Marina Pappas

Tereza war schon immer ein aufmerksames und neugieriges Mädchen. Kein Baum war ihr zu hoch, keine Höhle zu tief. Ein wahrer Wildfang. Ihre Großmutter schlug oft die Hände über den Kopf zusammen, wenn sie wieder einmal mit aufgeschürften Knien nach Hause kam. Ständig ignorierte sie die Warnungen der Großmutter. „Irgendwann wirst du mal in eine ausweglose Situation kommen, in der dich dein Glück verlässt. Kind, ich hab oft Angst um dich.“ „Ach Großmutter, gräme dich doch nicht so. Ich bin doch immer vorsichtig. Das sind nur kleine Wunden, die ich mir einfange. Wie sagst du immer? Bis ich heirate, ist es verheilt.“ Lachte Tereza.

Heute war Tereza älter und ruhiger. Trotzdem spürte sie immer eine gewisse Spannung in sich, die sie manchmal noch unbedachte Dinge tun liess. Solch ein Tag sollte heute sein.

Tereza war alleine unterwegs. Es machte ihr nichts aus. Sie liebte es, da sie dann einfach ihre Gedanken schweifen lassen konnte. Heute hatte sie geplant an der alten Kirche vorbeizugehen. Sie war schon lange verfallen und ihr Dach war eingestürzt. Niemand kümmerte sich mehr um dieses Gebäude und den angrenzenden Friedhof. Es hatte sie schon immer mal gereizt hineinzugehen. Der einzige Weg, den sie dorthin nehmen konnte, führte an einem dichten Wald vorbei. Gerade in der dunklen Jahreszeit, war ihr mulmig zumute, wenn sie diesen Weg wählte. Schatten schienen sie zu verfolgen und die seltsamen Geräusche, die aus dem dichten Dunkel des Waldes drangen, ließen sie erschaudern. Genau das war der Grund, warum sie gerne hier lang lief. Dieses wohlige Gefühl des Gruselns pumpte Adrenalin durch den Körper. Dadurch fühlte sie sich dem langweiligen Alltag entrissen. Sie fühlte sich lebendig. Die Abenteurerin in ihr scharrte dabei mit den Füßen, um endlich wieder etwas zu erleben.

Ihre Großmutter hatte sie immer wieder gewarnt: “Kindchen, geh nicht in diese Kirche, egal ob es hell oder dunkel ist. So viele Menschen sollen dort verschwunden sein. Sie sind dort hineingegangen und nie wieder wurden sie gesehen. Lass dir das gesagt sein. Sei vernünftig. Diese Kirche steht einfach unter einem schlechten Omen, seit bei einer Beerdigung damals das Dach eingestürzt ist. Es ist ein sehr seltsamer Ort. Man munkelt, dass dort Geister umherirren und einen bei sich behalten wollen.“ Sie hätte sich denken können, dass dies Tereza nur erst Recht neugierig auf das Gelände mit seinem schaurigen Gebäude machen würde.

Tereza musste jedes Mal an Großmutters Worte denken, wenn sie an dem unheimlichen Gemäuer vorbeiging. Es war noch viel unheimlicher als der Wald. Hinter den Scheiben konnte man Schemen erkennen, die von hereinfallendem Licht stammten. Um diese Kirche waberte immer Nebel. Die Grabsteine neben dem Gebäude waren schon sehr alt und wirkten bedrohlich.

Ein seltsames Leuchten kam heute aus der Kirche. Es erhellte aber nicht den Eingang – es wirkte eher, als würde es die dunklen Schatten anziehen. Und nicht nur die Schatten zog es an. Auch Tereza wurde davon angezogen. Was ging da vor sich? Es sollte doch niemand mehr in diesem Gebäude sein.

Sie hielt die Luft an. Sie konnte Geräusche hören. Schritte. Jemand bewegte sich auf sie zu. Der Nebel verhinderte, dass sie die Geräusche richtig orten konnte. Sie zitterte. Es war kälter geworden. Ihre Nackenmuskulatur verhärtete sich. Sie wurde beobachtet. Langsam drehte sie sich um. Da war – nichts. Sie lachte nervös. Ihre Großmutter war schuld. Mit ihrem Gewäsch hatte sie ihr doch mehr Angst gemacht, als sie dachte. So ein Blödsinn dachte sie. Ich werde jetzt mal meine Angst überwinden und mir selbst beweisen, dass es keine Geister gibt.

Sie straffte ihre Schultern und bewegte sich ganz langsam auf den Friedhof zu. Ihre Schritte waren so laut, dass sie selbst darüber erschrak. Lachend schüttelte sie den Kopf und ging weiter. Der Friedhof war mit einem Zaun umgeben, der zu seinen Glanzzeiten ehrfurchtsvoll gewirkt haben muss. Heute wirkte er leider nur noch traurig. Die einzelnen Elemente des Zaunes waren aus dem Boden gebrochen und ließen den Friedhof einsam wirken. Keiner interessierte sich noch für die Verstorbenen. Das Tor war ebenfalls herausgebrochen und hing schief in seinen Angeln.

Als sie den Friedhof betrat, entfesselte sich ein Stöhnen. Es klang wie ein tiefes Ausatmen. Als wäre jemanden ein Stein von der Seele gefallen. Als hätte sie etwas getan, das die Toten begeisterte. In diesem Moment erwachte in Tereza der Gedanke, dass sie vielleicht einen Fehler begangen haben könnte. Um ihre Knöchel waberte der Nebel. Bei jedem Schritt wich er beiseite, um sich hinter ihr sofort wieder zu schließen. Sie drehte sich um. Das Tor war verschwunden. Der Nebel hatte es verschluckt. War es überhaupt jemals da gewesen? Entsetzt trat sie einige Schritte zurück. Nein. Das Tor und somit auch der Ausgang, waren verschwunden. Sie führte ihre Hände an den Mund.

„Hallo, hört mich jemand? Ist hier irgendwer? Hallo, ich finde den Weg nicht mehr.“ Ein Geräusch, wie das Öffnen einer schweren Tür, antwortete ihr. Durch den Nebel konnte sie ein schwaches Leuchten erkennen. Schnell ging sie darauf zu. Im Hintergrund hörte sie eine Eule rufen. Füchse riefen ihr zu, aber sie konnte sie nicht verstehen.

Vor dem geöffneten Eingang schluckte sie noch einmal. Sie schaute zurück. Hinter ihr erschienen Schatten. Hinter jedem Grabstein konnte sie stumme Gestalten erkennen. Erschrocken rannte sie in die Kirche.

Es war kalt im Inneren. Sie blickte sich um, konnte aber die Quelle des Lichtes, das sie eingeladen hatte, nicht entdecken. Es war eine sehr einfach gestaltete Kirche. Einfache Holzbänke, wenig Verzierung an den Wänden. Die Kirche armer Leute. Auf jede der Bänke saß jemand. Vorsichtig trat Tereza an eine der Gestalten heran. Sie waren in weiße Tücher gehüllt, die ihre Gesichter verdeckten. Sie bückte sich, um das Gesicht zu sehen. Wo sie erwartete, Mund, Augen und Nase zu sehen, befand sich nur eine schwarze, gesichtslose Leere. Erschrocken trat sie zurück. Dann ging ein Ruck durch die Reihen. Die Gestalten drehten alle ihren Kopf in Terezas Richtung. Tereza riss die Augen auf und holte tief Luft. Langsam ging sie rückwärts. Sie versuchte den Ausgang zu ertasten und fand die Klinke. Sie ließ sich nicht herunterdrücken. Tereza drehte sich um und rüttelte an der Tür. Sie klopfte mit den Fäusten dagegen. „Lasst mich raus. Hilfe, lasst mich doch raus.“

Die Gestalten hatten sich erhoben. Langsam bewegten sie sich auf sie zu. Ihre Gewänder machten schlurfende Geräusche über den staubigen Boden. Terezas Augen zuckten aufgeregt hin und her. Dann wendete sie den Kopf. Es musste doch einen Ausgang geben.

Sie rannte in den Altarraum. Dort gab es doch immer Seitentüren, aus denen der Pfarrer kam. Aber das eingestürzte Dach verhinderte, dass sie an die Tür herankam. Ihre Brust hob und senkte sich schnell. Die Gestalten hatten sie eingekreist. Sie konnte nicht mehr an ihnen vorbei.

In ihrer Jackentasche fischte sie nach ihrem Handy. Ein Blick auf das Display zeigte ihr, dass sie Empfang hatte. Sie schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Sie drückte auf die letzte gewählte Nummer, die ihrer Großmutter. Die Gestalten kamen immer näher. Tereza konnte die Kälte spüren, die sie ausstrahlen und sie lähmte. Sie sank in auf die Knie. Jetzt war sie sich sicher, sie hätte nicht hier herkommen sollen.

„Großmutter? Großmutter, es tut mir so leid, ich hätte auf dich hören sollen. Ich hätte auf dich hören sollen.“ Schluchzte sie. Die Tränen liefen über ihr steifes Gesicht. “Ich liebe dich. Grüß Mama und Papa von mir. Sag ihnen, es tut mir so leid.“ Dann brach das Gespräch ab.

„Tereza? Tereza, wo bist du?“ schrie ihre Großmutter in den Hörer. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. In diesem Moment war ihr klar, dass sie ihre Enkelin nie wieder sehen würde. Sie spürte es in ihrem Herzen

Ende

 

Als Inspiration diente mir: St.-Georg-Kirche Gemeinde Luková. Sowohl die Umgebung als auch die Warnung sind frei erfunden.