Von Hans-Günter Falter

Sie schloss die Augen, alles um sie herum schien sich blitzartig schnell zu drehen. Sofort glitt sie nach unten, landete mit großer Wucht zunächst auf ihren Knien. Die Straße drehte sich rasend weiter, … oder drehte sie sich?
Ihre rechte Körperhälfte fühlte sich so bleischwer an und zog sie auf die Seite. Ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte, kippte sie schräg nach vorn und schlug dumpf mit dem Kopf auf den Asphalt.

Sie lag auf dem harten, kalten Untergrund, … das spürte sie, sonst fühlte sie nichts, hörte nur einen keuchenden Atemzug, … ihren Atemzug.

 

*

 

Das kleine Mädchen stand fassungslos vor seiner Mutter, „ich will nicht schon wieder von hier wegziehen“, sagte es trotzig, „es ist mir egal, ob du eine neue Arbeit gefunden hast. Hier ist meine beste Freundin, ich bleibe da“, schob sie in beleidigtem Ton nach. Eine dicke Träne lief an ihrer Wange herunter. Wie konnte Mami nur so herzlos sein. Sie lief aus dem Haus, direkt zu ihrer Freundin, um ihr alles zu erzählen.
„Komm nicht so spät“, rief ihr die Mutter noch hinterher, so wie sie es jedesmal tat, wenn ihre Tochter das Haus verließ.

Ihr Mann lachte immer über diese Geschichte, die sie ihm schon so oft erzählt hatte. Dabei kannte er ihre Mutter gar nicht, weil sie bei einem Unfall gestorben war, kurz bevor sie sich kennenlernten.
Bei ihm fand sie Trost in dieser schwierigen Zeit. Überhaupt erschien es ihr als großer Glücksfall, diesem Mann begegnet zu sein. Er war so zuvorkommend, nahm sie ernst, beschützte sie und sie konnte alles mit ihm besprechen.
Als sie die neue Arbeit hier im Kreiskrankenhaus gefunden hatte, freute er sich mit ihr, und er führte sie aus an diesem besonderen Abend. Ging mit ihr Tanzen, obwohl er tanzen eigentlich hasste, … sprang über seinen Schatten, nur für sie. Und es tat ihr so gut, sie kam sich so wunderbar geborgen und wertgeschätzt vor. Sie war unendlich glücklich.
Auf ihrer neuen Station im Krankenhaus fühlte sie sich, vom ersten Moment an, unglaublich wohl. Einige ihrer Kolleginnen und Kollegen wurden ihr schnell zu echten Vertrauten, mit denen sie sich oft auch abends, nach der Arbeit, traf. Andere Freunde zu finden wäre ja auch nicht so leicht gewesen; durch den ständig wechselnden Schichtdienst sind regelmäßige, verbindliche Termine eigentlich kaum möglich.

Ihr Mann fühlte sich im Kreise ihrer Arbeitskollegen schon bald nicht mehr sehr wohl; ja natürlich, er konnte oft nicht mitreden, wenn es um Erlebnisse ging, die sie mit den anderen bei der Arbeit hatte. Er konnte über die komischen Situationen nicht lachen und verstand die fachlichen Probleme nicht wirklich.
Deshalb zog er sich immer mehr zurück. Sie fand das zwar schade, hatte es aber akzeptiert und sah darin auch kein Problem. Schließlich wollten sie sich als Paar ja auch gegenseitig Freiräume zugestehen und nicht ständig aufeinander hocken.

Dann bekam ihr Mann überraschend das Angebot für diese neue Arbeitsstelle. Es war seine ganz große Chance, an die er fast schon nicht mehr geglaubt hatte. Aber diese große Chance wäre auch mit einem Ortswechsel in eine andere Stadt verbunden, 700 km entfernt.

Er hatte keinen Zeitdruck, um über das Angebot nachzudenken, musste nichts überstürzen und hatte es auch mit seiner Frau immer und immer wieder besprochen.

Die Beziehung war jetzt, nach fünf Ehejahren, trotz allem, nicht mehr so stabil, dass sie einfach, aus Liebe zu ihm, ihre Arbeit und ihre neuen Freunde aufgegeben hätte. Das war beiden klar.
Er wollte sie auch nicht aus ihren neuen Umfeld herausreißen, so wie es ihre Mutter getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war.

„Eine Chance, wie diese, bekomme ich nie wieder“, sagte er zu ihr, „aber ich bin bereit darauf zu verzichten, um mit dir zusammen zu sein, … wenn du das willst!“.
Sie entgegnete: „was ist, wenn du diese Entscheidung irgendwann bereust. Wirst du es mir dann vorhalten, … ganz subtil vielleicht? Oder offen, in einem Streit? Was meinst du?“, sie schaute ihn ernst an und fuhr fort, „hinterher wird es dir dann zwar sicherlich leid tun, aber es würde unsere Beziehung doch verhärten und bestimmt auch langsam kaputt machen“.

Die Situation war sehr verfahren.
Ihr Mann schlief in den folgenden Wochen sehr schlecht und schreckte fast jede Nacht schweißgebadet aus seinen Alpträumen hoch.
Eine merkwürdige, destruktive Aggression blieb nach jedem Aufwachen bei ihm zurück und zog seine Gedanken in ihren Bann.
Er litt sehr unter diesen zerstörerischen Phantasien, die mehr und mehr Raum in seinem Kopf einnahmen und die er nur mit größter Anstrengung vor seiner Frau verbergen konnte.

Er fürchtet sich vor der Kurzschlussreaktion, die ihm seine Träume als scheinbar befreienden Ausweg aus seinem zermürbenden, inneren Kampf suggerierten. 

 

*

 

Intuitiv wollte sie ihr Gesicht über den Boden schieben, um den Kopf anzuheben, aber es rührte sich nichts. Die Straße fühlte sich jetzt warm und angenehm an. Ob ihr Körper den Boden erwärmte? Oder ob sie sich so schnell an die Kälte gewöhnt hatte?

Sie bemerkte das Pochen in ihrem Schädel, an der Stelle, an der sie getroffen wurde, … und sie fühlte, wie das warme Blut in rhythmischen Stößen aus der klaffenden Wunde ihres Kopfes gepresst wurde. Jetzt konnte sie es auch sehen, das Blut bildete langsam eine glänzende Pfütze neben ihr. Merkwürdigerweise hatte sie keine Angst, und sie empfand keinen Schmerz.

Aus dem Augenwinkel des linken Auges sah sie in der Blutlache, wie in einem Spiegel, nach oben und erkannte ihren Mann. Er war die Ursache für alles. Aber warum? Regungslos stand er da, hielt die Axt in der Hand.

Er war ihr hinterher gegangen auf ihrem Weg zur Arbeit, hatte ihren Namen gerufen, und sie hatte sich umgedreht, und ihn fragend angeschaut, bevor er mit der Axt zuschlug.

Einfach so, ohne etwas zu sagen. Jetzt also stand er da und starrte auf sie herab.

Gedankenfetzen und bunte Bilder flogen durch ihren Kopf. Zusammenhangslos. Glitten aus ihr heraus.

… Abschiedszettel geschrieben, … Ring auf den Tisch gelegt, … zittern beim verlassen der Wohnung, … komme zu spät zur Arbeit, … was will er von mir, … liege in seinem Arm, … Streit mit Mami, … komm nicht so spät, … bin wieder Kind, … sitze auf der Schaukel vor dem Haus, … liege in Mamis Arm, … werde geboren, … krieche in den Leib von Mami zurück, … sehe dieses weit entfernte Licht, … der Kegel wird heller und kommt auf mich zu.

Ist dies der Lichttunnel, von dem sie so oft gehört hatte? Diese Übergangszeit zwischen Leben und Tod? War ihr Leben jetzt vorbei? Wieso konnte sie überhaupt noch denken?

Das Licht umflutete sie und hob sie an.
Langsam konnte sie sich jetzt von ihrem Körper lösen, sie fühlte sich dabei ganz leicht und der Nieselregen, der sie doch so genervt hatte, als sie das Haus verließ, störte sie nun nicht mehr.
Ihren Körper hatte sie nun komplett auf der Straße zurückgelassen. Sie sah auf ihn herab, er lag wohl etwa 3 oder 4 Meter unter ihr. Noch fühlte sie sich zwar mit ihm verbunden, verabschiedetet sich gleichzeitig aber auch schon von dieser Hülle. Dabei spürte sie keinerlei Traurigkeit, was ihr seltsam vorkam. Im Gegenteil, es war ein wohliges Gefühl, und sie hatte Mitleid mit ihrem Mann, der da so hilflos stand und auf ihren leblosen Körper hinunter starrte.

Von hier oben konnte sie alles sehr gut überblicken. Jetzt sah sie zwei junge Männer aus einem Haus kommen. Beide nahmen ihre Smartphones und schalteten sie an, um dann alles zu filmen. Sie gingen langsam und synchron eine große Runde um den Schauplatz. Seltsam wirkte diese Szenerie; vorsichtig und behutsam waren ihre Bewegungen.
Sie wunderte sich, dass die beiden keine Angst davor hatten, dass ihr Ehemann auch auf sie mit der Axt einschlagen könnte. Aber sie schienen keinerlei Furcht zu haben, gingen ganz dicht an ihm vorbei und zogen sich an den Rand der Straße zurück, nachdem sie diese eine Runde mit ihren Handys abgefilmt hatten.

Ihr Mann stand noch immer unbeweglich da, war erstarrt, zu keiner Bewegung fähig, auch als die Polizeisirenen ertönten und zwei Einsatzfahrzeuge anhielten. Aus dem einen Wagen stieg eine Polizistin aus, die sehr unsicher wirkte und offenbar geschockt von dem Szenarium war. Ihr Verhalten kompensierte sie, indem sie zunächst an ihrer Dienstmütze herumhantierte, bevor sie schnell entschlossen zu ihrem Kollegen ging, der offenbar noch keinen Überblick über das Geschehen hatte, um dann sofort, mit ihm gemeinsam, den Ehemann zu verhaften.

Jetzt hatte sie sich endgültig von ihrem Körper verabschiedet und ihr Interesse an dem Geschehen unter ihr schwand sehr rasch.
Jedes Gespür für Raum und Zeit war verlorengegangen. Sie hörte ihre Mutter, die ihr zurief: „Komm nicht so spät“.

 

 

 

Version 3