Von Michael Voß

„Und, konnten Sie es öffnen?“, fragte der Archäologe.

„Ja“, sagte der Ingenieur und wies auf die beiden Hälften des metallenen, weinflaschengroßen Zylinders: „Wo, sagten Sie, haben sie das her?“

„Aus einer Zinngrube im Kongo. Es lag in einer bis dato unberührten Erdschicht.“

„Ah, deshalb glauben Sie, dass das Ding antik ist?“

Der Geowissenschaftler schaltete sich ein: „Der Tiefe des Fundortes nach ist der Gegenstand nicht antik, sondern prähistorisch.“

„Wie prähistorisch?“

„Gut einhunderttausend Jahre, plusminus.“

„Das widerspricht dem technischen Stand des Behälters. Schauen sie: Dieses Symbol hier ist eindeutig mit einem Laser graviert. Das Material ist eine hochlegierter Chrom-Molybdän-Stahl, eine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts“, sagte der Ingenieur bestimmt: „Gibt es wirklich keinen Hinweis auf eine Bohrung oder einen Tunnel, wodurch der Zylinder in die Tiefe gebracht wurde?“

„Nein. Weder am Fundort noch in seiner näheren Umgebung haben wir Hinweise auf menschengemachte Erdbewegungen gefunden.“

„Stellen wir diesen Punkt vorerst zurück“, brummte der Archäologe: „Hat jemand eine Idee, was das Symbol angeht?“

Die Sprachwissenschaftlerin antwortete: „Wir wissen es nicht. Es ist keine übliche technische Kennzeichnung, noch ein verbreitetes religiöses Symbol oder anderweitig bekanntes Zeichen. Wer unbedingt etwas hineinlesen will, findet Ähnlichkeiten mit dem einen oder anderen Zeichen aus diversen asiatischen Schriften, aber eben nur Ähnlichkeiten. Mein Fazit: keine Übereinstimmung zu irgendetwas Bekanntem. Immerhin hat es unseren Ingenieur auf die Idee gebracht, einen Magneten an die Stelle zu halten, wodurch eine Verriegelung im Inneren gelöst wurde und sich der Behälter öffnen ließ.“

„Nun, wenn zu dem Zeichen niemand hier eine Erklärung hat: Was ist mit diesem Glasstreifen, der in der Dose aufbewahrt wurde? Was kann das sein?“

„Was das angeht, habe ich eine Vermutung“, sagte der Ingenieur: „Schauen sie den irisierenden Schimmer auf dieser Fläche hier an: Für mich sieht das aus wie die rechteckige Version einer CD.“

„So ein Quatsch!“, entfuhr es dem Geowissenschaftler.

„Wenn sie eine bessere Idee haben: Nur zu!“

„Äh – naja, also …“

„Gut“, sagte der Archäologe: „Wie kriegen wir raus, ob es wirklich ein optischer Datenträger ist? Und wenn ja, was da drauf ist?“

 

Nach zwei Jahren Forschungsarbeit an verschiedenen Instituten traf die erstmals die ganze Gruppe wieder zusammen.

„Wir haben eine gute Nachricht und eine, die uns, nun, sehr nachdenklich macht“, begann die Sprachwissenschaftlerin: „Die gute Nachricht vorweg: Es ist gelungen, den Datenträger auszulesen. Die Entwicklung des dafür notwendigen Gerätes verdanken wir unserem Ingenieur, der das binnen vier Wochen hingekriegt hat. Damit hatten wir die Daten. Nur konnten wir mit dem Code, übrigens binär, nichts anfangen. Immerhin: unsere IT-Fachfrau konnte daraus Zeichenfolgen extrahieren, deren wiederholte Muster mich zu dem Schluss kommen ließen, dass es sich um Buchstaben eines Alphabets mit dreiundzwanzig Zeichen handeln könnte. Mit Hilfe meines Teams und des Forschungsrechners unserer Universität gelang es uns, die Zeichenfolgen zu entschlüsseln. Wie ich vermutet hatte, ließen sich die Folgen mit keiner heute bekannten Sprache zur Deckung bringen. Die größte Ähnlichkeit gab es mit dem Lingala. Auf Basis dieser alten afrikanischen Sprache konnte ich die Zeichenfolgen übersetzen.“

Sie holte ein dickes, gebundenes Buch hervor.

„Hier ist der gesamte Text, eine Chronik weit zurückliegender Tage. Ich möchte Ihnen die ersten sieben Einträge vorlesen. 

 

Erster Tag: Wie durch ein Wunder haben wir die Notlandung auf diesem Planeten überlebt. Ein noch größeres Wunder ist, dass die Luft ungiftig und atembar ist, die Temperaturen gemäßigt sind und dass es Wasser in Hülle und Fülle gibt.

 

Zweiter Tag: Die Bestandsaufnahme ist niederschmetternd. Der kleine, im All herumfliegende Gesteinsbrocken, der unseren Weg kreuzte und den Antrieb zerstörte, hat auch die Kommunikationszentrale beschädigt.

 

Dritter Tag: Bei aller Schönheit ist diese Welt auch von gefährlichen Wesen bevölkert. Ein vierbeiniges, grün-geschupptes Ungeheuer hat unsere Mechatronikerin beim Baden mit seinen furchtbaren Zähnen gepackt und unter Wasser gezogen. Wir konnten sie nicht mehr retten.

 

Vierter Tag: Sämtliche Versuche, die Kommunikationszentrale zu reparieren, sind gescheitert. Wir können keinen Hilferuf mehr absetzen. Das bedeutet, dass wir hier auf unabsehbare Zeit festsitzen. Eine Welle der Verzweiflung hat die Besatzung überrollt. 

 

Fünfter Tag: Einige von uns haben die Suizid-Injektoren benutzt. Nachdem wir unsere Freunde beerdigt hatten, wuchs unsere Entschlossenheit, mit Hilfe der verbliebenen Schiffstechnik so lange zu überleben, bis ein Suchschiff uns hier findet.

 

Sechster Tag: Unser Navigator hat es berechnet: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir gefunden werden, tendiert gegen Null. Den ganzen Tag lang haben wir überlegt, wie man wohl ohne Technik jagt, Ackerbau betreibt, Kleidung herstellt, Häuser baut, Seife herstellt, Gefäße töpfert, Verbandszeug und Medikamente bekommt und anderes mehr. Ich als Biochemikerin habe die Aufgabe bekommen, alles potenziell Essbare auf Ungiftigkeit zu untersuchen.

 

Siebenter Tag: Am Morgen haben wir weitere Crewmitglieder beerdigt, die in der Nacht den letzten Ausweg gewählt hatten. Unsere Zahl ist beträchtlich geschrumpft, aber wir, die Zurückgebliebenen, sind voller Entschlossenheit. 

 

Habe heute Mittag eine wohlschmeckende, rot-gelbe Baumfrucht als gesundes Nahrungsmittel eingestuft!

 

Bin glücklich: In der Abenddämmerung haben Adam, unser Schiffsarzt, und ich, Eva, uns das Ja-Wort gegeben.

 

V2 

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