Von Maria Lehner

Urlaub auf der Insel. Ausgerechnet auf der. Kalt ist sie und unwirtlich. Mama ist auf Fotomotivsuche, Papa recherchiert für einen Zeitungsartikel. Birgit sucht nach Kegelrobben. Piet ist niedergeknüppelt von Langeweile. Seine Denkschleifen „Nicht einmal eine Club-Disco haben die!“ und „Was für ein Scheiß-Urlaub!“ verkeilen sich ineinander zu einer abwärtsführenden Spirale. Wenigstens Sprühfarbendosen gibts im Dorfladen. Zum Sprayen nutzen Jugendliche hier offenbar die Nischen in den alten Hafenmauern. Eine verlassene Gegend. Er arbeitet kauernd und ohne Schutzmaske. Ein Sprühknopf geht ab und fällt innerhalb der verwinkelten Nischen zu Boden.

 

Piet taucht mit den Händen in einen seichten engen Mauerschacht. Er ertastet Laub, Federn, Kaffeebecher, ein Stück Karton, außerdem weiche und glitschige Dinge (man will es nicht wissen…). Er rümpft die Nase, zieht automatisch die Oberlippe kraus, dreht den Kopf weg und kneift die Augen zusammen: okay, da ist der Sprühknopf – und etwas wie eine Flasche, in mehrere Lagen Stoff gewickelt. Piet holt das Bündel hervor und wickelt es aus. Die Flasche ist schmuddelig und wohl alt; er reibt daran herum, der Siegellack bröckelt und geht ab, zwei Papierrollen, die eine mit der anderen umwickelt, holt er vorsichtig heraus. Ey! Doppel-Flaschenpost!

 

*****

 

Er wickelt vorsichtig die obere der beiden Rollen auf. Das Papier ist vergilbt. Die Schrift ist ein zackiges und zum Erbrechen korrektes Auf-und-Ab, alles gleichmäßig nach rechts geneigt. Uralte Leute, erinnert er sich, können so etwas lesen. Er streift ziellos umher und spricht Leute an. Ein älterer Herr lächelt ihn freundlich an, setzt die Lesebrille auf und entziffert die verblichene aber noch gut lesbare Botschaft:

 

„Heute ist der 16. Oktober 1939. Als Geometer habe ich, Paul Korn, bei Vermessungsarbeiten im Schatten eines Sanddornstrauches Rast gemacht. Die Zweige hielten eine Flasche umklammert. Sie war innerhalb von Jahrhunderten eingewachsen, ist hier geschützt und nun Teil des Strauches geworden. Ich habe sie dem Baum vorsichtig entwunden und die Versiegelung gelöst.

 

Die Botschaft hat mich berührt und beweist mir einmal mehr, dass das gigantische militärische Bauprojekt unseres Führers im Tausendjährigen Reich von hoher Wichtigkeit ist. Das „Projekt Hummerschere“ erweitert zum Nutzen des Deutschen Volkes die Bodenfläche der Insel durch Sandaufspülungen, Trockenlegungen und Betonmolen auf ein Fünfzehnfaches ihrer ursprünglichen Größe. Wir sind zielstrebig und leben in großen Zeiten. Einen mächtigen eisfreien Hafen bauen wir, der die ganze deutsche Nordseeflotte aufnehmen wird und Raum für einen Flugplatz bietet. Dies ist der hehren deutschen Idee würdig und ich bin stolz, dazu beitragen zu können. Die Natur muss weichen, um der Volksgemeinschaft Lebensraum zu bieten, auf dass nie mehr bedauernswerte Unglücke wie das in der ursprünglichen Flaschenpost Geschilderte entstehen. Die Flasche wird von mir neu versiegelt und hier abgelegt, auf dass sie in einer glücklichen Zukunft gefunden werde.“

 

Piet ist enttäuscht: „Blöder Nazischeiß schon wieder! Kriegsdreck! Und den Flughafen haben sie damals auch nicht gebaut, oder?“

 

„Aber immerhin,“ beruhigt ihn der nette ältere Herr, „eine Flaschenpost in der Flaschenpost. Und was seither alles geschehen ist! Man hat schon 1941 aufgehört, an dem Projekt zu arbeiten und hat nach Kriegsende 1947 die größte Sprengstoffladung aller Zeiten gezündet. Die gewaltigste nicht-atomare Explosion hat die Insel erschüttert. Sie haben sogar eine Vor-Explosion gemacht, um die Vögel zu vertreiben. Der Rauchpilz soll tausend Meter emporgestiegen sein“.

 

Davon hat Piet noch nicht gehört, zumindest hat er was zu erzählen. Vielleicht wird er das posten.

 

„Eine Trümmerwüste“ erzählt der Lehrer weiter, „Es gab Krater, ein Stück Steilküste ist abgestürzt, aber die Insel stand noch. Die Hafenmauer soll damit einer der wenigen noch erhaltenen Teile sein. Klar, dass du dort die Flasche gefunden hast – aber es grenzt an ein Wunder, dass sie ganz geblieben ist, wahrscheinlich durch die Tücher, in die sie eingewickelt war“. Der alte Herr überträgt nicht nur den Brief des Paul Korn, sondern auch den Text der innersten Rolle in gut leserliche Schrift und moderneres Deutsch. Piet schaut geduldig zu und wickelt das Ganze als dritte und vierte Schicht über die zwei ineinander gerollten Rollen. Das ist gar nicht so einfach.

 

Der Mann sagt: „Geh sorgsam um mit deinem Fund, er ist kostbar, gehört in ein Museum und du wirst sicher auf einer Tafel als Finder genannt“.

 

Piet beschließt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Morgen hat Birgit Geburtstag. Er sprüht an die Hafenmauer einen Dschinn, der aus einer Flasche herausdrängend zwei Papierrollen hochhält, macht ein Foto, lässt es im Copyshop ausdrucken und schreibt auf die Rückseite „Happy BDay! Der Dschinn bei der Hafenmauer ist für dich. Achtung: Die Flasche kommt ins Museum. Dann wird unser Name auf einer Tafel genannt. P“. Gibt es ein originelleres Geburtstagsgeschenk, als dass jemand ein Graffiti und eine Flaschenpost bekommt?

 

 

 

*****

 

Birgit findet morgens ihr Geschenk – das Plakat und die Flasche – vor ihrer Tür (Piet hat´s nicht so mit „persönlich gratulieren“). Sie liest fasziniert, öffnet die Flasche, entnimmt ihr die Rollen ist fasziniert. Die innere Rolle, die ältere, ist heute, an diesem 1. August, 2021, genau 300 Jahre und sieben Monate alt:

 

„Am Abend des letzten Tags im Jahr 1720 und heute, dem darauffolgenden Neujahrstag 1721, war um 2 Uhr ein rechter Haupt-Sturm und hieselbst ein ungemein hohes Wasser mit solch grausamen Wellen, dass es auch einige Häuser und Buden bei Norden dem Lande wegspülte. Der Steinwall zwischen dem Lande und der Sanddüne riss durch und war beinahe ein ganz Jahr ein Loch darin, dass man allemal mit halber Flut mit Jollen und Schaluppen durchfahren konnte. Seit Jahrhunderten bedienen wir uns am Muschelkalk und Gips des Steilfelsens, um durch dessen Verkauf unseren Wohlstand zu mehren. In unserer Gier haben wir unser Leben verwirkt. Gott straft uns hart. Er stehe uns reuigen Sündern bei.“

 

Sie denkt an den Spruch „den Ast absägen, auf dem man sitzt“. Die Bilder, die in ihren Gedanken aufsteigen, zeigen verschreckte Frauen und Kinder, hart und konzentriert dreinblickende Männer, in den Fluten versinkenden Hausrat, zerbröckelnde Deiche. Sie hört Schreie der Angst und sieht Kleiderbündel wegschwimmen. Manches treibt schon in den Fluten. Vielleicht auch diese Flaschenpost, von einem verzweifelten Menschen abgesetzt…

 

Im Internet recherchiert sie: „Die Neujahrsflut von 1721 richtete an der Nordseeküste große Schäden an. Nach der Weihnachtsflut von 1717 zerstörte die noch höhere Neujahrsflut zahlreiche der zuvor notdürftig reparierten Deiche. Der Sturm war nicht so heftig wie bei den vorigen Fluten, hielt aber dafür länger an. Die Insel wurde infolge der Sturmflut von der Düne getrennt, als der Steinwall, die Landverbindung, überspült und abgetragen wurde. Einige Häuser auf dem Vorland wurden ins Meer gerissen.“

 

Im Museum der Insel liest sie Namen und Zahl der Umgekommenen. Ob die Verfasser der Flaschenpost überlebt haben?

 

 

 

*****

 

Wenigstens in eine Pizzabude gehen sie zu viert. Das sind sie dem Geburtstagkind schuldig. Dafür sehen sie sich sogar Muttis Fotos an: Robben, Piet mit alten Männern, Birgit aus dem Museum kommend, Vati im Gespräch mit Inselbewohnern, gestikulierend. Und dieses Graffiti, vor dem Piet nachdenklich steht, noch die Sprühdose in der Hand. (Vor Mama ist man nirgends sicher!) 

 

Langsam kommt eines zum anderen. Piet und Birgit erzählen stockend, durcheinander und in halben Sätzen. Aber im Erzählen werden sie immer begeisterter. Ein drittes Mal öffnen sie die Flasche und rollen das Geburtstagsplakat und die vier Papiere – die Notizen aus 1939 und das Schreiben aus 1721 und die jeweilige Verschriftlichung – auseinander.

 

Vati sieht beide mit großen Augen an: „Wisst ihr eigentlich, dass ich hier bin, weil ich vor Ort über das Inselprojekt schreiben will?“ Ja, sowas hatten sie sich gedacht. Warum sonst sollte man an diesen langweiligen Ort kommen? Es ist fast nie ein Zufall, wenn Vati ein Ziel „vorschlägt“. Und er erzählt seinerseits – irgendwie passt alles zusammen:

 

„Ein Bauunternehmer hatte bereits 2008 in Zusammenarbeit mit einer Technischen Universität einem Institut für Polar- und Meeresforschung einen Plan entwickelt, die nur wenige Meter tiefe Meeresstelle wieder mit Sand aufzufüllen. Eine Zusammenlegung der einen Quadratkilometer großen Hauptinsel mit der 0,7 Quadratkilometer großen Badedüne soll durch Aufspülung entstehen. Eine Aufspülung wäre für die Natur eine große Beeinträchtigung; Seehunde und Kegelrobben ziehen in der Düne ihren Nachwuchs auf. Und ich schreibe an einem Artikel darüber. Die Menschen müssen wachgerüttelt werden. Sie tun wieder einmal der Insel Gewalt an.“

 

*****

 

Einige Wochen später kann man – nicht nur in der Regionalzeitung – lesen:

 

„Die Insel bleibt, wie sie ist. Das ist das Ergebnis einer Abstimmung. Es braucht einen neuen, sozial- und umweltverträglichen Plan…“.

 

Den Zeitungen ist nicht zu entnehmen, ob der Flaschenfund irgendeine Bedeutung im Entscheidungsprozess hatte.

 

Version 3