmackt wirken.

 

Man darf jedenfalls gespannt sein auf den nächsten Streich dieses Revolutionärs, dem mit seinem kompromisslosen Stil – so weit wage ich mich vor – sicher die Zukunft gehört.