Von Ulli Lenz

‚Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.‘

 

Der rote Staub stieg hinter ihren Füßen auf, als Ijeoma und Adanna den Weg zurück zum Dorf nahmen. Adanna redete ununterbrochen vom bevorstehenden Yams-Fest, doch Ijeomas Gedanken gingen eigene Wege. Sie drehte vorsichtig ihren Kopf, auf dem sie den großen Korb mit den geernteten Bohnen balancierte. Wehmütig blickte die junge Frau auf das schlafende Kind auf Adannas Rücken.
Sie sehnte sich danach, selbst Mutter zu sein. Aber Ajani war schon vor Monaten aufgebrochen, um zu kämpfen. Und solange er nicht zurückkehrte, würde sich dieser Wunsch auch nicht erfüllen.

Unvermittelt kommt Ijeoma beim Anblick des kleinen Jungen ein Sprichwort in den Sinn. ‚Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf‘, lautet es, und sie muss darüber lächeln, weil es bei Adannas aufgewecktem Sohn schon jetzt der Wahrheit entspricht.
„Aber um ein Kind zu empfangen, brauche ich meinen Mann“, dachte sie dann bitter.

 

 

‚Liebt ein Mensch den Frieden, wird er nicht zum Feigling.‘

 

Ajani war erschöpft. Die Bilder von den Kämpfen der letzten Tage tanzten vor seinen Augen, wann immer er sie schloss, und in seinen Ohren waren die Schreie noch immer nicht verhallt.
Neben ihm ließ sich Chidi in den Schmutz fallen, nachdem er ihm eine Schale Wasser gereicht hatte. Dankbar setzte er sie an den Mund.

„War es falsch, hierherzukommen?“, fragte Chidi, während Ajani trank. Zweifel klang aus seiner Stimme.
„Ich bin nicht hier, weil ich Leid bringen will“, antwortete Ajani schließlich und blickte seinem Freund dabei in die Augen. „Aber, es heißt auch: ‚Liebt ein Mensch den Frieden, wird er nicht zum Feigling.‘“ Er wischt sich mit der Hand über das schmutzige Gesicht. „Der Weg zum Frieden ist oft mühevoll und manchmal sogar schmerzvoll“.
Chidi nickte. Letztlich dachte er genauso.

 

 

‚Der Mensch ist die beste Medizin des Menschen‘

 

Die Oha-Suppe war beinahe fertig, als Ijeoma Rufe vom anderen Ende des Dorfes vernahm. Schnell rührte sie ein letztes Mal durch das Eintopf-artige Gericht und machte sich dann eilig auf den Weg. Sie musste nicht weit laufen, bis sie sah, dass sich das halbe Dorf um einen Ankömmling versammelt hatte, um ihn zu begrüßen. Einige Frauen sangen rund um die kleine Menschentraube und schließlich hob der Mann in ihrer Mitte den Kopf und blickte über die Köpfe der anderen hinweg ihr in die Augen.

Ijeomas blieb die Luft weg und sie schwankte. Freude, Unglauben und Erleichterung flossen gleichzeitig durch ihren Körper, verursachten ein Prickeln im Bauch, einen Kloß im Hals und ließen ihr Herz dabei wie wild hüpfen. Sie presste ihre Hand auf den Mund, um das Schluchzen zurückzuhalten und stolperte ihm unbeholfen entgegen. Und dann war er bei ihr, hielt sie fest in seinen Armen und um sie herum drehte sich das tanzende Dorf. Ajani war zu ihr zurückgekommen!

Erst viel später hatte sie Zeit, mit Ajani allein zu sprechen. Seine Augen waren voller Kummer, aber er wollte nicht mit ihr über den Krieg reden.
„Hast du Schmerzen?“, wollte sie wissen, und deutete dabei auf eine Verletzung an seiner Seite.
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe alles, was ich brauche“, meinte er dann, und legte seine Hand an ihre Wange. „‚Der Mensch ist die beste Medizin des Menschen.‘“

 

 

‚Wenn du gefallen bist, denke daran, dass es Gott war, der dich gestoßen hat.‘

 

Seit vierzehn Tagen war ihr Mann nun wieder zu Hause. Es war ungewohnt für Ijeoma, mit ihm zusammenzuleben. Sie waren nur wenige Tage verheiratet gewesen, bevor er in den Krieg gezogen war, und das war nun lange her. Umso mehr freute es sie, jetzt das gemeinsame Leben beginnen zu können.

Sie hatten sich auf den Weg gemacht, um im Wald Holz zu sammeln. Das gemeinsame Arbeiten fühlte sich für beide vertraut an und wann immer sich ihre Blicke trafen, lächelten sie einander zu. Schon bald hatten beide ein großes Bündel zusammengetragen und machten sich auf den Rückweg. Als Ijeoma die Waldgrenze erreichte, bemerkte sie, dass Ajani ein gutes Stück zurückgeblieben war, um seine Äste besser zusammenzuschnüren.
„Geh‘ nur“, rief er ihr zu, „wir werden uns später wiedersehen!“
Sie lächelte ihm nochmals zu und ging ein Stück aus dem Wald hinaus.

Überrascht blickte sie auf, als sie eine kleine Gruppe Menschen auf sich zukommen sah. Ijeoma spürte sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, und ließ die Äste auf den Boden gleiten. Langsam ging sie auf die Leute zu und erkannt neben Adanna noch ein paar weitere Frauen und Männer aus dem Dorf, die einen fremden Mann zu ihr geleiteten. Ein kaltes Gefühl breitete sich in ihr aus und sie meinte ihr Herz dumpf in sich schlagen zu fühlen.

Als sie endlich aufeinandertrafen, legte Adanna einen Arm um sie und hielt sie an ihren Oberarmen fest. Schließlich richtete der unbekannte Mann ihre Augen auf sie und begann zu sprechen: „Mein Name ist Chidi. Ich habe in den letzten Monaten Seite an Seite mit deinem Mann gekämpft. Vor vierzehn Tagen wurde er so schwer verwundet, dass wir ihn nicht mehr retten konnten.“
Chidis Stimme zitterte und es kostete ihn Mühe, weiterzusprechen: „Ich habe ihm geschworen, dich zu suchen, und dir persönlich die Nachricht zu überbringen. Es tut mir sehr leid.“

Die Beine gaben unter ihr nach und ein Schmerzenslaut löste sich aus ihrem Mund, als sie zu Boden sank. Ijeoma drehte sich nicht zum Wald um, denn sie wusste, sie würde vergeblich nach ihrem Mann suchen.
Adanna wiegte sie in ihren Armen und während die anderen um sie herum weinten und beteten, flüsterte sie ihr ins Ohr: „Wenn du gefallen bist, denke daran, dass es Gott war, der dich gestoßen hat.“ Immer wieder wiederholte sie diese Worte.

„Denk daran, Ijeoma: Gott würde dich niemals umstoßen, wenn er nicht wüsste, dass du es schaffst wieder aufzustehen!“

 

 

„Bitter und süß gehen zusammen spazieren.“

 

Die vierzehn Tage, die Ajani mit ihr verbracht hatte, waren wie ein Traum für Ijeoma.Es war jedoch kein Traum gewesen, das wusste sie und mit ihr das ganze Dorf.
Ajani war zurückgekommen. Sie alle hatten ihn gesehen, gehört, gefühlt.
Es war ein großer Trost für sie, dass er gekommen war, um ihren langersehnten Wunsch zu erfüllen. Ijeoma legte ihre Hand auf ihren Bauch und spürte das zarte Leben in ihr.

Adanna meinte, das Schicksal wäre grausam, weil es die Freude unter so großem Schmerz begrub. Aber Ijeoma dachte anders darüber: „Bitter und süß gehen zusammen spazieren.“

 

 

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