Von Marco A. Rauch

6:00 Uhr in der Früh. Ich öffne die Tür, setze mich auf den Fahrersitz und starte den Motor meines Sprinters. Ein lautes Gähnen entfährt meinem Mund, während ich den Rückwärtsgang einlege und aus meiner Parkbucht ausparke. Es ist noch dunkel draußen. Das brummige Nageln meines Antriebs ist das Einzige, das die idyllische Ruhe hier im Ländlichen unterbricht. Am Ortsausgang biege ich nach links auf die B4 und fahre kurz darauf auf die A3. Mein Weg führt mich von Nürnberg nach Weiden. Ein gutes Stück Fahrt, etwa 80 Minuten bis zu meinem ersten Patienten. Ich mag die morgendliche Ruhe, die langsam aufgehende Sonne, der ich auf meinem Weg Richtung Osten entgegenfahre. Ich mag die Autobahn um die Zeit. Auf der A3 ist meist etwas mehr los, aber spätestens auf der A6 wird der Verkehr immer weniger, je weiter ich nach Osten fahre.

Ich nehme einen Schluck aus meinem Thermobecher, den ich jeden Morgen frisch befülle. Grüner Tee mit Jasmin, so fein. Es ist dieses Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, das ich so liebe, wenn ich draußen unterwegs bin, die frische Luft einatme, meinen Körper spüre, wie er langsam munter wird. Wenn am Horizont die ersten rötlich-glühenden Streifen auftauchen, die ein Versprechen einlösen, das die Natur uns jeden Tag aufs Neue gibt. Ich bin Teil davon, Teil von ihr und ich bin Teil dieser Gesellschaft, der ich manchmal am liebsten eins auf die Nase geben würde und die an anderen Tagen so wertvoll und vielfältig erscheint. Es ist die Magie des Lebens, die ich spüre. Und es ist Dankbarkeit für die kurze Zeitspanne, die mir auf diesem wunderschönen Planeten geschenkt wurde. Frei von Trübsal lasse ich meine Gedanken fließen.

In Weiden fahre ich gleich über die Nebenstraßen. Nach ein paar Jahren kennt man die Stadt, kennt die Menschen und ihre Eigenheiten. Meine erste Patientin wartet schon. Sie schaut aus dem Fenster und winkt mir zu. Ich parke, winke zurück und gehe zu den Hecktüren. Bei ihr brauche ich den Treppensteiger, sie wohnt im zweiten Stock. Die Stufen gehe ich rückwärts hoch und ziehe den Wagen, wie wir ihn umgangssprachlich nennen, hinter mir her. Stufe für Stufe. Er wiegt mit Akku etwa 20 Kilo.

»Guten Morgen, Marco. Pünktlich wie die Maurer.« Sie lächelt mir zu und ich lächle zurück. Diese Worte sagt sie jedes Mal. Wir sind eingespielt, kennen uns schon ein paar Jahre. Sie leidet an Lungenfibrose, einer gemeinen Krankheit. Die Lungenbläschen, die den Sauerstoff aufnehmen,  werden immer weniger. Die Aufnahmekapazität der Lunge sinkt. Bei fortschreitender Krankheit bekommt der Körper immer weniger Sauerstoff bis … Lieber nicht daran denken.

»Guten Morgen, Annemarie. Hast du gut geschlafen?« Noch während ich auf die Antwort warte, gehe ich ins Wohnzimmer zum Sauerstoffbehälter, drücke auf die Digitalanzeige. Ein Fünftel ist noch drin, wie immer. Danach kontrolliere ich den Wasserbehälter, der das Kondenswasser aufnimmt. Natürlich hat sie ihn ausgeleert, die Gute.

»Du weißt doch, dass ich den ausleere. Das hast du mir bei der Einweisung und auch später immer wieder gesagt.« Sie lächelt. Ich freue mich, dass es ihr so weit gut zu gehen scheint.

»Das ist eine Berufskrankheit, ich mache das automatisch. Wäre der Becher nicht leer und ich würde den Sauerstoffbehälter auf meinen Wagen stellen und ihn kippen, hättest du die ganze Soße auf dem Teppich.«

»Es ist doch nur Wasser«, sagt sie und lacht.

»Ja, das sagst du. Ich habe andere Patienten, die einen Korkboden oder Parkett haben. Bei denen dürfte ich mir das nicht erlauben«, antworte ich mit einem leicht mahnenden Ton, doch ich muss auch lachen. Es ist jeden Montag das gleiche Gespräch, jeden Montag derselbe Inhalt. Es ist Routine für mich und Sicherheit für sie. Sie weiß, sie kann sich auf mich verlassen und ich weiß, dass sie es weiß. Und doch sehe ich die Dankbarkeit in ihren Augen. »Ich muss dich jetzt mal ein paar Minuten abstöpseln, ist das ok?«

»Klar, die paar Minuten schaffe ich«, sagt sie, zieht sich die Nasenbrille über den Kopf und hängt sie über den Sessel. Sie setzt sich und schaut mir zu, wie ich mit der schweren Fracht die Wohnung verlasse. Stufe für Stufe rolle ich die Treppe hinunter, hinaus zu meinem Sprinter. Ich öffne die Seitentüre, ziehe Kälteschutzhandschuhe und Schutzbrille an und fülle ihren Behälter wieder auf. Dabei schaue ich kurz in den Himmel. Die Luft ist so angenehm klar, ein schöner Morgen lächelt mir entgegen. Nach etwa sieben Minuten ist der Behälter voll. Ich prüfe die Anzeige, den Innendruck und bringe ihn Stufe für Stufe nach oben. Es sind 75 Kilo, die der Hubmechanismus meines Treppensteigers stemmen muss. Zurück in der Wohnung schließe ich den Schlauch wieder an und drehe den Durchflussregler auf 2,5.

»Die Flasche ist ziemlich schwer, oder?« Während sie die Nasenbrille über den Kopf zieht und die zwei Stöppel in die Nasenlöcher steckt, sehe ich sie schmunzelnd an. Flasche, es ist erstaunlich. Wir nennen das Behälter, es sind spezielle Cryobehälter, die in der Lage sind, Flüssigsauerstoff mit einer Temperatur von etwa -180 Grad über einen langen Zeitraum kalt zu halten. Würde man den flüssigen Sauerstoff freisetzen, würde er schlagartig in den gasförmigen Zustand wechseln. Viele Patienten sagen Flasche. Ich find das immer witzig. Irgendwer sagte auch mal R2D2, weil manche Behälter eine Ähnlichkeit in der Form aufweisen.

»Ja, ich hab dir schwere Post mitgebracht, sie steckt in der Flasche«, scherze ich und zwinkere. Zum Abschied drückt sie mir ein 2-Euro-Stück in die Hand und ich bedanke mich. Nächste Woche sehen wir uns wieder und alles beginnt von vorne. Bei ihr habe ich ein gutes Gefühl. Sie ist seit Jahren schon stabil bei 2,5, das sind 2,5 Liter Sauerstoff pro Minute. Ein gutes Zeichen.

Zurück im Sprinter starte ich den Motor und fahre ein paar Straßen weiter. Ich freue mich auf Hanna, wir kennen uns schon lange, viele Jahre. Sie ist eine ganz liebe, warmherzige und dankbare Frau, wie so viele. Und mit 55 ist sie noch recht jung. Die meisten unserer Patienten sind Ü60. Doch bei ihr mache ich mir Sorgen, sie musste über die letzten Monate kontinuierlich die Sauerstoffmenge erhöhen. Dazu kamen immer wieder Krankenhausaufenthalte. Mittlerweile hat sie fünf Behälter in der Wohnung stehen. Ich bin jeden Tag in einer anderen Richtung unterwegs, deswegen muss der Sauerstoff wenigstens eine Woche reichen. Die Erfahrung flüstert mahnend in mein Ohr, dass ich sie wohl nicht mehr allzu oft sehen werde. Seufzend steige ich aus, schnappe meinen Wagen und klingele an der Tür. Hanna wohnt im Erdgeschoss, dafür war ich dem Herrn immer sehr dankbar. Ob es ihn gibt? Wie oft ich mir die Frage gestellt habe. Manchmal, wenn ich Säuglinge oder Kleinkinder beliefern muss, frage ich mich schon, wo er wohl steckt. Was er so treibt. Und manchmal, wenn ich sehe, wie das ein oder andere Ekelpaket mit asozialer Weltanschauung 90 Jahre alt wird, während andere so sehr leiden müssen, verstehe ich die Welt nicht mehr.

Die Türe öffnet sich, Hannas Tochter sieht mich an. Ich muss schlucken. Diesen Gesichtsausdruck habe ich schon so oft gesehen. »Sie können alles mitnehmen, meine Mutter ist vorgestern verstorben.«

»Mein aufrichtiges Beileid, es tut mir sehr leid. Ich habe sie sehr gemocht, sie war eine liebenswerte und gütige Frau. Sie hat nun ihren Frieden gefunden.«

Die Tochter nickt stumm, doch ich sehe, wie sie mit den Tränen kämpft. Meine Worte klangen ehrlich, sie sind durch das häufige Benutzen einstudiert, automatisiert, wie Zähneputzen oder Schuhe zubinden. Es gehört dazu. Während ich nach und nach alles rausbringe, versuche ich bewusst Abschied zu nehmen. Zehn Minuten später verlasse ich ein letztes Mal jene Wohnung, in der ich viel gelacht habe über die Jahre und den ein oder anderen Kaffee getrunken. Manchmal ist das einfach so. Manche Menschen sind besonders, gehen einem nahe.

Als ich die Hecktüren schließe, läuft ein junger Mann an mir vorbei. Er hustet und hustet und zieht sofort danach an seiner Zigarette. Diesen Husten habe ich schon so oft gehört. Ich wundere mich, weil der Mann so jung ist. Und so dumm. Am liebsten möchte ich ihm nachrufen, dass er zum Arzt gehen soll und mit dem Rauchen aufhören. COPD ist kein Spaß. Ich sehe das Elend jeden Tag, sehe die Leute keuchen und japsen. Aber ich weiß auch, dass die Leute erst dann etwas ändern, zur Einsicht kommen, wenn es zu spät ist. Meistens. Oder zumindest oft genug. Ich seufze und denke: Wenn du uns brauchst, wir sind da. Anruf genügt.

Kopfschüttelnd steige ich ein, atme tief durch und schaue auf meine Liste für heute. Später muss ich einen neuen Patienten beliefern. Einen der Behälter von Hanna habe ich erst vor zwei Wochen bei ihr aufgestellt. Der kam frisch aus der Werkstatt. Den muss ich nur desinfizieren, dann bekommt ihn der neue Patient. Ach Hanna, dein Lachen wird mir fehlen. In Gedanken sehe ich sie vor mir, eine pummelige, kleine Frau mit braunem Haar und Brille, die eher gestorben wäre, als sich vom Husten das Lachen verbieten zu lassen. Ich muss laut lachen bei der Vorstellung, wie sie mit dem Tod diskutiert und ihn auffordert, mal zu lachen. So war Hanna. Lebenslustig bis zum Ende. Schmunzelnd drehe ich den Schlüssel, löse die Handbremse und fahre zum nächsten Patienten. Die Sonne lacht vom Himmel und auf den Straßen ist viel los. Menschen fahren zum Einkaufen, in die Schule oder zur Arbeit. Manche befinden sich im Frühling, andere im Sommer. Meine Patienten erleben ihren Herbst. Es ist der Kreislauf des Lebens, der immer weitergeht. So wie meine Flaschenpost.

 

***

»Man sagt, jeder Mensch, den du triffst, gibt dir etwas von sich. Und manche Menschen beindrucken dich so sehr, dass du auf ewig einen Teil von ihnen mit dir trägst.«

Hanna Perković *18.01.1966 – †04.09.2021

 

 

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