Herbert Glaser

 

 

Völlig außer Atem und nur mit T-Shirt und Slip bekleidet, lehnte sich die junge Frau gegen einen Baum. Mit angsterfüllten Augen sah sie sich um. Vollmondlicht fiel durch das übriggebliebene Herbstlaub der Bäume und gab der Szenerie einen sepiafarbenen Anstrich. Die Beine der Frau waren übersät mit Blutergüssen und kleinen Schnittwunden, die sie sich auf ihrer Flucht durch den Wald zugezogen hatte. Plötzlich knackte etwas hinter ihr im Unterholz. Sie stieß sich ab und stolperte in die entgegengesetzte Richtung, einem schwachen Leuchten entgegen, das sie in der Ferne zu erkennen glaubte.

Endlich erreichte sie einen Weg und humpelte mit abgehackten Schritten einem einsamen Haus entgegen, aus dessen Fenstern flackerndes Licht drang.

Mit letzter Kraft erklomm sie die Stufen zum Eingang und wollte gerade an die große Holztür hämmern, als diese sich wie von Geisterhand öffnete. Das knarrende Geräusch der beiden Türflügel jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Blutige Fußabdrücke hinterlassend, betrat sie die Villa, in der unzählige brennende Kerzen Schatten an Wänden und der Decke tanzen ließen. An einer Seite hing ein Spiegel mit einem Sprung, der sich vielfach verzweigte. Die Frau erschrak, als sie sich darin sah. Quer durch ihr Gesicht verliefen Risse. Ein zerfetztes Bild, wie falsch zusammengesetzt. Sie blieb stehen und sah sich unzähligen labyrinthischen Gängen gegenüber. Langsam drehte sie sich um. Ihre aufgerissenen Augen starrten in das vom Feuerschein beleuchtete satyrhafte Gesicht ihres Verfolgers. Sein erhobener Arm mit der Klinge schnellte nach unten. Rote Spritzer klatschten wie nach einem machtvoll blutigen Niesen auf Boden und Wände. Das wehrlose Opfer schrie in letzter Verzweiflung auf, als sich der Arm erneut hob. Das palastartige Echo des Schreis wurde jäh unterbrochen …

… als Konstantin einen Knopf auf der Fernbedienung drückte und der Player die DVD ausspuckte wie ein ungenießbares Gericht. Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Schwerfällig stand er auf, legte die Scheibe in die Hülle zurück und betrachtete stirnrunzelnd das Cover des Horrorstreifens. Dann warf der den Film in den Mülleimer. In nächster Zeit werde ich mal mein Archiv ausmisten, dachte er bei sich, da ist erschreckend viel Schrott dabei. Ungeduldig sah er auf seine Armbanduhr, trat auf die Terrasse und genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Axthiebe aus der Ferne hallten zu ihm herüber. Bestimmt machte jemand Holz, um es sich vor dem Ofen gemütlich zu machen. Konstantin drehte sich um und beobachtete den Rauch, der aus seinem eigenen Kamin kam und dabei kleine weiße Wölkchen bildete.

Alles war vorbereitet – eigentlich. Aber aus irgendeinem Grund lief der Tag nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Er und Sarah führten jedes Jahr am 31. Oktober ein Ritual aus. Sie bereitete ihm seine Lieblingsspeise zu, Käsespätzle mit viel gerösteten Zwiebeln. Anschließend kuschelten sich beide auf einem herrlich bequemen Sofa vor dem knisternden Kamin zusammen und sahen sich einen Film an.

Konstantin stand auf Horrorfilme. Obwohl Sarah diese Leidenschaft nicht teilte, tat sie ihm den Gefallen, wenn auch zeitweise mit geschlossenen Augen. Gegen Mitternacht wurde dann eine Sektflasche entkorkt und auf Konstantins Geburtstag angestoßen. Soweit zur Theorie. Die Realität sah heute jedoch anders aus, ganz anders. Sarah hielt sich in der Küche auf, allerdings nicht, um das Essen zuzubereiten. Nein, sie telefonierte, und das seit geschlagenen zwei Stunden.

Konstantin ließ seinen Blick noch einmal über die Felder vor ihrem Grundstück schweifen. Herbstliche Nebelschwaden waren dabei, die sichtbare Welt zu entmaterialisieren, die Dunkelheit kam früh. Er fröstelte, schlenderte zurück ins Wohnzimmer und schloss die Terrassentür.

Auf eine Auseinandersetzung gefasst, betrat Konstantin die in freundlichem Gelb gehaltene Küche. Sarah saß auf einem der Küchenstühle und hatte die Knie wie ein Rhesusäffchen bis zur Brust hochgezogen. Ihre erdnussförmigen Zehen krümmten sich um den Rand des Sitzes und bewegten sich unabhängig voneinander wie die Tasten eines elektrisch gesteuerten Klaviers. Wie er das liebte! In ihrem engen, liebesapfelroten Top und den ausgefransten Jeans sah sie noch dazu verflucht sexy aus. In Konstantin wuchs die Hoffnung, der Abend könnte doch noch den gewünschten Verlauf nehmen. Fragend hob er die Arme und deutete auf die Uhr an der Wand. Mit dem Hörer am Ohr verdrehte sie ihre großartigen Augen.

„Ja, gleich.“

„Mit wem telefonierst du eigentlich?“

„Felix“, gab Sarah einsilbig zurück und versank wieder in ihr Gespräch.

Bei jedem Anderen hätte Konstantin eifersüchtig reagiert, aber nicht bei Felix, der schon lange in einer glücklichen Beziehung lebte … mit einem Mann. Warum musste sie aber ausgerechnet an ihrem gemeinsamen Abend derart lange mit ihm telefonieren? Sie sahen sich doch schließlich alle am nächsten Wochenende, an dem Konstantins Geburtstag – wie jedes Jahr – im größeren Kreis nachgefeiert werden würde. Er goss sich ein Glas Rotwein ein, begab sich wieder ins Wohnzimmer und ließ seinen Blick durch den mit verschiedensten Pflanzen dekorierten Raum wandern. Über die Kuschelcouch, den bollernden Kamin, die Gemälde an der Wand und das große Fenster. An der Innenseite der Scheibe hinterließen Tränen aus Kondenswasser streifige Spuren. Konstantin setzte sich und trank einen Schluck, als er erneut eine Axt vernahm, die mit Wucht in Holz geschlagen wurde, nur viel lauter als vorhin. Er stellte sein Glas ab, trat ans Fenster und versuchte, in der inzwischen totalen Dunkelheit etwas zu erkennen. Ein weiterer Laut, so als ob etwas zu Boden gefallen wäre, drang an sein Ohr. Diesmal aber nicht von draußen, sondern aus der Küche.

„Schatz, ist bei Dir alles in Ordnung?“

Keine Antwort. Mit ausladenden Schritten eilte er zur Küche, riss die Tür auf und sah … einen verlassenen Raum. Der Stuhl leer, das Telefon am Boden. Konstantin hob es auf und lauschte … nichts. Er drückte einige Tasten und hörte … nichts, die Leitung war tot.

„Sarah!“, schrie er in einem Anflug von Panik und lauschte … nichts. Noch nie hatte er eine so laute Stille gehört.

Konstantin stürzte auf den Flur, stolperte und schlug der Länge nach hin. Alles um ihn herum war plötzlich schwarz. Er drehte sich auf den Rücken, hielt sich den Kopf, öffnete die Augen und sah … nichts. Totale Dunkelheit. Blind, er war verdammt noch mal blind. Wie konnte das sein? Vorsichtig ins Schwarz tastend, kroch er zum Lichtschalter und betätigte ihn mehrmals – erfolglos.

Okay, ganz ruhig, sagte er zu sich, denk nach. Der Sicherungskasten!

Immer noch auf allen Vieren krabbelte Konstantin an der Wand entlang bis zur Gästetoilette. Als er die Klinke greifen wollte, stieß er sich den Ellenbogen an. Der Schmerz schoss in seinem Arm hoch wie eine Straße Feuerameisen. Er zwang sich zur Ruhe, zählte in Gedanken langsam bis zehn und versuchte es erneut, diesmal mit Erfolg. Konstantin lauschte, konnte aber außer dem dezenten Wasserrauschen in den Rohren nichts wahrnehmen. In dem kleinen Raum hangelte er sich zu einem Unterbauschrank vor und wühlte so lange in den Schubladen herum, bis er eine Taschenlampe zu fassen bekam. Zum Glück hatten die Batterien noch genügend Saft.

Wie mit einem Laserschwert, das rhythmisch vor ihm auf und ab tanzte, nahm er die Treppe in den Keller, riss den Sicherungskasten auf und starrte … in leere Sockelgewinde. Alle Schraubsicherungen fehlten. Konstantins Augen weiteten sich, das Herz hörte einen Moment auf zu schlagen, um dann wie rasend gegen die Brust zu hämmern, als wollte es sich aus seinem Gefängnis befreien. Konstantin schluckte, um dem Mageninhalt den Rückweg abzuschneiden, den dieser bereits über die Speiseröhre angetreten hatte. Verzweifelt versuchte er, sich zu beruhigen.

Die Eindringlinge waren auf jeden Fall gut organisiert. Etwa eine osteuropäische Gang? Was war mit Sarah?

Endlich hatte er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Ich brauche mein Handy … es liegt auf der Ablage neben der Eingangstür.

Auf Zehenspitzen schlich Konstantin die Stufen hinauf ins Erdgeschoß und kroch auf allen vieren so lautlos wie möglich in Richtung Haustür. Der Lichtkegel seiner Lampe wanderte über die Holzbeine der Garderobe, den rot-blauen Läufer, mehrere Paare Sportschuhe unter dem Vorhang zum begehbaren Schrank, den Schirmständer …

Moment mal … zurück … mehrere Sportschuhe?

Mit offenem Mund starrte er auf die korrekt gebundenen Schnürsenkel und die mit Jeans bekleideten Beine, die aus diesen Schuhen herauswuchsen. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die Taschenlampe fiel aus seiner Hand, rollte auf die Eindringlinge zu und wurde von einem der Schuhe gestoppt. Angst stahl Konstantin die Worte von der Zunge.

„Alles klar“, ertönte eine kräftige Männerstimme, „Sicherung rein, Licht an!“

Konstantin schloss geblendet die Augen. Blinzelnd erkannte er mehrere von Horrormasken verhüllte Kreaturen, die einen Kreis um ihn bildeten. Die Gestalt vor ihm hielt eine Axt in der erhobenen Hand. „So, jetzt bist du fällig, mein Freund!“ Die stählerne Schneide des Werkzeugs blitzte im Schein der Lampen auf.

Ein Anderer nahm die Maske ab und Konstantin erkannte das Gesicht von … Felix.

„Happy Halloween, mein Freund.“

Nach und nach entledigten sich alle Vermummten ihrer Masken und klopften dem fassungslosen Opfer auf die Schulter. Schließlich erschien Sarah mir einer Torte, auf der die liebevoll drapierte Zahl 40 thronte.

„Herzlichen Glückwunsch zu deinem runden Geburtstag, Schatz. Und später möchten wir mit dir zusammen einen Film anschauen. Du darfst auch aussuchen, welchen.“

Als alle in schallendes Gelächter ausbrachen, ließ Konstantin sich auf den Rücken fallen, schüttelte den Kopf und schlug die Hände vor das Gesicht. „Das darf nicht wahr sein!“