Veronika Beckmann

1978

Sie öffnet die Türe.
„Da seid ihr ja endlich! Ich hatte euch doch gesagt, dass wir pünktlich essen wollen.
Na, komm schon rein, und wasch dir vor dem Essen die Hände.
Wo ist denn Stefan? Stellt er noch sein Fahrrad weg?“

Sie geht zurück in die Küche und spricht dabei über die Schulter.
„Papa hat übrigens gesagt, dass er am Freitag mit euch den Kinderzimmerschrank vom Dachboden heruntertragen möchte. Das alte Ding soll endlich auf den Sperrmüll.“

Nach einer Weile ist sie wieder an der Wohnungstüre, einen Klecks Hautcreme in der linken Handfläche.
„Ist was? Hast du wieder mit Stefan gestritten? Ihr wisst, dass ich das nicht in Ordnung finde, wenn ihr so oft streitet. Oder hat er dich wieder geärgert?
Sag schon, es bleibt auch unter uns.“

Sie verteilt die Creme auf den geröteten Händen, reibt schließlich jeden Finger einzeln.
„Ich kann verstehen, dass du ihn nicht anschwärzen willst. Aber er ist der Stärkere. Manchmal denke ich, er nutzt das aus. Also, wenn da heute etwas gewesen ist, sprich mit mir.“

Sie schaut in sein Gesicht.
„Du bist blass, Thomas. Willst du es mir nicht erzählen?“

Sie greift nach hinten und löst den Knoten ihrer Schürze.
„Also, wenn du nicht mit mir redest, dann muss ich gleich eben Stefan fragen. Er kann mir auf Dauer nichts verschweigen.“

Die Schürze in der Hand, sieht sie ihn nachdenklich an.
„Das gefällt mir gar nicht, wie du aussiehst. Du zitterst ja am ganzen Körper.
Wirst du krank?“

Sie legt den geblümten Stoff zur Seite und fühlt mit einer Hand an seiner Stirn.
„Fieber hast du nicht.
Warum sind denn deine Haare nass? Sag jetzt nicht, es hat geregnet. Hat es nämlich nicht.“

Ihre gute Laune weicht einer Ahnung.  
„Seid ihr etwa Schwimmen gewesen? Im Fluss?“

Sein Schweigen bestätigt ihren Verdacht. Sie ist verärgert.
„Thomas, das glaube ich jetzt nicht.
Ich denke, wir haben euch das klar und eindeutig  verboten! Ihr wisst doch, wie gefährlich die ganzen Wirbel hinter dem Wehr sind.
Wenn das der Papa hört, wird er ungemütlich. Ich bin wirklich enttäuscht von euch beiden!
Traut sich Stefan deshalb nicht, hereinzukommen? Das wäre mal was Neues. Dem vergeht doch nie das Lachen, egal wie ernst es uns ist.
Ich bin so wütend!“

Ihr Ton wird schärfer und lauter.
„Verdammt nochmal, Thomas! Wir verbieten euch das, weil wir uns Sorgen machen.
Immer wieder gibt es da Unfälle.
Da sind schon Leute ertrunken!“

Pause.

 „Thomas? Thomas, wo ist Stefan?
Sag es mir! Jetzt sofort! Wo ist er?
Mein Gott, Thomas! Sprich endlich mit mir!
Wo ist Stefan?
Thomas!“

**********

2019

Sie sitzt im Sessel am Fenster. Das Zimmer ist klein, außer dem Sessel gibt es noch einen Stuhl, einen Tisch, einen Schrank und ein Bett. Ein paar Fotos im Regal und die gehäkelte Tagesdecke auf dem Bett verbreiten einen Hauch von privater Atmosphäre. Es riecht nach Kamillentee und Desinfektionsmittel.
Ein Mann hat den Raum betreten. Sein Haar ist an den Schläfen grau, sein Alter etwa Mitte fünfzig. Er grüßt und fragt, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Sie nickt freundlich.

„Das ist schön, dass Sie mich besuchen, ich bekomme nämlich nicht viel Besuch hier. Und wenn Ihnen das Personal etwas anderes erzählt, dürfen Sie das nicht glauben. Das versuchen die bei mir auch. Behaupten, dass mein Sohn ziemlich oft kommt und nach mir sieht. Aber das stimmt nicht.“

Nachdenklich schüttelt sie den Kopf und streicht mit einer Hand über ihren Rock.

„Meinen Sohn habe ich schon viele Jahre nicht mehr gesehen.
Ich glaube, er arbeitet im Ausland. Bestimmt hat er einen guten Posten und verdient viel Geld.“

Sie schaut ihn an und lächelt verschmitzt.

„Er war nämlich schon als Kind ein ganz heller Junge, haben auch seine Lehrer gesagt. Frau Beyer, haben die zu mir gesagt, ihr Sohn könnte der Klassenbeste sein, wenn er nur wollte. Er ist einfach zu faul.“

In ihre Erinnerungen versunken blickt sie aus dem Fenster und lächelt.

„Und ein flotter Bursche war er! Ich glaube, er hätte jedes Mädchen haben können. Wollte er aber nicht! Ich weiß noch, wie er mich einmal um die Taille gefasst hat. Und dann hat er sich so mit mir im Kreis gedreht und gesagt, ich sei die Beste. So eine wie mich, müsste er erst einmal finden.“

Sie schaut hinaus und beginnt, ein Lied zu summen. Dann fällt ihr Blick wieder auf ihren Besucher, der gerade mit einem Finger etwas unter seinem Auge weg wischt.

„Junger Mann, brauchen Sie ein Taschentuch? Da liegt ein Päckchen, bedienen Sie sich nur. Haben Sie auch so mit Allergie zu tun?“

Der Mann verzieht die Mundwinkel zu einem Lächeln und schüttelt leicht den Kopf. Dann sieht er auf seine Hände, reibt mit dem Daumen der rechten Hand über das Gehäuse des Autoschlüssels, den er in der linken Hand hält. Eine Weile schweigen beide.

Ihre freundliche Stimme durchbricht die Stille.

„Ich freue mich richtig, dass Sie mich besuchen. Ich bekomme nämlich nicht viel Besuch hier. Die sagen ja, mein Sohn käme oft vorbei. Aber das stimmt nicht. Den habe ich schon viele Jahre nicht mehr gesehen.“

Sie wird ernst und beugt sich ein wenig vor.  
„Wissen Sie vielleicht wo er ist?“

Ihr Blick durchbohrt ihn fragend.
„Sagen Sie mir, wo ist Stefan?“

Er sieht an ihr vorbei, schaut aus dem Fenster in den Park.
Auch er hat Stefan lange nicht mehr gesehen, zuletzt vor über vierzig Jahren im Fluss. Es sind Bilder, die immer noch in seinen Träumen auftauchen, ihn schweißgebadet erwachen lassen.
Seine Frau ist dann bei ihm. Sie sagt, es war nicht seine Schuld damals. Er war doch am Ufer und konnte für Stefan nichts tun. Sie sagt auch, es wäre für ihn vielleicht besser, nicht mehr so oft ins Altenheim zu gehen.
Er hat versprochen, darüber nachzudenken.

Im Park senkt sich eine frühe Dunkelheit über die Büsche und Bäume, noch ist Winter. Neben dem Fußweg glimmen flackernd die Lichtpunkte der Beleuchtung auf. Sie bilden eine bogenförmige Linie, die in einiger Entfernung zur Straße führt.