Karolina Kaiser-Cichocka

Nichts, gar nichts, Henriettes Kopf war ganz leer.

„Eine Gespenstergeschichte, ich muss eine Geistergeschichte schreiben“, murmelte sie, während ihre Stirn auf dem Tisch lag. Das konnte doch nicht so schwer sein. Sie hatte so viele Videos, wie Real Live Ghost oder Ghost Caught on Tape auf YouTube gesehen, dass es ihr unmöglich schien, sich nichts ausdenken zu können.

Und doch, ihre Muse flirtete wahrscheinlich gerade mit dem Geist von Chopin. Sogar das erschien ihr zu kitschig für eine Story. Sie lehnte sich im Stuhl zurück und sah nach oben. Das machte sie unerwartet wütend: die Decke war interessanter als das weiße Papier, von dem ihre Zukunft abhing. Eine Fristverlängerung würde sie nicht bekommen, Morgenzeitungen warten nicht gerne.

„Das Grübeln hilft mir auch nicht weiter“, sagte sie laut, „Einen Spaziergang und Tee, das brauche ich“.

Sie zog ihre schwarze Lederjacke und hohe Stiefel an, nahm die Schlüssel und ging aus dem Haus. Ihr Ziel war ihr Lieblingsort: ein Antiquitätengeschäft.

Ihr Weg führte sie durch einen Park mit alten Bäumen und vorbei an einem großen Brunnen mit lebensechten Tierskulpturen. Das Wasser sprudelte.

Kurz darauf erreichte sie den Laden. Eine Glocke kündigte ihre Ankunft an, und aus der Tür hinter dem Tresen, trat ein Mann.
Henriette war überrascht. Sie hatte ihren guten, alten Freund erwartet, den Herrn Eberhard, einen typischen Antiquitätenhändler. Aber etwas in diesem Mann ließ Henriette erschauern.
Er war gut gebaut, mit breiten Schultern und schmaler Taille. Seine Haut war braun, die Haare schwarz und glatt. Eigentlich ihr Traumkerl, wenn da nur nicht die Kleinigkeiten wären.

Henriettes Sinne täuschten sie, wodurch sie sein Alter nicht bestimmen konnte: sein Gesicht wechselte ständig zwischen alt und jung.  Und sie konnte nicht lange in seine Augen sehen. Sie waren kalt und türkis, wie ein Eisberg.  Und sie funkelten leicht.
„Unglaubliche Kontaktlinsen“, dachte sie skeptisch.

„Kann ich Ihnen helfen?“, der raue Klang der Stimme, räsonierte im jedem Metallgegenstand im Raum, und veranlasste sie fast zu einer Verbeugung. Henriette musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um nicht in die Knie zu gehen.

„Ist Herr Eberhard nicht da?“, fragte sie schwach.
„Herr Eberhard“, antwortete der Mann langsam, „ist verreist. Ich vertrete ihn.“

Der Mann sah Henriette mit seinen leuchtenden Augen an und beugte sich über den Tresen. An seinem Hals hing ein Anhänger: eine Ankh, ein Ibis und ein Pavian. „Wie. Kann. Ich. Ihnen. Helfen?“
Henriettes Blick wich zur Seite, um nicht mehr den Anhänger anzustarren, und mit zittriger Stimme sagte sie: „Ich…ich soll eine Gespenster“, sie schluckte, „Geschichte schreiben und suche eine Idee“.
Der Unbekannte flüsterte: „Gespenstergeschichte? Das trifft sich aber gut. Ich habe das Richtige für Sie“, und er öffnete die Hand. Es war ein Füller.
„Nehmen Sie ihn mit und…“, er lachte düster, „schreiben Sie Ihre Geschichte. Sie wird unvergesslich sein.“

Enttäuscht sah Henriette den Füller an, sie hatte sich etwas Spektakuläreres erhofft. Aber sie wollte raus, in die Sonne. Sie schnappte sich den Füller, legte das Geld auf den Ladentisch und wollte sich verabschieden.

Doch der Mann packte sie am Handgelenk und zischte ihr ins Ohr: „Man sagt, dass das der letzte selbsthergestellte Füller von Friedrich Soennecken sei, man sagt auch, er sei verflucht. Jeder, der mit ihm etwas schrieb – verschwand.“ Er ließ sie los.
„Übrigens, mein Name ist Djehuti.“ Und er lachte dämonisch.
Sie sprang zurück und stürmte aus dem Laden.

Djehuti sah ihr nach. Seine Augen glühten im düsteren Licht des Antiquitätengeschäfts.
„Jetzt bist du auch ein Teil der Geschichte“.

Henriette rannte durch den Park. Ihr Herz raste, ihre Lunge schmerzte, aber sie blieb erst bei dem Brunnen stehen und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. In der Hand hielt sie den Füller. Er war schwarz, mit einer goldenen Feder. Nichts Besonderes.
„Dieser Irre!“, sagte sie laut, „Er wollte mir doch nur einen Schrecken einjagen! Von wegen verflucht. Ich glaub das nicht.“ Sie drehte sich um…und erstarrte.

Auf dem Brunnen, zwischen den Figuren, saß ein lebendiger Pavian und beobachtete sie mit seinen orangefarbenen Augen. Ohne zu zögern, lief sie den Weg geradewegs nach Hause, rannte die Treppe hinauf und knallte die Tür hinter sich zu.

Sie atmete schwer, aber sie wollte sich nicht ausruhen, sondern ging zum Schreibtisch, öffnete den Füller und machte eine Schreibprobe. Verdutzt stellte sie fest, dass die Tinte flüssig und purpurrot war.

Da kam ihr eine Idee. Die Feder glitt über das Papier, machte Kurven, und gerade Linien wie von Geisterhand. Henriette schrieb eine Stunde lang, dann zwei, dann drei. Sie wollte nicht aufhören, sie konnte nicht aufhören.

Sie durfte nicht aufhören.

Nach Mitternacht war ihre Geschichte fertig. Henriette war erschöpft, aber glücklich und mit sich selbst sehr zufrieden. Jetzt blieb ihr nur noch das Eintippen ihrer Geschichte in den Laptop und der Versand an die Zeitung. Den Job hatte sie sich bestimmt verdient.

Auf einmal hörte sie Flügelschlagen – neben dem Schreibtisch saß ein Vogel. Er war weiß und hatte einen langen und sehr dünnen Schnabel. Und türkise Augen.

Henriette wollte aufspringen, weglaufen, doch die Stimme des Vogels, rau und männlich, hielt sie auf. Sie konnte sich nicht wehren.
„Jetzt wiegen wir, was dein Geschriebenes wert ist. Die Feder weiß es am besten.“
Mit dem Schnabel legte er den Füller auf die Gespenstergeschichte und verschwand.

Henriette war zu erschrocken, um aufzustehen und starrte auf die Blätter mit der roten Schrift und dem Füller darauf. „Das war nur ein Traum, nur ein Traum!“, wiederholte sie immer wieder.

Die Uhr tickte, der alte Kühlschrank brummte eine Arie, draußen fuhr ein Taxi die Straße hinunter. Und nichts passierte.

Henriette schüttelte den Kopf und schrie wütend: „Los, steh auf und geh schlafen, du dumme Nuss! Übermüdet bist du! Jawohl! Kein Vogel, kein Pavian. Geh schlafen! Scheiß auf den Job!“
Sie ergriff den Füller samt Geschichte und warf beides in den Mülleimer. Im Schlafzimmer machte sie so viel Lärm, dass die Nachbarn aufwachten. Doch so wütend sie auch war, so schnell schlief sie ein. Es war ein unruhiger Schlaf, ohne Träume.

In der Nacht weckte sie etwas auf: ein Kitzeln am Fuß. Dann am Bein, am Bauch. Henriette hob die Decke…und stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Auf ihrem ganzen Körper lagen rote Buchstaben, die immer höher, immer dichter den Körper bedeckten. Die Buchstaben ähnelten lebendigen Wesen und hielten sie im Bett fest. Henriette schrie, so laut sie konnte, schrie um Hilfe, doch dann verstummte sie: die glitschigen Buchstaben glitten in ihren Hals, in ihre Ohren, in die Augen. Henriette dachte noch: „Ich sitze in der Tinte“, und eine letzte Träne rollte ihr die Wange runter.

Dann war Henriette verschwunden. Auf dem Bettlaken blieb nur eine rote Tintenpfütze, die sich langsam in den Füller zurückzog.

Djehuti sah alles mit an und sagte zu sich: „Wieder jemand Unwürdiges. Wann schreibt jemand etwas Sinnvolles, was die Menschheit bewegt?“ Er nahm den Füller und löste sich auf.

 

 

Seit Henriettes Verschwinden sind viele Jahre vergangen. Der Füller geriet in andere Hände, andere Personen verschwanden spurlos. Sie waren verdammt zur Tinte zu werden.
Doch jeder Fluch kann gebrochen werden, und für Djehuti geschah das ganz unerwartet.

Er gab den Füller einem bekannten Schriftsteller, der schon viele Bestsellerbücher geschrieben hatte. Dieser Mann wollte sich gerade an seinen Schreibtisch setzen und mit dem Füller einen Krimi beginnen (ihr könnt euch vorstellen, was für ein Ende das gehabt hätte), als es an der Tür klopfte und ein sechsjähriger Junge eintrat. Er sah wie ein kleiner Engel aus, mit goldenen Locken und grünen Augen. In den Händen hielt er ein grünes Papier und einen roten Filzstift.
„Papa,“, sagte der Kleine, „hast du etwas Rotes zum Schreiben? Ich will für Mama die Geburtstagskarte schreiben und rot ist ihre Lieblingsfarbe. Mein Stift funktioniert nicht mehr.“
„Ja, das habe ich“, erwiderte sein Vater, „Sogar etwas ganz Spezielles.“
Der Mann nahm das Kind auf den Schoß und legte ihm den schwarzen Füller in die kleinen Finger.
„Sieh mal, das ist ein Füllfederhalter. Er ist sehr alt und schreibt immer noch. So hat es zumindest der Händler versprochen“, lachte er. „Ich habe ihn noch nicht ausprobiert, aber die Tinte soll purpurrot sein. Wollen wir ihn gemeinsam ausprobieren?“
Der Junge lächelte: „Ja! Lass mich das machen. Das wird Mama gefallen.“
Das Kind nahm den Füller in die Hand und machte den ersten Strich. „Er funktioniert. Papa, sieh doch!“
„Das ist aber eine sehr schöne Farbe. Was willst du schreiben? Vielleicht: Alles Gute zum Geburtstag?“
Der Sohn sah traurig aus: „Das kann ich noch nicht schreiben, und ich will es ganz allein machen.“
Er überlegte kurz und runzelte die Stirn.
„Ich weiß!“, rief er, schrieb vorsichtig die Buchstaben und malte ein Herz. „Wie gefällt es dir, Papa?“
Der Mann las langsam: „Ich liebe dich, Mama.“ Er umarmte seinen Sohn. „Kurz, deutlich und vor allem: selbstgeschrieben. Sie wird begeistert sein. Komm, wir geben ihr die Karte gleich.“
Er nahm den Kleinen an die Hand, und sie gingen aus dem Zimmer.

Die Stille des Raumes wurde durch ein kurzes Knacken unterbrochen. Eine rote Flüssigkeit bedeckte langsam den Schreibtisch. Im nächsten Moment verdunstete sie mit einem leisen Hauch, der sich wie „Frei“ anhörte.

Draußen, hinter der Fensterscheibe, saß ein Ibis mit Federn so glänzend wie Gold. Er sah die Szene mit Verwunderung an. „So einfach?“, dachte er, „so einfach ist die Lösung?“
Er schüttelte den Kopf, ließ auf der Fensterbank seinen Anhänger zurück, breitete die Flügel aus und flog in Richtung Sonne.