Von Andreas Müller

Pfarrer Jansen betrat die Kirche von der Sakristei aus. Er wollte das Manuskript für seine nächste Predigt auf das Rednerpult seiner Kanzel legen, als er diese Frau im grauen Mantel sah, die ziemlich weit hinten zwischen zwei Bänken kniete. Sie hatte sein Kommen offensichtlich nicht bemerkt, denn sie starrte nach wie vor auf die Jesusfigur, die über dem Opferstock am Kreuz hing. Ihre Augen waren weit geöffnet, ihre Hände gefaltet. Draußen stürmte es und der Wind peitschte den Regen gegen die hohen Fenster des Kirchenschiffs. Sie nahm davon keine Notiz. Jansen wollte die in tiefe Andacht versunkene Frau nicht stören. Er zog sich dezent in die Sakristei zurück, legte die Papiere auf den Tisch, begab sich durch die Seitentür in seine Wohnung und setzte sich in einen Sessel. 

Vor dem Fenster verloren die kleinen Buchen ihre letzten welken rotbraunen Blätter. Der Wind riss sie von den Ästen und wirbelte sie in einem wilden Tanz durch den Kirchhof. Pfarrer Jansen nahm seinen Katechismus in die Hand, blätterte lustlos darin herum und sank nur wenige Minuten später in einen unruhigen Schlaf. 

Um halb zehn weckte ihn das Läuten der Turmuhr. Jansen erhob sich langsam, rieb sich die Augen und ging hinaus in den Hof. Es hatte aufgehört zu regnen. In der Luft lag der Geruch von feuchtem Laub; es roch nach Herbst.

Dieses Mal betrat er die Kirche durch den Haupteingang und stellte verblüfft fest, dass die Frau noch immer in unveränderter Haltung an ihrem Platz kniete. Sie drehte sich nicht um, als die hohe, schwere Eichentür hinter ihm ins Schloss fiel. Der Pfarrer setzte sich neben sie und legte ihr seine Hand auf die Schulter. Die Frau zuckte zusammen und sah ihn mit geröteten, glasigen Augen an. 

„Mein Fräulein, sie müssen jetzt gehen. Ich muss die Tür zusperren. Nachts bleibt die Kirche geschlossen.“

Sie senkte ein wenig den Kopf, schob ihr Kinn hin und her, legte schließlich ihre Hand auf Jansens Unterarm und flehte: „Bitte, Herr Pfarrer, darf ich hierbleiben? Nur für diese Nacht. Bitte!“

„Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Außerdem ist es hier drinnen viel zu kalt. Sie würden sich den Tod holen.“

Ihre Hand krampfte sich um sein Handgelenk. „Bitte, ich brauche den Schutz der Kirche!“

Die Frau hatte einen bayrischen Akzent; sie war also offensichtlich nicht aus Dorthar. 

„Was hat sie denn zu uns in die Stadt geführt?“, fragte der Pfarrer.

„Ich, ich … meine Schwester, ich wollte meine Schwester besuchen, aber sie ist nicht zu Hause.“

„Wo ist denn ihr Gepäck?“

Die Frau deute auf ihre kleine beige Baumwollhandtasche, die neben ihr auf der Bank lag und brach in Tränen aus. 

Der Pfarrer legte ihr seine Hand auf den Rücken und sagte: „Kommen Sie.“

Er führte sie zum Haus des alten Küsters, der zwei Jahre zuvor verstorben war. Das kleine Haus stand seither leer. Während Jansen ihr die Wohnung zeigte, sprach ihm die Frau unablässig ihren Dank aus. Schließlich holte sie ihre Bibel hervor, die sie in der Manteltasche trug. Sie legte sie behutsam auf die kleine Kommode neben die Emaille-Lampe, zog den Mantel aus und fragte etwas verlegen nach der Toilette. Jansen wies ihr die Richtung und nachdem sie sich zurückgezogen hatte, schlug er die Bibel auf. Auf dem Vorsatz befand sich eine Widmung: Unserer lieben Hannah zur Firmung. Von deinen dich liebenden Eltern. Paula und Hans.  Die Widmung war auf den 05.06.1965 datiert. Hannah musste also etwa zwanzig Jahre alt sein. Im Gang war die Toilettenspülung zu hören. Der Pfarrer klappte das Buch zu und als Hannah das Zimmer betrat, wünschte er ihr eine gute Nacht.

 

Am Morgen drangen vereinzelte Sonnenstrahlen durch die graue Wolkendecke und tauchten den Kirchhof in ein oranges Licht. Pfarrer Jansen klopfte an die Tür des Küsterhauses, doch niemand meldete sich: Hannah war bereits gegangen.  

Wovor hatte die junge Frau eine solche Angst gehabt? Diese Frage beschäftigte Jansen noch eine Weile, ehe er sich schließlich in seine Arbeit vertiefte. Er schrieb an einer Rede, die er am Abend im St. Hubertus Krankenhaus zur Einweihung des neu errichteten Anbaus halten musste. 

Nachmittags hatte er in der Stadt einiges zu erledigen. Und schließlich – es war um kurz nach drei in der Schillerstraße – sah er Hannah an der Theke im Café Walter sitzen. Sie war nicht allein, sondern befand sich in Begleitung einer Frau, die etwa zehn Jahre älter als Hannah sein musste. Diese Frau trug einen Minirock, einen Pullover, einen breiten Gürtel um ihre Taille sowie schwarze Lederstiefel mit beachtlichen Absätzen. Jansen betrat das Lokal, bestellte ein Mineralwasser und setzte sich an einen Tisch, der sich in einiger Entfernung der Damen befand, von dem aus er die beiden jedoch unbemerkt beobachten konnte. Die Frau mit dem Minirock redete in einem fort, lachte und gestikulierte wild mit Armen und Händen. Hannah hingegen war aschfahl im Gesicht und sagte kein Wort. Schließlich sprang sie auf und rannte zur Tür. Die andere Frau rückte die Barhocker an der Theke zurecht und folgte ihr. 

Jansen rief nach der Bedienung, doch die stand ein paar Tische weiter und nahm gerade eine Bestellung auf. Der Pfarrer legte einen Fünf-Mark-Schein auf den Tisch und eilte zum Ausgang. Hannah war nicht mehr zu sehen, aber ihre Begleiterin bog gerade in die Sebastianstraße ein. Als der Pfarrer die kleine Querstraße erreichte, war die Frau ebenfalls verschwunden. Die Frage war nur, wohin? Denn die Sebastianstraße war eine Sackgasse und von der Schillerstraße aus konnte man die gesamte Gasse überblicken. 

 

Als sich Pfarrer Jansen abends auf den Weg zum St. Hubertus-Krankenhaus machte, regnete es wieder. Die wenigen Leute, die auf den Straßen unterwegs waren, liefen leicht nach vorn gebeugt und hatten es eilig, nach Hause zu kommen. Jansen stieg am Perlitzplatz in die Straßenbahnlinie S4 nach Dorthar-West. Es war bereits dunkel und die Leuchtröhre an der Wagondecke flackerte. Die Linie bewegte sich zwischen den Fahrspuren der Westtangente entlang des Neubaugebietes Lahnau, das die Küste säumte. Jansen blickte hinunter zum Strand, konnte ihn aber kaum erkennen, denn die Scheibe spiegelte sein Gesicht und das Innenleben der Straßenbahn. Dann sah er die beiden Frauen: Hand in Hand liefen sie auf dem Bürgersteig in Richtung Martinsweg, der zum Strand hinunterführte. Für einen Augenblick wendete Hannah ihm ihr Gesicht zu, dann wurde sie von der Unbekannten weiter entlang des Weges gezogen. Hannah hatte Todesangst, das hatte Jansen trotz der schlechten Sichtverhältnisse erkennen können. Er wollte die Bahn so schnell wie möglich verlassen, aber die nächste Station war Darting und bis dahin war es noch ein ganzes Stück. Aufgeregt lief Jansen im Wagon auf und ab. Die wenigen Fahrgäste schauten ihn irritiert an. Als der Zug endlich zum Stehen kam, rannte Jansen auf dem Fußweg zurück in Richtung Martinsweg. Zwischen den dunklen Wolken lag ein hellblauer Streifen und legte ein fahles Licht auf das graue Meer. Die ganze Umgebung machte an diesem Abend einen unwirklichen Eindruck. Die Szenerie wirkte, als habe sie ein schwermütiger Maler auf seine Leinwand gebannt. Und mittendrin in diesem düsteren Bild – dort, wo die Wellen am Strand spülten – befanden sich die beiden Frauen. Jansen hastete den Martinsweg entlang, bis er die Treppen erreichte, die zum Strand hinunterführten. 

„Hannah!“, schrie er.

Doch Hannah antwortete nicht, sondern lief mit der Frau ins offene Meer. Jansen eilte die Treppen hinunter, rannte angekleidet ins Wasser und kraulte auf die Frauen zu, die sich immer weiter von ihm zu entfernen schienen. Das Wasser war eiskalt. Als es Jansen schließlich doch gelang, Hannah zu erreichen, war die andere Frau nicht mehr zu sehen. Er zog Hannah auf seine Brust und brachte sie unter einer immensen Kraftanstrengung an den Strand. Erst als sie vor ihm im Sand lag, stellte er fest, dass sie nicht mehr atmete. Der Geistliche versuchte es mit Mund-zu-Mund Beatmung, doch es war zwecklos.

„Brauchen Sie Hilfe?“, rief irgendwer.

Jansen schrie in die Nacht hinein und schlug mit seinen Fäusten in den Sand.  

 

Zwei Stunden später saß der in eine Decke gehüllte Pfarrer mit einer dampfenden Tasse Tee in den Händen auf der Polizeistation Dorthar-Westring Kommissar Hausmann gegenüber.

„Eine schreckliche Geschichte“, der Kommissar räusperte sich kurz und steckte sich mit einem Streichholz eine Roth-Händle an, „geht dieses junge Ding einfach ins Wasser! Sie ist vor einer Woche aus Scheidt, einem Kuhkaff in Bayern, fortgegangen und seither scheinbar ziellos kreuz und quer durchs ganze Land gefahren. Das konnten wir aufgrund der Zugfahrscheine nachvollziehen, die wir in ihrer Manteltasche fanden.“

„Weshalb ist sie denn aus Scheidt fortgegangen? Gab es einen Grund für ihre Flucht?“, wollte Jansen wissen.

Der Kommissar blies den Rauch seiner Zigarette gegen die geschlossene Fensterscheibe und antwortete: „Ja, den gab es. Vielleicht sagt Ihnen der Name Rainer Winter etwas. Nein? Nun, Winter ist ein bekannter Schriftsteller. In Scheidt hat er ein Sommerhaus. Hannah Ott arbeitete für ihn im Haushalt. Die beiden fingen ein Verhältnis miteinander an. Eines schönen Tages hat Monika Winter, die Frau des Schriftstellers, die beiden in flagranti erwischt. Sie hat eine Riesenszene gemacht, sich anschließend in der Dorfkneipe volllaufen lassen und ist dann mit ihrem Porsche gegen einen Baum geknallt. Anschließend glaubte Hannah – das gaben die Eltern den Kollegen in Bayern zu Protokoll – Frau Winters Geist verfolge sie. Die Sache mit Frau Winter stand auch in der Zeitung. Hier!“

Der Pfarrer nahm das Blatt, das ihm der Kommissar über den Schreibtisch hinweg zugeworfen hatte, und sah sich das Foto von Frau Winter an. Es handelte sich ohne jeden Zweifel um die Frau, die Hannah ins Wasser geführt hatte. Unter dem Foto stand das Datum ihres Todes: der 28.09.1971. Das war elf Tage vor Hannahs Ankunft in der Kirche. 

„War ein heißer Feger, diese Monika Winter, finden Sie nicht, Herr Pfarrer“, meinte Hausmann.

Jansen ließ diese Bemerkung unkommentiert.