Von Bernd Kleber
Er nahm noch einen tiefen Schluck! Dann besah er die leere Flasche, löste vorsichtig das Etikett, wie er es so oft geübt hatte, drehte es um. Schrieb mit dem verbliebenen Stift: „Helft mir, ich bin allein!“.
Mit weitem Schwung holte er aus. Er musste Kraft aufbringen, damit die Flasche mit Botschaft nicht an diesen blöden Steinen zerschellte. Sie flog. Ihr Umriss zeichnete sich gegen den Abendhimmel ab, wie sie sich drehte und rotierte. Dann entschwand sie seinem Blick. Er hielt die Luft an, lauschte.
Entweder würde es nun einen klirrenden Schlag geben oder nur einen Plopp vom Aufprall auf dem Wasser.
Plopp!
Ein Wasservogel erschrak im Halbdunkel, hatte sicher schon gedöst und zeterte jetzt.
Dann erhob sich der Alte und wankte seiner Schlafstatt zu. Morgen würde am Abend erneut eine Flasche aus seiner Reserve entleert sein und er würde sie wieder nutzen, um seine Bitten ins jenseitige Wasser zu senden.
Die Nacht senkte sich vollends über die sich als Scherenschnitt abzeichnende Silhouette der umliegenden Natur. Ein Schnarchen erscholl.
Die Sonne wanderte an der Wolkentreppe munter hinauf, das Blau zu einem Coelin zu erleuchten. Lachte schadenfroh über alle, die unter der Hitze litten. Pflanzen, Tiere und unser Eremit. Schweißgebadet erhob er sich. Die Haare klebten an seiner Stirn, das Hemd am Rücken. Die Hose zerrte er mühselig aus der Falte seiner Pobacken. Er hatte das Gefühl, die Hose müsse ausgewrungen werden. Als er so auf seinem Eiland stand und sich umsah, stellte er fest, dass er die Fläche mit den Tomatentrieben dringend wässern müsse, wenn die Jungpflanzen überleben sollten. Mühselig hatte er aus einer der letzten Fleischtomaten die Samen extrahiert vor dem Verzehr, um sie dem Boden zu übergeben.
Er lief einige Schritte vor und versuchte über den Rand der Gewächse, das Wasser zu erspähen. Würde er die Flasche von gestern Abend dort schwimmen sehen?
Das Wasser lag trüb und träge, so weit er sehen konnte, obwohl der strahlende Himmel sich zu reflektieren versuchte. Der erblindete Spiegel reagierte matt und stur.
Einige Vögel schwammen aufgeregt hin und her, andere kreisten darüber in der sengenden Luft.
Er setzte seinen Strohhut auf, der an einigen Stellen Löcher aufwies. Die verbliebenen Flächen schützten tapfer vor der unbarmherzigen Glut.
Dann wendete er sich dem Quell des Süßwassers zu, hielt beide Hände darunter und schaufelte damit. Wasser floss über seinen Nacken, sein Gesicht, seine Brust. Kaltes Nass! Und eine Doppelhandschaufel beförderte kühle Flüssigkeit in seinen Mund. Er schluckte schnell und bemerkte erst jetzt den Brand, der vom Leeren der gestrigen Flasche stammte.
Er stützte sich auf seinen Stock und lief seine Einöde ab. Viele Schritte musste er dazu nicht machen. Die Ideen, die in seinem Kopf dabei entstanden, verwarf er so schnell wie brennende Papierseiten zu Asche verglimmen.
Später würde er ein Feuer entfachen, einen toten Vogel grillen, zerlegt in Beine, Flügel, Brust. Und schnell kam der Abend, nachdem die Sonne mit einem miesepetrigen Antlitz, die Wolken wieder herab gehangelt, an Brennkraft verloren hatte. Er rief ihr noch zu. „Verpiss dich, Alte. Du verdorrst alles um mich herum erbarmungslos. Mir ist lieber, du versteckst dich hinter Wolken!“
Als Reaktion war ein Heulen jenseits des Busches zu hören.
Ein kleines gebogenes Blechteil, auf einer Seite weiß emailliert, diente ihm als Feuerschale. Am trocknen Stroh entzündete er geschickt eine kleine Flamme, die er mit Spänen, Zweigen und später kräftigeren Ästen fütterte. Grauer Rauch stieg auf und wenn der launige Wind drehte und ihn anblies, musste der Alte husten. Manches Mal so heftig, dass ihm die Luft wegblieb.
Aus dem Kasten, der neben der Feuerstelle stand, entnahm er die letzte Flasche seines Vorrates und entkorkte sie mit einem Taschenmesser. Guter Jahrgang! Rotwein. Er setzte sie an und der erste Schluck rann durch seine Kehle, Wärme breitete sich in seinem Magen aus und das zittrige Gefühl im Körper verschwand schlagartig. Er setzte ab und holte tief Luft. Wenn die Sonne nicht schon fast hinter dem Horizont verschwunden wäre, hätte sie ein kleines Lächeln in dem runzligen Gesicht des Trinkenden erkennen können.
Plötzlich huschte vor dem Alten ein Langohr über die vertrocknete Wiese. Die Horchlöffel schaukelten. Das Tier blieb sitzen, wackelte mit der Nase und blickte, ohne den Kopf zu drehen zu dem Alten hinüber. Der dachte: ‚Geh ‘rein, du blödes Vieh!‘ und spuckte aus, als das hellbraune Fellbündel weitersprang.
Das Fleisch tropfte nun in die Flammen und immer wenn der Saft auf Glut traf, zischte es drohend. Der Duft zog wie eine kleine verführerische Wolke über das Gelände. Dem Alten lief das Wasser im Mund zusammen. Er wusste jedoch, er müsse noch ein wenig warten, damit er mit seinen drei Zähnen das Fleisch in kleinen Fasern leicht vom Knochen abziehen könnte. Seine Augen leuchteten nun, da sich die Flammen darin spiegelten. Seine Lippen waren benetzt mit roter Flüssigkeit, die am Bart hinab sabberte.
Er besah sich seine dunklen Fingernägel, seine schmutzigen Hände und wischte sie an seiner Hose, von einem Brummen begleitet, ab. Dann spuckte er wieder. Manchmal bildete er sich ein, Rufe zu hören. Das waren sicher Halluzinationen. Wieder nahm er einen tiefen Hieb aus der Flasche. Musste ein wenig husten. Setzte ab und wischte mit dem Ärmel der Jacke seinen Mund ab. Dabei schlürfte er genüsslich das Aroma durch die drei Zähne.
Der Vogel schien nun gar genug zu sein und der Mann griff nach dem ersten Schenkel, den er fluchend fallen ließ. Zu heiß war der Knochen, an dessen Spitze er vorsichtig zugegriffen hatte. Verschätzt!
Das Bein fiel vor ihm ins Gras. Er wartete einen Augenblick, wedelte zwei tanzende Wespen davon. Er starrte das geröstete Gewebe des Tieres an, sinnierte über die Nahrungskette. Dann griff er erneut zu.
Der erste Biss in das Fleisch war tief und genussvoll. Vergessen war, dass er keine geschlossene Zahnreihe hatte und musste nun ein wenig zerren und reißen, um das angebissene Stück aufzulösen. Im Mund bewegte er die Kiefer aufeinander, die Zahnstummel rieben das zarte Fleisch, er speichelte es genüsslich ein und lutschte und schmatzte und zermalmte die Fasern und er grinste breit. „Das lass ich mir gefallen! So lässt sich leben!“, rief er dem glänzenden Sensenblatt zu, das nun am Himmel Posten bezogen hatte. Nachtwache!
Endlich war alles aufgegessen, aufgelutscht, nur noch die Glut glomm im Steinkreis der Feuerstelle und der letzte Schluck Wein war in der Flasche zu vernichten. Er fixierte die Neige, schniefte kurz, setzte die Flasche an, ließ die Pfütze in seinen Rachen laufen, schluckte ihn schließlich grunzend hinunter. Dann löste er wieder einmal das Etikett, schrieb darauf mit dem alten Filzstift: „Niemand kümmert sich um mich!“.
Das Schild mit der schönen Goldkante steckte er in den Glaskörper, verkorkte die Flasche und erhob sich. Mühsam stellte er ein Bein aus, stemmte sich auf seinem Knie ab, nahm ächzend Schwung und schaukelte sich mit ein, zwei, drei Bewegungen auf. Dann torkelte er zu dem Rand seiner Ödnis.
Die Mondsichel beschien alles metallisch klar. Das Wasser glitzerte in dem Licht wie flüssiges Silber. Einige Vögel trieben auf ihm, die Köpfe ins Gefieder gesteckt. Mücken tanzten über seinen Kopf und summten ein hungriges Lied. Der Eremit nahm Schwung, die Flasche am Hals gegriffen, wie ein Olympionike seine Keule bewegen würde, und warf in hohem Bogen seine Post in das Wasser. Die Flasche war sicher geführt. Plopp!
Der Alte seufzte, sah dem treibenden Gefäß zu, wie es in hüpfender Bewegung schwamm und sank.
Dann drehte er sich um und torkelte zu seinem Lager. Morpheus küsste ihn und er fiel in einen tiefen schnarchenden Schlaf.
Am nächsten Morgen, als er tief Luft ziehend, gleich einer Schnappatmung erwachte, dass ringsum alle Tauben aufflogen, sah er sofort, dass vor seiner Lagerstatt etwas verändert war.
Gleich Robinson, als der die ersten Spuren Freitags sah, schoss er erschrocken auf und torkelte eilig auf das Entdeckte zu. Eine Flasche! Die verdächtig aussah, wie eine von seinen eigenen in die Welt geschickten.
Er hob die Pulle an und hielt sie gegen die altkluge Sonne. Die lachte heute nicht, sondern bleckte die Zunge heraus. Das ignorierte er jedoch.
Im Gegenlicht schüttelte er das Glas und konnte erkennen, dass darin eine Botschaft versenkt war. Entschlossen hieb er das Gefäß auf den Baumstamm neben sich, ungeachtet wohin die Scherben springen würden. Und nahm den Zettel heraus:
Abmahnung!
Wertes Vereinsmitglied Johann Schuller,
hiermit werden Sie ordnungsgemäß nach Satzung des Kleingartenverbandes und nach Bundeskleingartengesetz § 3 Kleingarten und Gartenlaube, abgemahnt.
Alle anderen Vereinsmitglieder unserer Scholle „Mittagsruhe“ dulden keine weiteren Belästigungen mehr durch Sie. Sie erhalten umgehend die Kündigung, wenn Sie weiterhin Flaschen in unseren Entenweiher werfen, Laub und Abfälle verbrennen, in Ruhezeiten laute Schimpftiraden von sich geben.
Wir haben registriert, dass Sie Bemühungen starteten, die Anbau- und Flächennutzungsbestimmungen zu befolgen. Wir bezweifeln jedoch, dass aus ihren Pflanzenkeimlingen einmal Tomaten entstehen werden. Auch sonst gleicht Ihre Parzelle eher einer Mondlandschaft. Wiederholt wurden Sie darauf aufmerksam gemacht, dass die Höhe der Heckenpflanzung Regeln zu folgen hat.
Wir legen Ihnen nahe, Ihre Pacht selbst zu kündigen und bitten Sie, diese Fläche Gartenfreunden frei zu machen. Die Warteliste unseres Vereins umfasst eine Vielzahl an ernsthaften Interessenten.
Alle Mitglieder unseres Vereins haben dieser Abmahnung zugestimmt und fordern Sie auf, ruhestörenden Lärm und das Werfen leer getrunkener Weinflaschen ab sofort zu unterlassen.
Wir bedauern den plötzlichen Verlust Ihrer Gattin natürlich sehr. Leider haben Sie keine unserer Hilfsangebote und Einladungen angenommen.
Hochachtungsvoll
Vorstand des Kleingartenvereins
„Mittagsruhe“ e.V. … unleserlich unterschrieben …
V3/9919