Von Klaus-Dieter Oettrich

Besorgt berichtete die elfjährige Laura ihrer besten, gleichaltrigen Freundin Lea mit: „Meine Oma sieht nachts Geister.“

„Wie sehen die Geister aus?“ Fragte Lea und holte ein Haargummi aus der Hosentasche um ihre langen, dunkelbraunen Haare zusammenzubinden, damit sie besser hören konnte. Auf dem Schulhof war es immer sehr laut.

„Es sind große Gestalten in langen weißen Gewänder. Nur blaue Augen leuchten wie kleine Glühlampen aus ihren weißen Masken. So schweben sie fast durchsichtig durch Omas Schlafzimmer.“

„Sprechen oder singen sie? Machen sie Geräusche?“

„Nein, sie fliegen nur lautlos umher. Aber Oma meint, dass sich die Luft im Zimmer bewegt.“

„Sieht man Hände, Arme oder Füße?“

„Nein, alle Körperteile sind durch das Gewand bedeckt.“

„Hat deine Oma Angst vor ihnen?“

„Nein, aber aufstehen tut sie trotzdem nicht. Sie bleibt ruhig liegen. Manchmal schläft sie auch wieder ein. Aber sobald sie wieder die Augen öffnet, sieht sie wieder die Geister durch das Zimmer schweben. Wenn morgens durch die Fenster die ersten gelblichen Sonnenstrahlen ins Zimmer dringen, sind sie weg.“

„Wann kommen sie wieder?“

„Um Mitternacht.“

„Sind die Fenster geschlossen?“

„Ja, aber die Geister kommen trotzdem herein.“

„Können sie durch den Hauseingang kommen?“

„Dies ist unmöglich. Zwei deutsche, grauhaarige Doggen bewachen die Villa. Ab abends ist auch die Haustüre immer abgeschlossen.“

„Aber irgendwie müssen die Geister herein – und wieder herauskommen.“

„Es sind eben Geister.“

 

„Mir wird es gruselig. Aber nachher haben wir Religionsunterricht. Fragen wir doch einfach die Pastorin, ob es Geister gibt.“

Die beiden warteten vor dem Klassenzimmer auf die noch junge Lehrerin, die nicht wie eine Pastorin aussah. Ihre kurzen Haare hatten rote und blaue Strähnen und sie trug meistens Jeans mit einem T-Shirt. Sie könnte Mitglied in einer Rockband sein.

Endlich kam sie.

„Frau Pastorin, gibt es Geister?“

Sofort antwortete sie: „Ja, in der Bibel steht es geschrieben. Dieses Thema werden wir ab dem nächsten Schuljahr besprechen. Doch wenn ihr wollt, können wir uns nach dem Unterrichtsende im Schulhof treffen. Dann können wir uns gerne über dieses Thema noch ein wenig unterhalten. Jetzt dürfen wir eure Schulkameraden/innen nicht weiter warten lassen.“

Die Mädchen konnten es kaum erwarten, bis die letzte Schulstunde zu Ende war. Sie rannten sofort zum Schulhof, wo die Pastorin schon wartete.

Sie sagte: „Als ich in eurem Alter war, beschäftigte mich das Thema Geister, Gespenster und Domänen auch schon. Meine Eltern hielten von diesem Thema gar nichts und wollten daher auch nicht mit mir darüber sprechen.

Meine Oma aber schon da sie, nachdem mein Opa gestorben war, auch immer Geister durchs Zimmer schweben sah. Sie war sehr in der Bibel belesen und hatte keine Angst vor den Gestalten.“

„Warum?“ Fragte Laura.

„Weil in der Bibel steht, dass sie gerecht, gut und heilig sind. Aber Domänen…., hier muss ich nun unterbrechen, da dies im Moment zu weit führen und ihr es auch schwerlich verstehen würdet. Ich darf euch sagen, dass dieses Thema einer der Gründe war, warum ich in Heidelberg Theologie studiert habe und dann auch meine Doktorarbeit darüber schrieb.“

„Erzählen sie bitte weiter, es ist so spannend,“ bat Lea.

„Können alle Menschen Geister sehen?“ Fragte Laura.

„Ja, aber fast alle wollen sie nicht wahrnehmen oder erkennen. So und nun müsst ihr schnell heimgehen, damit eure Mütter sich keine Sorgen machen müssen. Ich möchte euch abschließend einen Spruch von Jesus auf den Weg geben: Fürchtet euch nicht!“

 

Auf dem Heimweg fragte Lea: „Ich möchte die Geister sehen. Du auch?“

„Ja, ich frage meine Oma, ob wir mit ihr im mit übernachten dürfen.“

„Auch ich muß erst noch meine Eltern fragen. Werde dich nachher anrufen.“

Nach dem Mittagessen rief Lea an. „Sie sind einverstanden. Komme heute um 17 Uhr zu dir.“

„O.k. bis nachher.“

In der Zwischenzeit holte sich Laura auch das Einverständnis ihrer Mutter ein. Die beiden sahen sich sehr ähnlich. Lange blonde Haare, cremeweiße Haut, feine geschnittene Gesichter. 

„Du musst natürlich auch Oma fragen. Aber ich denke, sie hat nichts dagegen. Mit ihren 87 Jahren freut sie sich immer, wann eine Abwechslung kommt. Auch musst du noch das Bett von Opa neu überziehen. Also dann viel Spaß“ und fragte verschmitzt: 

„Weißt du was Geister am liebsten essen?“ 

„Nein.“

„Spukhetti!“

 

Oma war ganz begeistert, dass die beiden bei ihr übernachten und erzählte ihnen einige gruselige Märchen. Dadurch wurden die Mädchen schon ganz aufgeregt auf die kommende Nacht.

„Oma du hast gesagt, dass die Gestalten immer um 24 Uhr kommen.“

„Ja!“

„Jetzt ist es 22.30 Uhr. Wir gehen nun in den Keller. Irgendwo müssen sie ja sein.“

„Wenn ihr von eurem Erkundungsgang zurückkommt, bin ich vielleicht schon eingeschlafen.“

„Das macht nichts, wir werden ganz ruhig sein.“

 

Aus dem Keller kamen komische Geräusche. Es befanden sich 6 Kellerräume dort. Der Boden im Kellergewölbe war in einem schlechten Zustand. Daher leuchteten sie mit der Taschenlampe zuerst den Boden ab, um nicht zu stürzen. Hinter einer Türe hörten sie Windgeräusche. Dies war schon seltsam, da die Kellerräume keine Fenster hatten. 

Als sie vor der Türe standen, schalteten sie die Taschenlampe aus. Nun war es richtig gespenstisch. Auf einmal raschelte es neben ihnen und Pieps Laute -wohl von Ratten- waren zu vernehmen. Lea nuschelte Laura ins Ohr: „Ich habe in die Hose gepinkelt.“ 

Nun hörte man  auch leise Stimmen. Aber verstanden wurde nichts.

Auf einmal nahmen sie ganz deutlich eine Stimme wahr. „Es ist so weit. Heute werde ich ins Schlafzimmer von Oma schweben und deren Geist und Seele mitnehmen. Sie teilte mir gestern mit, dass sie damit einverstanden ist und würde sich freuen dann unter uns zu sein.“

 

Die Mädchen bekamen eine Gänsehaut und fingen an zu zittern. Sie versteckten sich in einem Schrank, der im Kellergewölbe stand und voll Spinnweben war. „Hilfe,“ flüsterte Laura, „irgendetwas läuft an meinem Bein hoch.“

„Keine Angst,“ erwiderte Lena.

„Das musst gerade du sagen, die Pinklerin.“

Nun beobachteten sie eine große, weiße Gestalt in dem Gewölbe schweben. Wie diese hier herkam, hatten sie nicht gesehen. Nach drei Runden war sie wieder weg. Den Mädchen stockte der Atem.

„Ich glaube, mir sind gerade gruselige Kellerasseln über die Hand gelaufen,“ wisperte Lea.

„Wie kannst du diese Tiere im Dunkeln erkennen?“

„Wir haben im Kartoffelkeller auch welche. Ich denke, ich muss mich übergeben.“

„Das würde gerade noch fehlen. Halt den Mund zu!“

 

Nach wenigen Minuten sahen sie den Geist wieder im Kellergewölbe schweben. Aber nicht alleine. Hinter ihm befand sich eine weitere Gestalt.

Plötzlich waren die beiden nicht mehr da. Aber aus dem Kellerzimmer hörten sie eine Art von Freudengeschrei.

Dann war wieder alles ganz still und unheimlich.

 

Im Dunkeln tasteten sie sich zur Kellertreppe. Dort knipsten sie die Taschenlampe an und schlichen leise nach oben. Sie hatten so große Angst, dass sie nicht in das Zimmer von Oma gingen, obwohl sie versprochen hatten dort zu übernachten. Sie betraten vorsichtig das Zimmer von Laura und schalteten die Nachttischlampe an.

Nach einigen Minuten sagte Laura: „Sie haben Oma geholt. Sollten wir doch mal nachschauen?“

„Nein, ich verlasse dein Zimmer nicht mehr bis es Tag wird,“ sagte Lea mit zitternder Stimme.

Als die ersten Lichtstrahlen ins Zimmer kamen, waren beide hellwach.

„Auf, lassen wir uns zu Oma gehen.“

Die Zimmertüre wurde geöffnet. Sie lag ganz friedlich in ihrem Bett.

„Oma schläft noch, sei still,“ sagte Laura.

„Ich will mal hören, ob sie noch atmet.“

„Meinst du etwa, meine Oma ist gestorben?“

Nun ging Laura zu ihr. Aber sie konnte keinen Atem feststellen. Dann berührte sie die Hände.

Sie waren eiskalt. „Ich glaube, sie ist tot,“ sagte Laura mit weinerlicher Stimme.

 

Die Mädchen verließen fluchtartig den Raum und stürmten in das Schlafzimmer von Lauras Eltern.

Die Mutter erschrak fürchterlich und saß nach zwei Sekunden aufrecht im Bett.

„Wie könnt ihr mich frühmorgens so erschrecken? Seit ihr von allen Geistern verlassen?“

„Ja, die Geister haben uns verlassen. Auch Oma haben sie mitgenommen.“

„Ist sie nicht mehr im Bett?“

„Doch, aber sie lebt nicht mehr.“

Lauras Vater war inzwischen auch aufgewacht und sagte: „Schnell ins Zimmer von Oma.“

Aber auch er konnte nur noch den Tod feststellen.

„Holt schnell eine Kerze.“

Diese wurde angezündet und alle saßen am Bett von Oma.

Im Schein des Kerzenlichtes sagte der fast zwei Meter große und vollbartige Vater mit seiner tiefen Stimme: „Wollen wir sie auf ihrem Weg nun in Gedanken begleiten.“

 

Laura und Lea gingen nicht zur Schule. Die Mutter von Lea wurde verständigt. Vater setzte sich mit dem Arzt, der Pastorin und dem Leichenbestatter in Verbindung.

Beide Mädchen saßen den ganzen Tag bei brennender Kerze am Bett.

Um 24 Uhr erloschen sie den Docht der Kerze. Aber keine weiße Gestalten waren zu sehen. Sie warteten noch eine Stunde. 

Nichts geschah.

Als sie zum Schlafen in die Betten in Lauras Zimmer wollten, schauten sie vorher am Fenster in die schwarze Nacht.

„Wir wünschen dir alles Gute, liebe Oma und werden immer an dich denken,“ sagte Laura.

 

Aber was sahen sie denn da auf einmal?

Fünf weiße Gestalten flogen über die Hundehütte von dem Neufundländer Dex.

Er war Omas Lieblingshund, welchen sie als Welpe bekam und groß zog. Nun war er 16 Jahre alt. In diesem Hundealter konnte er nur noch schwerlich gehen. Aber er schaffte es jeden Tag zu Oma zu kommen, die ihm sein Fressen gab. 

Einer der Geister flog immer ganz dicht am Eingang der Hütte vorbei.

„Jetzt holen sie auch Dex,“ erklärte Laura. „Oma und Dex wollten immer beieinander sein.“

„Mir wird unheimlich.“ Die Mädchen konnten wieder nicht schlafen.

Plötzlich hörten sie in der Ferne ein Heulen, wie die eines Wolfes.

„Jetzt hat er sich verabschiedet.“

Nun konnten die Mädchen einschlafen.

 

Am nächsten Morgen eilten sie zur Hundehütte. Entspannt lag Dex auf seinem Schlafplatz. Heraus aus der Hütte kam er nicht mehr.

Auch für ihn wurde eine Kerze angezündet.

 

Seither hatte man keine Geister mehr in Form von weißen Gestalten gesehen.