Von Ralf Rodrigues da Silva 

Ich sollte irgendwie recht behalten. Und als ich den Weg durch das Gartentor unseres wortgewaltigen Zuhauses auf dem platten Land in Richtung Großstadt verliess, da schienen selbst die Bäume und Vögel für den Moment sprachlos zu sein. Ganz so, als wollten sie damit auch ihren stummen Protest demonstrieren und sich lautlos, aber nicht weniger wirkmächtig, auf meine Seite schlagen. Wie hatte es nur dazu kommen können?

 

Es war wieder mal einer jener Tage, an denen das Leben in unserem Drei-Generationenhaus um soviel weniger lebendig war; und so atmete es viel mehr als sonst spürbar tödliche Stille aus.

 

Vier Aussenwände hatten erneut vergeblich versucht, unsere fragilen Gedankengebäude sittsam zusammenzuhalten, ungeachtet dessen, daß sich in ihnen regelmässig unsere Einzelschicksale duellierten: Die Kontrahenten, das waren Oma Greta on „rooftop“, meine Eltern Hanni &  Gysi „downtown“ und meine Wenigkeit, namens Hannes, der sich gewissermassermassen als „Underdog“ im Untergeschoß eingerichtet hatte.

 

Das „Mauer-Werk“ war dabei gleichsam zum Synonym für das höchst sensible Beziehungsgeflecht geworden und zugleich Ausweis unseres bis anhin gepflegten Sprachgebahrens. Diesmal war nicht nur das Knirschen im Gebälk unüberhörbar geworden; nein, das, was uns als unsichtbares Band noch irgendwie vereint hatte, war unüberbrückbar auseinandergerissen. Wir! waren auseinandergerissen.

 

9.30 Uhr

Das letzte gemeinsame unfreiwillige Frühstück ließ die Bombe mit ungewohnter Wucht platzen. In einem harmlosen Reigen von Croissants, Orangenkonfitüre, Milchkaffee und bunt betupften Müslischalen erklärte uns der Beginn des Sonntagsbrunch‘ zu Statisten unserer eigenen Vergehens-Geschichte…

 

„Sag doch auch mal was, Gysi! Herrgott, bin ich hier die Einzige, die so denkt?! Ist ja auch einfacher, wenn ich mich unbeliebt mache. Und sowieso, ihr Männer macht es euch mal wieder einfach zu einfach…“, so der lautstarke Befund meiner Mutter. Sie hatte soeben in einer Art Frühdiagnose Greta ungeniert zu einer Demenzerkrankten erklärt, die dringend professioneller Hilfe bedürfe.

 

Oma indes strafte sie dafür mit Mißachtung und kopfschüttelndem Unverständnis.

 

„Du tust ja gerade so, als wenn meine Mutter auf einmal nicht mehr wüßte, was sie tut?! Was hat sie dir denn bloß getan, dass du so selbstgerecht über sie urteilen kannst?“, hatte ihr Gysi ebenso angewidert wie entrüstet entgegengehalten. Er saß zwischen den Stühlen und wollte in dieser trügerischen Idylle doch trotzdem Partei für seine Mutter ergreifen.

 

Und jeder wußte: Die Tonalität der Worte hatte noch längst nicht ihren Siedepunkt erreicht.

 

Ich schien der Einzige zu sein, der angesichts der Verbalattacken ihrer Nahverwandten Oma’s resigniertes Absenken der Mundwinkel, ihre erschlaffende Körperhaltung und ihre müden Augen zur Kenntnis nahm.

 

9.45 Uhr

„Habt ihr nicht auch schon mal den Schlüssel verlegt, einen Termin vergessen, fragwürdige Entscheidungen getroffen oder mal nicht die richtigen Worte gefunden?“, wagte ich meinen Vorstoß in eine objektivere Bestandsaufnahme.

 

Doch augenscheinliches und ohrenbetörendes Zuhören schien gegenwärtig keine Option – für meine Mutter zumindest.

„Nein, darum geht es hier doch gar nicht! Was ist denn daran nicht zu Verstehen?! Wer hat hier denn allein in den letzten drei Monaten deine Mutter mit leichtester Bekleidung aus unwegsamen Gelände zurückbringen müssen, weil die Nachbarn verstört waren und die Polizei vorsorglich eingeschaltet hatten…? Wer hat denn bitte schön, zweimal den Schlüsseldienst bemühen müssen, weil Greta sich ausgesperrt hatte, ja und wer hat sie schliesslich in der Praxis von Dr. Lichter auf dem Parkplatz einsammeln müssen, nur weil sie meine dortige „Pinkelpause“ zum Ausbüchsen benutzt hat und unauffindbar schien?! Gysi, wenn das nicht reicht, dann reicht’s mir langsam!“

 

9.50 Uhr

Wie eine Furie hatten sich Hannis Augen verengt und mit ihr auch ihre Gedankengänge. Das war allenthalben zu spüren: Gysi sprachlos. Ich geschockt. Oma irgendwie gescheitert und voller Scham.

 

„Hannes, ich weiß nicht, warum DU dich ausgerechnet so stark machst für Oma….Sonst reicht Dein Engagement für Greta gerade ja auch nur von Monat zu Monat, um Deine Studiengebühren von ihr abzugreifen oder Deine Affären mitfinanzieren zu lassen. Und ansonsten hältst Du Dich eh‘ vornehm zurück, wenn’s um Familienbeteiligung und Mitwirkung geht…Willkommen im Untergrund mein Sohn.“

 

10.00 Uhr

Hannis Geringschätzung liess mich einerseits kalt, andererseits lief mir Ihre Kaltschnäuzigkeit ob der fremdgesteuerten Aufenthaltsbestimmung von Oma  gleichermaßen den Rücken hinunter. „Mutter-Seelen-Allein“, so hatte sich das also anzufühlen, ereiferte sich mein inneres Gemüt. Und zugleich erwachte in mir das Gefühl, Oma und mich würde diese Bilanz geradezu schicksalhaft noch mehr aneinanderschmieden. Mich fröstelte noch immer. Wärmesuchend hing ich an ihrem Rockzipfel. Und sie an meinen Lippen.

 

10.05 Uhr

Ich legte Oma Greta fast mechanisch den Arm um ihre Schulter und nahm stumm die verstehende Zwiesprache wieder mit ihr auf. Meine Eltern konnten doch nicht wirklich Omas Verzweiflung ignoriert haben, fragte ich mich selbstvergewissernd – ablesbar soeben in jeder Faser ihres jetzt um Jahre gealterten Körpers, hörbar in jedem flachen Atemzug, spürbar im kleinsten Zeichen von Rückzugsanstrengung: Sie saß nun fahl und ausdruckslos am Ende der Eckbank, drohte wegzusacken; die platte Attitüde, die meine Mutter bemühte, liess Greta allerdings wieder kurz aufhorchen:

 

„Früher oder später trifft’s einen eben und man ist dann in seiner eigenen Welt viel adäquater aufgehoben. Und besser, wir klären das jetzt, als wenn Deine Mutter mal nicht mehr mitreden kann, wo sie abbleiben will. Und der Prospekt der „Residenz Abendrot“ hört sich doch wirklich vielversprechend an…, sagt übrigens auch Dr. Lichter. Und Eva aus der Yoga-Gruppe hat nach etlichen Erlebnisberichten von anderen auch ihre Mutter dort untergebracht…Ja, und sie ist sehr beeindruckt, von dem Umgang in diesem Haus…“

 

10.15 Uhr

Gysi’s Blick wanderte abtastend weg von Hannis immer noch auftrumpfendem Plädoyer hin zu seiner über-den-Kopf-hinweg-besprochenen-Mutter. Und er hoffte auf eine vernehmbare Regung, die ihm die Beistandschaft gegenüber Hanni vereinfachen würde – oder ihn entschlußreifer an seine Ahnin heranführen könnte.  Er war auch kurz versucht, zu fragen, was seine Mutter denn vom „Abendrot“ halte und dass es ihm auch nicht leicht falle, nach allem, was sie für alle getan habe. Und wenn Hannis Freundin Eva doch auch……Stattdessen: Fehlanzeige – auf allen Seiten.

 

Die Fremdbestimmungsavancen der Schwiegertochter waren bedenklich bedenklicher geworden. So ließ Hanne‘s innere Stimme ihn noch näher an Oma’s Körper heranrutschen. Die gleichlautende Stimme Greta‘s befahl ihr unterdessen, abrupt aufzustehen:

 

10.30 Uhr

„Ich habe sehr wohl verstanden. Verständnis und Verständigung sind nicht Eure Stärke! Und ich habe wahrlich genug gehört. Ich gestatte Euch nicht, daß ihr so mit mir redet. Aber es wird mir im Gedächtnis bleiben: Ich werde vergessen, zu vergessen…; DAS erlaube ich mir!“

 

Sprach’s, ging mit Selbstachtung nach oben und entzauberte stillschweigend beredt die unliebsame Runde. Sie beherrschte noch immer die Kunst der verblüffend ungesprochenen Rede. Das hatte ich von ihr gelernt. Und mein Reisegepäck war voll davon.

 

Nur knapp eine Stunde hatte es gebraucht, die Welt vom „Hören-Sagen“ aus den Angeln zu heben. Oma war unverhofft zu meinem Wegbereiter aus einer sprachverirrten und kleinkarierten Welt geworden. Und sie hatte mich nicht das letzte mal das Zuhören gelehrt; mit allen Sinnen.

 

11.05 Uhr

Die Bäume und Vögel sekundierten den zwingenden Brückenschlag hin zur aussenweltlichen Eroberung. Und sie ließen mich leiselaut die Abgründe der erlittenen Sprachmaßlosigkeiten in der elternhäuslichen Parallelwelt vergessen.

 

Und eines war mir in dem Schlagabtausch mehr als bewusst geworden: Annahmen sind eben doch keine Gewißheiten und sie sind irreführende Verführer, die jeden vorschnell vorverurteilen und sprachunkritisch aus der Bahn werfen können!

 

Und meine verlassenen Eltern?

 

Sie hatten wohl schleichend aufgehört, jedermann und auch einander zuzuhören! Und sie waren darüber nichtssagender und lautärmer geworden… und irgendwie auch einsamer.