Von Karl Kieser

Ich bin, wie immer, der Letzte in der Firma. Warum auch nicht. In meiner Wohnung erwartet mich niemand und ich liebe meine Arbeit. Es gibt nichts, was ich mehr liebe.
Nur manchmal sehne ich mich nach einem „normalen“ Leben: Frau, Kinder, Familie eben.
Aber ich mache mir keine Illusionen. Bei meiner Gestalt hatte ich nie eine Chance für ein normales Leben. Der Rumpf ist viel zu kurz für den Rest. Es sieht aus, als wäre ich in der Mitte zusammengeschrumpft.  Schon als Kind haben sie mich nur den Gnom genannt. Wachstumsstörungen, Gendefekte. Nach den Prognosen der Ärzte müsste ich schon lange tot sein.
Im Laufe der Zeit ist nichts besser geworden. Seit ein paar Jahren habe ich es mir in meinem Rollstuhl bequem gemacht. Die Firma hat einiges investiert, um mir meinen Arbeitsplatz zu sichern. Es tut gut, zu wissen, dass man auf mich nicht verzichten will. Trotz aller Schwierigkeiten. Es gibt ja so viel, was in meinem Körper nicht oder nicht gut funktioniert. Immer wieder passiert etwas, das meine Lage verschlimmert.
Mein Hirn ist die Ausnahme. Hellwach und von den normalen Problemen des Alltags heillos unterfordert, stürzt es sich begierig auf jedes ‚unlösbare‘ Dilemma. Ich bin der Troubleshooter für jedwede Schwierigkeit. 

Die ruhigen Abendstunden sind erholsam. Niemand stört mich oder will etwas von mir wissen. Keiner, der neue, vorrangige Schwierigkeiten bei mir ablädt. In absoluter Ungestörtheit kann ich mich den verbliebenen Aufgaben des Tages widmen. Denn Komplikationen sind mein Geschäft. Nicht nur für firmeninterne Probleme. Inzwischen werden meine Fähigkeiten deutschlandweit vermarktet.
Bei meiner letzten Aufgabe heute geht es um das erst kürzlich hoch versicherte Leben eines Mannes. Die Begleitumstände seines Todes sind verdächtig. Die stets misstrauische Versicherung will von mir überprüfen lassen, ob es sich um Selbstmord handeln könnte.
Der Mann lebte allein und wurde in einem von innen verschlossenen Zimmer gefunden, alle Fenster verriegelt, keine Einbruchspuren.
Die Obduktion ergab Herzinfarkt, kein Fremdverschulden, keine nachweisbaren Gifte in seinem Körper, aber diverse Vorschädigungen. Der Herzinfarkt war keine große Überraschung.
Aber warum war das Zimmer von innen verschlossen? Warum wollte der Mann ungestört sein? Seine Familie lebt weit verstreut in der Republik. Niemand konnte sich erinnern, dass er jemals sein Zimmer abgeschlossen hätte, in seinem eigenen Haus, das er inzwischen allein bewohnte.

Es gibt nicht viel, was mir für die Prüfung zur Verfügung steht. Der Autopsiebericht und die Schilderungen seines Hausarztes helfen mir schließlich zu einer schlüssigen Erklärung. Bei der speziellen Form dieses Herzinfarkts kann es im Vorfeld durchaus zu einer Unterversorgung des Gehirns kommen und als Folge davon zu Verwirrtheitszuständen, Halluzinationen, Panikattacken. Unser Gehirn ist nun mal die Schaltzentrale für alle Körperfunktionen. Wir wissen doch, welch irreale Ängste unser Denkapparat uns vorgaukeln kann. Träume, Albträume vor allem, sind nur ein Beispiel. Bei einer Unterversorgung, wenn Teile in dem empfindlichen Netz der neuronalen Verbindungen ausfallen, liegt auf der Hand, dass das Ergebnis chaotisch sein kann.
Vermutlich war der Mann einfach wahnsinnig vor einer unbegründeten Angst und hat sich deshalb in seinem Schlafzimmer eingeschlossen. Wahrscheinlich hat er in seiner Verwirrtheit nicht einmal mehr gewusst, wie er telefonisch um Hilfe rufen kann, bevor sein Herz endgültig aufgegeben hat.
Diese Erklärung lässt sich auch mit Fallbeispielen untermauern. Nachweisbar ist sie nicht mehr. Die Leiche wurde schon vor Tagen verbrannt.
Aber die Versicherung soll ruhig zahlen. Ein Suizid ist unwahrscheinlich und durch nichts zu begründen.

Es ist spät geworden. Zufrieden mit meinem Tagewerk lehne ich mich zurück. Es wird Zeit für den Feierabend. Draußen ist es schon stockdunkel.
Das ganze Wochenende liegt vor mir. Zwei Tage Langeweile ohne interessante Probleme. Kriminalromane sind keine Herausforderung für mich. Einen logisch aufgebauten Tathergang habe ich schnell durchschaut. Bei den anderen Storys sind die Konflikte so abstrus und unglaubwürdig, dass ich mich weigere, für diesen Unsinn meine Zeit zu opfern. Sogar Sudoku der höchsten Schwierigkeit sind kein Ersatz für die Herausforderungen, die das wahre Leben täglich auf meinen Schreibtisch spült.

Ich lösche das Licht und rolle aus meinem Büro. Die Bewegungsmelder auf dem Gang sorgen augenblicklich für Helligkeit. Es gehört zu meinen täglichen Ritualen, den Rollstuhl mit einem einzigen kräftigen, wohl dosierten Schub an den Handreifen genau bis zur Lifttür am Ende des Ganges zu bringen. Diesmal geht das gründlich daneben.
Nach nur einem Meter stanzt die Fußraste eine hässliche Kerbe in den Putz der linken Wand und ich werde beinahe aus meinem Sitz geschleudert. Auch das Licht wird zügig weniger, als wenn jemand am Dimmer dreht. Mit einem finalen Flackern ist es endgültig aus. Um mich herum tiefschwarze Dunkelheit, nicht die kleinste Reflektion, obwohl das eigentlich unmöglich ist.
Habe ich in der Wand elektrische Einrichtungen verletzt? Unsinn! Es muss an mir liegen. Wie ist es sonst möglich, dass alle Lampen gleichzeitig ausfallen? Dieser totale Verlust meines Sehvermögens ist hoffentlich nur vorübergehend.
Aber wie ist es überhaupt zu diesem Crash gekommen? Blockiert etwas das linke Rad meines Rollstuhls? Habe ich versehentlich die Bremse eingerastet? Ich fummele an der Bremse. Die linke Hand ist seltsam taub. Sie macht nicht was sie soll.
Der plötzliche Druck in meinem Kopf, ist das etwa ein Schlagan

Was ist das für ein Grollen? Verhalten zunächst, aus tiefster Kehle. Aber die Bösartigkeit klingt schon durch.
Seitdem ich als Kind von einem Hund angegriffen und schwer verletzt wurde, habe ich panische Angst vor Hunden. Dieser hier muss riesig sein. Ich muss sofort zurück in den Schutz meines Büros. Der Rollstuhl ist störrisch. Was ist nur los damit? Ich bin doch bisher immer elegant durch die Gänge gekurvt. Das Knurren wird lauter. Die Bestie kommt näher. Ich kann mich nicht konzentrieren, werde immer fahriger. Versuche es vorwärts und rückwärts. Immer wieder stößt der Rollstuhl gegen die Wand. Wenn wenigstens das Licht funktionieren würde.
Die Bestie ist schon ganz nahe. Nur rotglühende Augen. Riesig, wie feurige Wagenräder. Ich kann ihren fauligen Atem riechen. Die erbarmungslose Wut in diesem Knurren treibt mir das Grauen tief unter die Haut. Dicker Speichel tropft von den Lefzen klatschend auf den Boden.

Oh Gott, niemand wird mir helfen können. Frühestens am Montag wird man meine zerfetzte Leiche finden.
Überraschend stößt der Rollstuhl gegen die Tür meines Büros. Endlich! Wo ist die Klinke. Verdammt, warum funktioniert das Licht nicht? Die Tür habe ich schnell offen, aber der Rollstuhl will nicht hindurch. Noch nie zuvor bin ich damit am Türrahmen angestoßen. Die Geräusche von geschundenem Holz nerven. Das ist mir jetzt scheißegal.  Ich habe den heißen Atem der Bestie im Nacken. Sie wird mich gleich packen. Ich muss durch diese Tür.
Jetzt! Eine wilde Bewegung mit dem Ellenbogen, um die Tür zu schließen. Zu früh. Das Türblatt kracht gegen den Rollstuhl. Schnell jetzt. Hoffentlich ist das Vieh noch nicht im Raum. Neuer Versuch. Endlich schließt die Tür das Geifern der Bestie aus. Aber ein schwerer Körper kracht von außen dagegen. Scharfe Krallen fetzen über das Holz. Mein Gott, wenn er die Klinke trifft, dann bin ich verloren. Ich ramme den Rollstuhl gegen die Tür, aber das wird mich auch nicht retten. Ich muss die Klinke sichern. Hochbinden, damit sie von außen nicht heruntergedrückt werden kann. Der lange Seidenschal den ich immer trage. Mehr habe ich nicht zur Hand. Ich finde das Ende auf meinem Schoß. Das Regal neben der Tür. Das müsste klappen. Den Querholm erreiche ich nicht im Sitzen. Muss aufstehen, obwohl meine Beine mich schon lange nicht mehr tragen wollen. Jetzt muss es aber gehen. Nur der rechte Arm hat noch Kraft. Warum macht der linke nicht mehr mit? Die rechte Hand verzweifelt in das Regal gekrallt, kann ich mich hochziehen. Das linke Bein ist tot, wie abgeschaltet. Auf einem Bein, in der absoluten Dunkelheit und immer neuen Angriffen auf die Tür, versuche ich, den Schal zu verknoten. Die Hände arbeiten nicht zusammen. Mein Gott, ich bin doch sonst nicht so ungeschickt. Endlich scheint es zu halten. Erschöpft und erleichtert lasse ich mich in meinen Sitz zurückfallen. Noch in der Bewegung bemerke ich, der Rollstuhl ist nicht mehr unter mir, muss sich nach hinten verschoben haben. Es knackt, als ich hoch über dem Boden nur von dem Schal gebremst werde, der noch um meinen Hals gewunden ist.

Ganz kurz wird es noch einmal hell in meinem Kopf für einen letzten Gedanken: Wird meine eigene Lebensversicherung zahlen oder wird sie sich mit Suizid herausreden?

V2