Von Yvonne Tunnat

Ich halte zwei Finger hoch. Marita schaut mich an und hebt die Brauen. Mit dem Kopf nicke ich in Richtung des gläsernen Kühlschranks hinter ihrer Theke. Von hier aus sehe ich wie die Tropfen von den kühlen, grünen Flaschen abperlen.

Marita grinst und schüttelt den Kopf. “Du musst schon mit mir sprechen, wenn du was von mir willst.”

„Zwei Bier bitte!”, sage ich. Sie lacht so sehr, dass ihre Mundwinkel schon den halben Weg zu den Ohren hinter sich haben.

„Siehste, geht doch!“, antwortet sie und entfernt schwungvoll die silbernen Kronkorken. Trotz der Musik von der Tanzfläche her bilde ich mir ein, es zischen zu hören, und sehe im hell beleuchteten Thekenbereich den kalten Dampf, der beim Öffnen entweicht. Ich nehme die beiden Flaschen, mache einen Schritt zum Ausgang, doch sie hält meinen Arm fest. Mist. Ich drehe mich zu ihr, die geöffneten Biere zeigen noch zur Tür.

„Leon…der Kühlschrank…könntest du ihn wieder an die Wand rücken?“

Ich stelle die Biere auf den Tresen. Mit zu viel Schmackes: Aus dem rechten schäumt es jetzt. Das werde ich nehmen, ist ja meine Schuld. Der Durchgang vom öffentlichen Bereich des Clubs zum Inneren des Tresens ist für mich so eng, dass ich das Holz an der Jeans schrammen spüre. Marita gibt mir Anweisungen: “Näher an die Wand, noch ein Stückchen nach rechts, nein, warte, nicht so sehr, wieder etwas nach links.” Sie steht direkt davor, der Kopf schräg gelegt, das rechte Auge zugekniffen. Hinter dem Tresen stapeln sich die Clubgäste und wedeln mit ihren Geldscheinen. Einige sind so durstig, dass ich regelrecht zu sehen glaube, wie ihre Zungen ausgetrocknet heraushängen.

Marita stemmt ihre Hände in die Taille und ruft: „Jessi, Schätzchen, meinste, das passt so?“

Jessica schneidet Zitronen. Mit dem Rücken zu uns. Sie ist so weit entfernt, sie könnte ebenso gut in einem anderen Raum sein. Marita ruft mehrmals, erst dann wirft Jessica kurz einen Blick zum Kühlschrank, nickt, murmelt etwas und macht weiter.

„Na jetzt sach mal!“, fordert Marita und zieht sie am Arm zum Tresen, damit Jessica den Schrank von vorn anguckt. Sie hat sogar das Messer noch in der Hand, nur ihr Kopf ist zum Kühlschrank gerichtet, flüchtig, der Rest ihres Körpers zeigt noch zu ihrem Schneidebrett. Als wäre ein Gummiband zwischen ihr und ihrer Aufgabe. Lass sie frei!, denke ich. 

„Ist gut so“, antwortet Jessica. Endlich darf sie zu ihren Zitronen zurück. Maritas Nicken deute ich als Freilassung und trage endlich die Biere raus. Zu Daniel, bevor diese verflixte Kellnerin auf neue Ideen kommt, um mich bei sich zu behalten.

„Danke.“ Daniel leert die Hälfte des Becks in einem Zug. “Die gute Marita.”

Er beäugt mich: “Oder hast du das Bier von Jessica?”

Ich brumme nur.

“Vorgestern hat sie doch mit dir gesprochen.”

Wenn ich eine Weile nachdenken würde, könnte ich die Worte zählen, die sie zu mir gesagt hat. Oder vielmehr in meine Richtung. Waren es mehr als zehn? “Aber du würdest dich gern mal mit ihr unterhalten.” Er bewegt vor und nach dem Wort “unterhalten” seinen Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand, als würde er Gänsefüßchen machen, und schaut mich forschend an.

“Wenn du mich was fragen willst, frag!”, sage ich. Wir sind hier doch nicht im Kindergarten. 

“Du liebst sie”, sagt er, statt einer Frage. “Von Anfang an. Sofort. Du hast auch nicht damit angefangen, sie hübsch zu finden, verliebt zu sein, oder so etwas, nein, du hast das alles einfach weggelassen und bist gleich übergegangen zu Liebe. Du liebst sie.”

Daniel analysiert also nicht nur Filme, sondern auch mich. Ich denke an Jessica, von der ich meist nur den Rücken sehe. Weil sie schnell an uns vorbei huscht, jeden Abend. Sich ein wenig kleiner macht, als sie sowieso ist. Wie konzentriert sie stets arbeitet. Wie wohl sie sich fühlt, wenn sie eine klare Aufgabe hat. Wie unwohl mit Menschen. Ich stelle sie mir vor und spüre eine kleine Wärme in meiner unteren Bauchgegend. So als ob ein Grill langsam aber sicher anfängt, Hitze abzustrahlen bis dahin, wo man mit seinem ersten Bier darauf wartet, dass man endlich die Steaks drauflegen kann. Das habe ich mir bisher nie in so klaren Worten überlegt, aber es stimmt. Ich liebe Jessica. Hätte lange nicht gedacht, dass nach Isa mal wieder jemand kommen würde. Ich schaue Daniel direkt in die Augen und nicke.

Er klatscht in die Hände und strahlt mich an. “Wusst ich’s doch!” Er nimmt sein Becks, das er auf das Fensterbrett abgestellt hat, und trinkt den Rest aus. “Na, also, was wirst du machen?”

Wieso sollte ich ausgerechnet jetzt etwas unternehmen, nur weil er es mal laut ausgesprochen hat? Für mich hat sich doch überhaupt nichts geändert!

“Ich meine, du könntest sie ja mal einladen!”

Ich nippe an meinem Bier. Es kommen neue Gäste: Drei Frauen und drei Handtaschen. Wir nehmen uns jeder eine Tasche vor. Die Frauen sehen stocknüchtern aus. Nicht in Club-Stimmung, sondern so, als wären sie auf dem Weg zu einem Buchclub, in dem die Glasglocke besprochen werden soll. Die erste Tasche, die ich untersuche, ist gefüllt, als hätten sie eben Douglas überfallen. Riecht leider auch so.

Daniel unterbricht unser Gespräch nicht. Typisch. Er hört ja sonst auch nicht auf, weiter über einen Film mit schwulem Fußballclub zu berichten, während er einen einsneunzig großen Clubgast zwischen den Beinen abtastet.

“Vielleicht mag sie dich ja auch”, sagt er, und die Frauen mustern mich gründlich. Ich gebe die erste Tasche zurück, nehme die zweite entgegen. Die riecht zwar besser, was drin ist, ist allerdings bereits zu einer Einheit verklebt und will nun auch meine Finger.

“Ich meine, klar, Brad Pitt bist du nicht”, fährt Daniel fort. Die Frauen schauen abwechselnd zu ihm und zu mir. Wie beim Pingpong. “Aber mehr als fünf, zehn Kilo zu viel hast du bestimmt nicht.” Alle drei betrachten meinen Bauch. “Das stört sie vielleicht gar nicht. Wenn du frisch rasiert bist, siehst du doch ganz nett aus.”

Drei Augenpaare mustern mein unrasiertes Kinn. “Oder etwa nicht?”, fragt Daniel die Frau, der er nun die Tasche zurückgibt.

“Hm, na ja, ist schon ok, aber du bist niedlicher”, sagt die doch glatt zu ihm. Er lächelt. Meistens mögen ihn die Frauen ja nicht. Wenn aber doch, warten sie zur Not auch bis sechs Uhr, nur um von ihm mitgenommen zu werden. Was er dann mit ihnen anstellt, scheint entweder nicht gut genug oder zu einmalig zu sein, jedenfalls tauchte keine  je wieder auf.

“Bist du noch hier, wenn wir später hier wieder rauskommen?”, fragt sie ihn.

Er nickt: “Natürlich. Wir bleiben bis zum Schluss. Zum Fegen.”

Sie betreten den Club, die Frau, deren Tasche Daniel untersucht hat, dreht sich noch kurz zu ihm um. Er hat tatsächlich etwas. Einen New Yorker Mafia-Charme, und das, ganz ohne etwas mit organisiertem Verbrechen zu tun zu haben. 

“Ich meine, wann hattest du denn bitte das letzte Mal eine Frau?”, fragt er mich. Nichts seit Isa. Die Jahre sind im Zölibat vergangen, ganz ohne, dass ich mir das vorgenommen hätte. Ich zucke die Schultern und trinke das Bier zu Ende. Daniel bohrt nicht länger. Für heute bin ich entlassen.

Später nimmt ihn die Frau mit der Handtasche tatsächlich mit. Es ist schon so früh am Morgen, dass er Feierabend machen kann, es reicht, wenn einer von uns hier bleibt. Ich gehe rein, helfe Marita und Jessica beim Aufräumen. Flaschen und Gläser einsammeln, den Rest macht die Putzkolonne. 

“Ich muss weg, ich schlaf’ im Stehen ein”, sagt Marita. Wir nicken ihr zu, sie verschwindet. Jessica arbeitet effizient und macht auch bei schalem Bier oder sauer gewordenem Orangensaft keine spitzen Finger. Ich sehe ihren Rücken an, die erstaunlich kräftigen Schultern, den kaum merkbaren Speck, der sich unter und über dem BH abzeichnet. Ein richtiger, lebendiger Mensch. Jessica ist lebendig, das macht erst der BH-Speck mir so richtig deutlich. Von Isa war zuletzt so wenig übrig, dass unter ihrem Kinn eine regelrechte Kuhle war. Jessica wird nicht morgen sterben. Oder nächste Woche. Wir heben gemeinsam eine Bierkiste an, ich rieche ihren Atem. Er riecht nach Zitronen. Jessica wird auch morgen hier sein. Dann Freitag. Die ganze Woche. Nächsten Monat. Mein Bauch fühlt sich jetzt so an, als hätte ich gerade eine große Portion heiße Kürbissuppe verputzt. Nicht vollgestopft, sondern wohlig, genau richtig.

“Ist gut, Jessica”, sage ich. “Mach Feierabend! Wir sehen uns morgen. Abschließen kann ich ja auch. Ich mach heute das Licht aus.”

 

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