Von Michael Voß

Sehnsüchtig blickte Uli Hansen aus dem Kassenhäuschen zu dem dichtumdrängten Stand. Der Geisterbahn-Besitzer seufzte: Wenn nur jeder fünfte Gast der Donut-Bude von gegenüber einen Fahrschein für Hansens Bahn lösen würde, hätten seine Sorgen ein Ende.

„Gegessen und getrunken wird immer. Für alles andere muss man sich was einfallen lassen, nicht wahr?“, klang eine Stimme in seinem Rücken.

Uli drehte sich um. Offenbar hatte er vergessen, die Tür in seinem Rücken zu schließen, durch deren Öffnung nun ein fröhlicher junger Mann mit einem Bürstenhaarschnitt hereinlugte.

Eigentlich hatte Hansen dem Kerl die Tür vor der Nase zuschlagen wollen. Doch dann fiel ihm etwas ein.

„Genau das hat mein Großvater auch immer gesagt“, seufzte er.

„Ihr Großvater? War der auch Schausteller?“, fragte der Typ neugierig.

Die Erinnerung an seinen Großvater ließ Uli lächeln: „Er hat mit dem Geisterbahngeschäft angefangen, was mit mir jetzt nun in der dritten Generation läuft.“

Sein Gesicht verdüsterte sich: „Allerdings läuft es von Jahr zu Jahr schlechter. Obwohl das Geld ja da ist. Es wird nur woanders ausgegeben. Nur weiß ich nicht, was ich dagegen machen soll.“

Er wies auf den Donut-Stand: „Ich habe keine Idee, wie eine Geisterbahn heutzutage mit Donuts und Bratwürsten konkurrieren kann.“

„Ich schon!“, schmunzelte der junge Mann.

„Sie Jungspund wollen mir erzählen, wie ich meinen Laden führen soll?“, ereiferte Uli sich.

Der Mann lachte: „Nicht doch! Ich habe lediglich eine Idee zur Steigerung des Erlebniswertes!“

„Ach so läuft der Hase! Sparen sie sich das Geschwätz! Was wollen sie mir aufschwatzen? Eine neue Nebelmaschine? Furzkissen für die Wagensitze? Oder fair gehandelte Kostüme aus Kenia für meine Geisterfiguren? Hier, ich gebe ihnen einen Kaffee aus, dann reden wir nett über das Wetter und anschließend suchen sie sich einen anderen Dummen.“

„Danke, den Kaffee mit etwas Milch, wenn`s geht. Das Wetter können wir überspringen, denn: Statt eines Käufers suche ich einen jemanden, der mir ein Versuchsfeld für meine Informatik Masterarbeit zur Verfügung stellt. Am besten einen Geisterbahn-Mann.“

Uli wusste: Informatik, das waren Computer, Handy, Internet und sowas. Neumodischer Kram.

Er sagte: „Die Anlage wird mit richtigen Relais gesteuert. Das hat den Vorteil, dass ich alles noch selbst reparieren kann.“

Der Besucher meinte: „Es geht um mehr als Steuern und Regeln. Darf ich ihnen heute Abend mein Geisterbahn-Konzept vorstellen?“

,Der hat Nerven!´, dachte Uli, willigte aber ein: „Wenn ich danach meine Ruhe vor Ihnen habe, ja!“

„Versprochen! Ist Mitternacht okay?“

„Ja. Und jetzt gehen sie endlich!“

 

Pünktlich um zwölf klopfte es an Ulis Wohnwagen.

„Herein!“, rief der Schausteller brummig.

 

 

„Guten Abend“, lachte der junge Mann, holte ein iPad hervor und bot Uli die Hand: „Marc Hinweg.“

Uli ergriff eine schmale, kühle Hand: „Uli Hansen. Dann lass´ mal sehen, Junge.“

Marc reichte Uli eine sonderbare Brille mit runden Gläsern in einem elfenbeinfarbenen Kunststoffgestell: „Aufsetzen bitte.“

 

Skeptisch ergriff er die merkwürdige Sehhilfe und setzte sie auf. Dann klappte ihm die Kinnlade herunter. Sein Wohnwagen schien von lauter merkwürdigen Gestalten bevölkert zu sein.

Auf dem Bett lümmelte sich eine weißlich-durchscheinende dicke Frau in einem äußerst knappen Nachthemd und lächelte ihn aus einem zahnlosen Mund an: „Na Süßer, wie wär´s?“

Bevor er etwas entgegnen konnte, quietschte die Dicke auf und sprang aus dem Bett, über das jetzt eilig eine haarige Spinne krabbelte, verfolgt von einem grüngekleideten Kobold. Ein Knarren auf der Anrichte ließ Uli zur Seite sehen, wo ein einäugiger, abgerissener Mann in die Kassette mit den Tageseinnahmen griff. Uli keuchte. Der Mann sah ihn an und zog eine altertümliche Pistole hervor: „Keinen Mucks, Junge! Verstanden?“

Entsetzt riss Uli sich die Brille von der Nase. Augenblicklich war der Spuk vorbei.

„Was war das denn?“

„Augmented Reality. Auf die Gläser der Brille wird ein bewegtes Bild projiziert. In Ihrem Kopf vermischen sich Projektion und Wirklichkeit zu einer neuen Gesamtheit. Schon schwebt ein Geist durch den Wohnwagen.“

Uli holte tief Luft: „Ich nehme an, das geht auch in einer, hm, veralteten Geisterbahn?“

Der junge Mann strahlte: „So ist es!“

„Okay. Was muss ich dafür tun?“

 

7 Tage später war die Geisterbahn von all ihren Puppen und Figuren befreit, nur die Kulissen standen noch. Weitere 7 Tage darauf waren die Brillen programmiert und nach noch einmal 7 Tagen verkaufte Uli die ersten Fahrkarten für die Geisterbahn 4.0.

 

7 Monate später: Uli saß mit Marc im Wohnwagen und öffnete eine Flasche Sekt: „Lass uns anstoßen: auf deine Masterarbeit, auf die Neugeburt der Geisterbahn und auf den furiosen Erfolg!“

Tatsächlich hatte die neue Geisterbahn sich zu einem wahren Publikumsmagneten entwickelt. Die Menschen kamen in Scharen herbeigeströmt. Jeder wollte die Geister sehen, die skatspielend in den Bäumen eines Waldfriedhofs saßen. Ein Kritiker schrieb begeistert von dem Grusel, den er empfand, als ein unglaublich echt wirkender Sensenmann die Hand nach ihm ausgestreckt hatte und mit Grabesstimme sagte: „Deine Zeit ist gekommen.“ Manche Besucher fuhren gleich mehrmals durch die Anlage, um auch wirklich jeden Eindruck in sich aufzunehmen: die hohlwangigen Geister verstorbener Soldaten auf einem Schlachtfeld des ersten Weltkriegs, die einem Pharaonengrab entsteigenden Mumien, die Zombieparade an Halloween in einer amerikanischen Vorstadt und anderes mehr.

Marc prostete Uli zu: „Es braucht nur die richtige Idee, dazu Tatkraft und Mut, dann kann man alles Wirklichkeit werden lassen.“

„Ja“, sagte Uli. „Das hat mein Großvater auch immer gesagt.“

„Kann es sein, dass du ihn manchmal vermisst?“

Uli nickte: „Ja. Ich wünschte, er könnte sehen, was aus der Geisterbahn geworden ist. Es würde ihm gefallen.“

Marc grinste: „Da bin ich mir sicher. Doch meine Zeit ist gekommen, ich muss wieder verschwinden. War eine tolle Zeit mit dir und der alten Bahn. Mach´s gut, Kleiner!“

Dann löste er sich in Nichts auf.

 

Verblüfft rieb Uli sich die Augen sah auf den leeren Stuhl, wo gerade noch der ihm so vertraut gewordene Marc gesessen hatte. In dem Moment kam ihm ein Verdacht. Er kramte sein Fotoalbum aus dem Schrank. Auf der siebten Seite fand er ein Bild seines Großvaters Markus Hansen im Alter von etwa zwanzig.

 

Er war Marc wie aus dem Gesicht geschnitten.

 

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