Von Rolf Breuer

Gestern bin ich mal wieder im Museum gewesen, also in meinem eigenen Lebensmuseum. Ja genau, wo alle die Sachen rumstehen, hängen, in Vitrinen stecken, die mit dem zu tun haben, was in meinem Leben passiert ist.

 

Und als ich da so vor mich hinschlendere, hierhin und dahin den Blick, viele vertraute Erinnerungsanker, komme ich an eine Ecke, wo ich lange nicht mehr war. Und da wurde es plötzlich merkwürdig. Mein Museum hat ja viele Räume, die ineinander übergehen und verwinkelt sind und mal übereinanderliegen, mal nebeneinander, mal hintereinander. Also auf jeden Fall kann man sich da ganz schön verlaufen, in meinem Lebensmuseum. Aber das kennen Sie ja wahrscheinlich von ihrem eigenen.

 

Jedenfalls biege ich also um die Ecke und stehe plötzlich vor einem Sandhaufen mit typischem angeschwemmtem Strand-Zubehör. War vermutlich damals an der Nordsee in Belgien, vor über 50 Jahren. Und halbverdeckt im Sand steckt eine Flasche, normale Größe wie eine Weinflasche, der Korken noch oben drauf, mit etwas Sand. Tja, und Sie ahnen es ja wohl schon: innen mehrere Blätter, total vergilbt, per Hand beschrieben, von außen nicht zu lesen. Also eine richtig typische Flaschenpost.

 

Aber das Merkwürdige dabei ist: Ich habe in meinem Leben weder eine Flaschenpost gefunden noch habe ich jemals eine losgeschickt, jedenfalls soweit ich mich erinnere. Vielleicht habe ich mal daran gedacht, wie das wäre, eine geheimnisvolle Flaschenpost vom anderen Ende der Welt zu finden. Vielleicht auch mal daran gedacht, selbst eine loszuschicken. Aber warum, wieso diese dann hier unter meinen Lebensexponaten?

 

Mein Hirn beginnt zu rattern. Vielleicht eine Botschaft? Von wo? Von wem? Sollte ich die Flasche öffnen? Geht das überhaupt? Habe ich ja noch nie gemacht mit meinen Exponaten – aber auch noch nie ausprobiert! Verändert man damit nicht sein eigenes Leben? Im Museum stammt doch alles von früher, von abgeschlossenen Ereignissen! Nicht korrigierbar!

 

Vorsichtig gehe ich auf den Sandhaufen mit der Flasche zu. Strecke meine Hand aus, es kribbelt am ganzen Körper. Soll ich oder soll ich nicht? Nein, ich tue es nicht. Der Belgien-Urlaub: Es war, wie es war.

 

Aber war die Flasche damals vielleicht doch am Strand angeschwemmt? Und ich habe sie nur im Unterbewusstsein wahrgenommen, aber war von etwas anderem abgelenkt. Wenn ja, von was?

 

Ja, klar, mir fällt es wieder ein! Der Tag, als ich alleine hinaus geschwommen bin, sicher 100 Meter vom Strand weg. Es ging so leicht.

Plötzlich kamen zwei Männer in einem kleinen stinknormalen Boot auf mich zu, haben mich angeschrieen, was ich aber nicht verstanden habe. Haben gestikuliert. Ich bin weitergeschwommen, aber dann kamen sie ganz nah mit dem Boot und haben mit einem Ruder nach mir geschlagen. Was sollte das denn? Zurück, ich sollte zurück zum Starnd schwimmen, haben sie mir gezeigt und mich schlussendlich mit dem Ruder zurückgetrieben, wie Vieh in den Stall.

 

Aber ich kam kaum voran, musste wie verrückt und zunehmend panisch kämpfen um jeden Meter Richtung Strand. Nach gefühlt zehn Minuten hatte ich endlich wieder Boden unter den Füßen, völlig erschöpft. Habe mich in den Sand fallen lassen und ganz, ganz langsam erholt. Allmählich dämmerte es mir: Ohne diese Viehtreiber, offenbar so was wie die Strandwacht, hätte mich die Ebbe ins offene Meer gezogen.

 

Ich bin jetzt sicher: Die Flaschenpost war damals wirklich dabei, lag in der Nähe im Sand, aber mein Kopf war mit dem Kampf gegen die Ebbe völlig ausgelastet. Was wäre wohl auf den Zetteln in der Flasche zu lesen gewesen? Vielleicht hätte sich Tolles, Neues, Verblüffendes für mich ergeben? Vielleicht mein Leben verändert, wäre damals vielleicht anders abgebogen?

 

Im Moment bin ich einfach nur froh, dass diese Flaschenpost in meinem Lebensmuseum steht. Und werde demnächst bestimmt mit anderen Augen durch die Räume gehen – es gibt sicher noch ganz viele Exponate, an die ich mich gar nicht erinnern kann, die aber trotzdem passiv mein Leben bestimmt haben.

 

Wie die geheimnisvolle Flaschenpost.

 

 

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