Von Eva Fischer

My dear diary!

 

Du bist der einzige Freund, dem ich alles anvertrauen kann, der alles für sich behält und der mir keine doofen Ratschläge gibt wie die Erwachsenen. Du sagst mir nicht, dass ich mein Zimmer aufräumen soll und morgens vor der Schule nicht trödeln darf.

 

Meine Mutter hat in der letzten Zeit mehr Inlandflüge und lässt sich öfter zu Hause blicken. Sie meint wohl, ich bin blöd, und durchschaue ihr Spiel nicht. Es geht nicht um mich, sondern um ihren ehemaligen Schulkollegen, mit dem sie sich neuerdings manchmal trifft. Vermutlich haben sie Sex miteinander. Mir ist das egal. Meine Mutter glaubt wohl, dass ich noch nicht aufgeklärt bin. Dabei haben wir alles schon in Bio gehabt. Einige Jungs haben die Kondome als Wasserbomben benutzt und auf uns Mädels geworfen. Ich stelle mir Sex nicht so toll vor.

Mamas neuer Lover heißt Jürgen und ist ganz nett. Wir waren letzte Woche im Phantasialand. Mit zwei Erwachsenen ist das nicht so der Hit. Lieber hätte ich meine Freundin Mia mitgenommen. Als wir auf der Achterbahn waren, habe ich auch gesehen, wie Mama Jürgens Hand packte, weil sie Schiss hatte. Ist doch klar, nur wenn ich jemanden mag, dann lasse ich mich antatschen.

 

Wer mein Vater ist, wird wohl ein ewiges Geheimnis bleiben. Jedenfalls stellt sich Mama immer taub, wenn das Gespräch darauf kommt. Immerhin hat sie mich nach New York geschickt und das war megageil. Mit Simon hatte ich irre viel Spaß und es wäre schon klasse, wenn er mein Vater wäre. Zumindest schicken wir uns noch Mails und ich kann ihn jederzeit besuchen, hat er mir versprochen.

 

Bald ist Weihnachten. Jedenfalls gibt es bei Aldi schon Dominosteine und Weihnachtsdeko. Ich weiß schon, was ich mir wünsche. Ich will einen Hund. Es soll eine Sie sein und Marihuana heißen. Max kann dann Sex mit ihr haben und dann kriegt sie Junge. Das stelle ich mir cool vor. Wenn Mama ein schlechtes Gewissen wegen Jürgen hat, dann ist sie bestimmt großzügig. Mia würde mich dann auch beneiden und wenn sie nett zu mir ist, dann schenke ich ihr ein Hundebaby.

 

Leider hat Mia nicht mehr so viel Zeit für mich. Zweimal die Woche geht sie zum Training. Kunstradfahren oder so ähnlich. Jedenfalls steht sie auf dem Sattel und macht so akrobatische Bewegungen. Ich habe sie schon gefragt, ob sie später im Zirkus auftreten will, aber da hat sie mich ausgelacht. Es mache ihr einfach Spaß und das Gleichgewicht halten, sei eine Herausforderung, die ihr nicht schwerfalle. Ich glaube, sie will sich nur wichtig machen, denn die Jungs finden ihre Videos auf dem Handy klasse und auch die Sportlehrerin ist ganz begeistert.

 

Ich habe andere Pläne. Ich will nämlich Schriftstellerin werden und Hunde- oder Schulromane schreiben. Momentan lese ich „Die unlangweiligste Schule der Welt“. Ich bin schon bei Band 3. Marlene habe ich meinen Berufswunsch anvertraut. Schließlich verkauft sie Bücher und lädt auch schon mal Autoren zu einer Lesung ein. Ich habe ihr vorgeschlagen, dass sie Sarina J. Kirschner einladen soll. Die hat sich nämlich die tollen Bücher ausgedacht. Marlene sagt, es ist gut, dass ich Tagebuch schreibe. Dann kann ich schon mal üben. Als ich ihr von Mia erzählt habe, meinte sie, dass Schreiben mindestens eine so große Kunst ist wie Kunstradfahren.

 

Also, liebes Tagebuch, hier kommt das erste Kapitel von Sophie Müller, der coolsten Autorin aller Zeiten!

 

Es war wieder mal so ein Tag, wo Doro am liebsten im Bett geblieben wäre, denn was erwartete sie schon? Ein megalangweiliger Schultag! Doro fand, dass Schule vollkommen überflüssig war, denn alles Wissenswerte hatte Herr Gockel unter seinen Fittichen und er war nicht geizig, spuckte auf Knopfdruck alles Wissen der Welt aus. Also, warum sollten die Kinder ihre Köpfe damit belasten? Hinterher sah es darin doch nur wie in einer Rumpelkammer aus. Biomüll stapelte sich hinter Mathedreiecken, Erdkundekarten kämpften gegen Bunsenbrenner. Das reinste Chaos! Wäre es nicht besser, einer Blume beim Wachsen zuzusehen oder mit den Zahlen zu jonglieren, um zu sehen, ob sie tanzen konnten? Erdkunde wäre nur interessant, wenn man sich in einen fremden Kontinent beamen könnte. Und bei Physik könnte man zum Mars fliegen und die Schwerlosigkeit im Raumschiff für eine Rückwärtsrolle nutzen. Während Doro ihren Gedanken nachhing, klopfte es an ihre Tür. Ihre Mutter mahnte sie, sich zu beeilen. Doro seufzte. Mütter waren auch überflüssig, zumindest morgens, wenn sie ihre Kinder antrieben wie eine unwillige Schafsherde.

 

Doro guckte aus dem Fenster, wo ein Eichhörnchen elegant auf einem Ast balancierte und mit seinem buschigen Schwanz ihr zuwedelte, wie es schien. Du hast es gut, dachte Doro. Du kannst überall in die Fenster gucken und die Leute beobachten, musst nicht zu Frau Entenbein, die dein Hirn unbedingt schreddern will. Das Eichhörnchen hatte Doros Gedanken verstanden, denn mitten im Klettern stoppte es, vollzog eine Kehrtwendung und sprang auf das Fenstersims, direkt vor Doros Zimmer.

„Hi! Ich bin der Ole!“, sagte es und schaute Doro mit seinen Knopfaugen interessiert an.

„Wieso Ole? Bist du ein Junge?“, fragte Doro verdutzt.

“ Ich dachte, Eichhörnchen heißen Knuspernuss oder Flitzefax oder…“

„Ich heiße Ole“, unterbrach sie das Eichhörnchen. „Und wie heißt du?“

„Doro und nicht Dorothee oder Dorothea, wie meine Mutter mich immer ruft, wenn ich was ausgefressen habe oder was machen soll, Zimmer aufräumen, zur Schule gehen, Hausaufgaben machen…“

„Ich habe schon verstanden“, sagte Ole und putzte sich sein Schnäuzchen.

„Lust auf einen Ausflug, Doro?“

„Und? Wie soll das gehen?“

„Das Fenster öffnen, wäre schon mal ein Anfang“, riet Ole.

Doro gehorchte und schwups fand sie sich neben Ole auf dem Ast wieder. Sie trug einen samtenen  Pelz, über den sie bewundernd mit ihren Händen, pardon, Pfoten strich.

„Das fühlt sich aber flauschig an!“, schwärmte Doro.

„Und dein Schwanz erst“, grinste Ole.

 

Doro schaute nach unten und sah all die kleinen Menschen, wie sie mürrisch zur Arbeit hasteten. Ein Bus, der einem Spielzeug ähnelte, hielt mit quietschenden Bremsen und verschluckte einen Teil von ihnen.

„Die Menschen sehen aber klein aus von hier oben“, rief Doro.

„Menschen sind klein“, sagte Ole. „Und nun komm! Spring mir hinterher!“

Was war das für ein Spaß! Von Ast zu Ast, Baum rauf, Baum runter, von Straßenlaterne zu Straßenlaterne, von Dach zu Dach, selbst das Dach des Buses erwischten sie noch. Doro erkannte das Backsteingebäude ihrer Schule.

„Willst du einen Blick auf deine armen Mitschüler werfen?“, fragte Ole.

„Warum nicht?“,entgegnete Doro. „Das ist mal ein ganz anderer Blickwinkel.“  Sie kicherte, soweit man das bei einem Eichhörnchen so nennen kann.

 

Frau Entenbein stand vor der Tafel und entwickelte ein Schaubild über das Beamtentum in der römischen Republik. Offensichtlich interessierte das aber niemanden außer Frau Entenbein. Arne spielte unter seinem Tisch mit seinem Handy, Leo bewarf Bea mit Papierkügelchen. Die drehte sich teils vorwurfsvoll, teils geschmeichelt um, wie Doro genau sehen konnte. Paul hatte seinen Kopf auf den Tisch gelegt und ab und zu schnarchte er etwas, was die Kinder zum Feixen brachte, aber von Frau Entenbein offensichtlich nicht wahrgenommen wurde. Nur Emma schrieb fein säuberlich in ihr Geschichtsheft ab, was auf der Tafel stand.

„Guck mal! Eichhörnchen!“, rief Leo und alle Kinderaugenpaare richteten sich auf Ole und Doro, die durch das Fenster lugten.

Doro beschloss, die nun mal gewonnene Aufmerksamkeit zu nutzen, und tanzte auf ihren Hinterpfoten. Zum Glück war sie ja ein Eichhörnchen und keiner konnte sie erkennen, sonst wäre es  ziemlich peinlich gewesen.

Nun verließen alle Kinder ihre Stühle und rannten zum Fenster. Das hatte Frau Entenbein nun doch mitgekriegt. „Hinsetzen, Kinder! Sofort!“ Obwohl sie ihr Stimmvolumen immer mehr steigerte und in die Hände klatschte, hörte keiner auf sie.

Da öffnete Leo das Fenster und wollte ganz offensichtlich Doro fangen, aber als Eichhörnchen ist man eben schneller und Doro streckte ihm ihre kleine rosa Zunge heraus. Die anderen Kinder hatten es auch gesehen und lachten. Nun wedelte Doro ihnen mit ihrem Schwanz zu, was soviel heißen sollte, kommt doch her!

Leo schien sie verstanden zu haben, denn schnell kletterte er auf das Fensterbrett. Frau Entenbein wechselte mittlerweile ihre Gesichtsfarbe von puterrot zu  schneeweiß. Sobald Leo als Eichhörnchen neben Doro saß, gab es kein Halten mehr. Alle Kinder wollten es ihm gleich tun.

Ein Kind nach dem anderen verschwand vor Frau Entenbeins Augen, der offensichtlich die Kräfte  fehlten, dies zu verhindern.

 

Auf den Bäumen des Schulhofes hüpften 26 Eichhörnchen sehr zur Freude der anderen Klassen. Mittlerweile schauten alle  Schüler der  Schule aus dem Fenster. Unterricht war zumindest an diesem Tag nicht mehr möglich und Frau Entenbein wünschte, sie hätte im alten Rom gelebt, was ganz im Sinne ihrer Schüler gewesen wäre .