Von Kerstin Jauer

So schnell sie konnte, rannte Ida durch den dichten Nebel. Ihre Turnschuhe versanken im feuchten Sand des Strandes. Im Nacken spürte sie seinen Atem. Nur noch ein paar Meter. Sie würde es schaffen. Aus dem Nebel schälte sich das Gerippe des Bootes. Ida streckte ihre Hand danach aus.

„Gewonnen!“, schrie sie, als ihre Hand das raue, klamme Holz berührte. Nur einen Bruchteil danach krachte Toms Hand auf das Holz. Schwer atmend ließ er sich in den Sand fallen.

„Nächstes Mal kriege ich dich.“

Ida grinste. Tatsächlich sagte Tom das nach fast jedem Wettlauf, aber bisher war sie immer die Schnellere der beiden gewesen. Dennoch, diesmal hätte er sie fast eingeholt. 

„Komm!“

Ida ging zum Ufer hinunter, den Geschmack von Salz und Triumph auf der Zunge. Das Wasser lag still unter dem Nebel verborgen. Heute war das Meer ruhig. Ida dachte an die Ruhe vor dem Sturm. Das tat sie immer. Der nächste Sturm war nie weit entfernt. 

„Diesig heute. Meinst du, wir finden was?“

Tom stand neben ihr. Seine Augen fixierten einen imaginären Punkt im Nebel. Ein Erinnerungsfetzen leuchtete vor Ida auf. Tom und sie starrten auf das wütende Meer. Das Boot ihrer Väter auf den Wellen suchend. Ida schüttelte den Kopf und verscheuchte die Erinnerung. Sie wurde zu einem schalen Geschmack im Mund.

„Lass uns suchen.“

Also suchten sie. Wie an jedem freien Morgen. Was mochte das Meer angespült haben? In der Ferne dröhnte das Nebelhorn eines Schiffes. Während die Blicke der beiden Kinder über den Ufersaum glitten, verirrten sich ihre Gedanken auf dem Meer. 

„Sieh mal!“

Tom bückte sich und fischte etwas aus dem seichten Wasser. Sein Gesicht nahm einen sonderbaren Ausdruck an. Schmerz mischte sich mit Hoffnung.

„Eine Flaschenpost.“

Die Worte hingen zwischen ihnen. Bittersüß und schwer. Schweigend setzen sich Ida und Tom in den Sand. Vor ihnen eine bauchige Flasche, deren trübes, milchiges Glas keinen Blick auf den Inhalt zuließ. Verschlossen war sie durch einen Korken und dichtes, rotes Wachs. Eine Flaschenpost, dachte Ida. Tom hätte sagen können, es sei eine Flasche, doch nun war es eine Flaschenpost. Damit bedeutete dieser Fund etwas. Doch die Bedeutung war zu schwer. Idas Herz hämmerte traurig gegen ihre Brust. Lange saßen sie einfach nur da, die Augen auf die Flasche gerichtet. Ida streckte die Hand danach aus, hielt aber kurz vorher inne, als könnte sie sich an dem Glas verbrennen. Nutzlos fiel die Hand zurück. Tom verstand. Er tat, wozu Ida nicht imstande war. Sie konnte ihm nicht dabei zusehen, hörte nur, wie er sich mit dem Korken abmühte, wie seine Fingernägel über den Flaschenhals glitten. Stille. Nur sein Atmen und ihr schreiendes Herz.

„Sie ist leer.“

Die Bedeutung der Worte schnitt tiefe Wunden. Aus Toms Stimme sprach ihre eigene Enttäuschung. Und ihre Wut. Zusammen mit seinen Hoffnungen warf Tom die Flasche in den Sand.

   

Ida saß im Schneidersitz auf ihrem Bett. In ihrer linken Hand hielt sie die Flasche. Das Glas fühlte sich kalt und grausam an. Mit der rechten Hand befahl sie Google, nach Bildern von antiken Flaschen zu suchen. Am Strand war es ihr nicht aufgefallen, aber in das Glas waren seltsamen Zeichen geritzt. Auf sonderbare Weise kamen sie Ida bekannt vor. Sie ähnelten weder Hieroglyphen noch chinesischen Schriftzeichen, aber Ida hatte so etwas schon einmal gesehen. Sie hatte es Tom zeigen wollen, doch dieser hatte sich seit dem Morgen nicht mehr blicken lassen und auf ihr Klingeln an der Nachbarstür hatte er auch nicht reagiert. Ging er ihr aus dem Weg? War die Flaschenpost zu viel für ihn gewesen? Müde blickte Ida auf die Uhr. 21:04 Uhr. Es war Zeit. Sie ging zum Fenster hinüber und spähte ins Dunkel. Gegenüber lag das Haus von Toms Familie. Die Fenster der beiden befanden sich auf einer Höhe. Mit einem hörbaren Klick schaltete Ida ihr Lämpchen auf der Fensterbank an. Von draußen klang das Dröhnen des Meeres hinein. Vorboten eines Sturms? Ida atmete erleichtert aus, als im Fenster gegenüber ebenfalls ein Licht angeschaltet wurde. Toms Gesicht war schemenhaft hinter seiner Lampe zu erkennen. Ida hob die Hand zum Gruß und Tom tat es ihr nach. Sie hatten ihre Lichter entzündet. Ein Leuchtturm für den jeweils anderen. Ein Licht, das die Gedanken ins Jetzt holen, das Angst nehmen und Hoffnung schenken sollte. Nur ein Licht und doch so viel mehr.

In dieser Nacht schlief Ida schlecht. Hohe, schwarze Wellen schlugen krachend über ihr zusammen, raubten ihr die Luft zum Atmen, zogen sie nach unten. Wild schlug sie mit Armen und Beinen um sich. Im dem Getöse erblickte Ida einen kräftigen Ast. Wasser spuckend versuchte sie das Stück Holz zu erreichen, doch kaum wollte sich ihre Hand an dem Ast festklammern, verwandelte er sich in eine Flasche. Mit der Flasche in der Hand sank Ida nach unten. In ihren Ohren ein scheußliches Lachen. 

 

Unter Toms Augen lagen dunkle Ringe. Seine Lippen waren zwei schmale Schlitze. Ida kannte dieses Gesicht. Sie hatte es nach dem Unglück oft an Tom gesehen. Schweigend gingen sie zu dem alten Bootswrack. Kein Wettrennen heute. Dort angekommen setzen sie sich in den Sand und schwiegen, bis Ida die Flasche aus ihrem Rucksack holte.

„Sieh mal, ich …“  

Tom sprang auf. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

„Warum schleppst du das mit dir rum?“, schrie er zornig.

„Ich… auf der Flasche…“, stammelte Ida.

„Mein Vater ist tot!“, brüllte Tom. Ida spürte feine Spucketröpfchen auf ihrem Gesicht.

„Er ist tot.“

Und dann nach einem kurzen Augenblick, in dem sich seine Augen verdunkelten und sich ein bizarres Lächeln auf seine Züge schlich: „Genau wie deiner. Find dich damit ab.“

In dem letzten Satz schwang Ida nur Verachtung entgegen. 

„Tom?“ Salzige Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Nichts, was du findest, wird daran etwas ändern.“ 

Mit diesen Worten griff Tom nach der Flasche und zerschmetterte sie an dem Holz des Bootes. Dabei stieß er ein heiseres Lachen aus, fast wie in Idas Traum. Dann ließ er sie allein.

 

An diesem Abend wurde kein Licht im Fenster gegenüber entzündet. Die Dunkelheit in Idas Innerem spiegelte sich im Nachbarsfenster wider. Gedankenverloren strich Ida mit der Hand über die Buchrücken in ihrem Regal neben dem Fenster und zog eines der Bücher heraus – Legenden der See.

Der Einband war abgegriffen und das Buch roch nach altem Staub und Papier. Und da wusste Ida, vorher sie die Zeichen kannte. Hastig blätterte sie durch das Buch, fand aber nicht, wonach sie suchte. Mit zittrigen Fingern blätterte sie erneut durch die Seiten und dann sah sie das Bild. Es zeigte die Flasche, die Tom und sie gefunden hatten. Idas Herz drohte ihren Brustkorb zu zersprengen. Mühsam zog sie Luft in ihre Lungen. Dies war eine der Flaschen, in der die Seemänner von längst vergangenen Zeiten die Geister böser Menschen sperrten. Und wehe dem, der eine solche Flasche öffnete.

Das Buch fiel Ida aus der Hand. Den Schrei, der ihr entfuhr, hörte sie nicht. Sie rannte nach unten, zog ihre Mutter mit sich. Die Mutter muss die Seelenqualen ihrer Tochter gespürt haben und sie ließ sich mitziehen, gleichsam bemüht, ihr Kind zu beruhigen.

„Ida. Ruhig. Was ist mit dir?“

Mutter und Tochter standen vor der Tür der Nachbarn. Ida drückte wild auf den Klingelknopf und ein heller Glockenton erklang wieder und wieder auf der anderen Seite der Tür. Rasend vor Angst hämmerte das Mädchen gegen die Tür und diese gab lautlos nach. Sie öffnete sich nach innen in einen dunklen, schmalen Flur. Ida spürte die Hand ihrer Mutter auf der Schulter, als diese sich an ihr vorbei ins Innere des Hauses schob.

„Hallo?“

Der Ruf der Mutter hinterließ eine noch größere Stille als zuvor. 

„Warte hier!“

Ida blickte ihrer Mutter nach, die langsam durch den Flur auf das Wohnzimmer zusteuerte. Erst jetzt bemerkte sie den unangenehmen, leicht metallischen Geruch, der in der Luft hing. Der Schrei ihrer Mutter ließ Idas Körper erstarren. Es fühlte sich an, als wäre ihr Blut zu einer dickflüssigen Masse geworden, welche das Herz nicht mehr durch den Körper zu pumpen vermochte.

 

An diesem Morgen schmeckte die Luft nach Trauer und Einsamkeit. Mit angezogenen Knien saß Ida am Ufer und starrte auf das dunkle Wasser. Das Meer war ihr etwas schuldig. Das hatte sie wirklich geglaubt. Wie dumm sie gewesen war. Die Zeitungen schlachteten den Tod von Toms Mutter und dessen Verschwinden aus, ohne Gründe dafür zu nennen. Ida kannte die Antworten. Tom gab es nicht mehr. Sein Licht war erloschen und würde es bleiben. Das Meer hatte ihm sein Verderben in Form einer Flasche gebracht. Das Meer. Wie grausam es war. Tief. Dunkel. Und unbarmherzig. Heute war der Tag ihres Umzugs. Weit weg vom Meer. Ida schwor sich, nie wieder zurückzukommen, denn auch in ihr war ein Licht erloschen.

 

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