Von Ingo Pietsch

Es klingelte.

„Oma, ich gehe!“, die Sechsjährige rannte zur Haustür.

„Anni, warte. Du weißt doch gar nicht wer das ist.“ Sieglinde kam kaum hinter ihrer Enkelin hinterher.

„Wer seid ihr?“, hörte Sieglinde sie fragen.

Draußen stand ein adrett gekleidetes junges Paar. Er mit Kurzhaarschnitt, sie trug ihre Haare zu einem langen, geflochtenen Zopf.

„Du hast aber schöne Haare!“, meinte Anni.

„Danke schön“, antwortete die Frau nach einer kleinen Pause mit englischem Akzent.

„Du sprichst aber lustig.“ Anni kicherte.

„Wir kommen aus England und suchen Sieglinde. Du bist nicht Sieglinde?“, fragte der Mann scherzhaft, da ihm das schon klar war.

„Nein, das ist meine Oma.“

Sieglinde hatte die Tür erreicht. Wegen ihrer Hüfte war sie nicht mehr die Schnellste.

„Anni, du sollst doch nicht einfach die Tür aufmachen“, mahnte sie ihre Enkelin.

„Aber die sprechen doch so lustig.“ Anni sah ihre Großmutter mit großen Augen an.

Der Mann reichte Sieglinde die Hand, die sie nur zaghaft schüttelte: „Wir sind Chris und Vanessa Miller. Wir kommen aus Withernsea, das ist ein kleines Ortschen an der Ostküste von Great Britain.“

Sieglinde musterte misstrauisch das Paar von oben nach unten. Sie hatten aber kein Heft, Flyer oder Buch in der Hand, das sie verschenken wollten.

„Seien Sie mir nicht böse, aber was wollen Sie von mir? Hier in unserem Dorf in Ostfriesland bekommen wir nicht oft Besuch von Engländern.“

Der Mann schaute zu seiner Frau, als hätten sie das Ganze im Voraus abgesprochen und nickte ihr zu.

Sie öffnete ihre Umhängetasche und zog eine Plastiktüte hervor, die sie sogleich öffnete.

Darin befand sich eine alte Feldflasche.

Sieglinde erkannte den Gegenstand sofort und fasste sich mit beiden Händen an die Brust. Tränen liefen über ihr Gesicht und sie zitterte am ganzen Körper.

Auch das Paar begann lächelnd zu schluchzen.

„For you!“, sagte Vanessa freundlich.

Sieglinde betrachtet sie Flasche und drückte sie fest an sich.

Anni beobachtete die Erwachsenen unterdessen ganz genau und meinte: „Warum seid ihr alle auf einmal so traurig?“

 

Die vier saßen sich im Wohnzimmer auf den Sofas gegenüber.

Anni hatte für alle Orangensaft in Gläsern geholt und Sieglinde fuhr mit den Fingern über die Initialen der Feldflasche, die sie in das Leder geritzt hatte: S + S.

„Die habe ich meinem Mann zu unserem ersten Hochzeitstag geschenkt“, sie blickte auf einen Abreißkalender, der an der Wand hing. „1940. Das ist jetzt fast vierzig Jahre her. Er hatte einen Fischkutter gekauft und wir kamen gut über die Runden. Wegen einer Beinverletzung in seiner Jugend war er nicht eingezogen worden.“

„Opa schläft im Garten. Soll ich ihm Bescheid sagen?“ Anni war aufgesprungen.

Sieglinde hielt sie fest: „Nein, mein Schatz. Das machen wir nachher.“ Sie wandte sich an die Millers: „Woher haben Sie die Flasche?“

Chris antwortete: „Die lag auf dem Dachboden meiner Großeltern.“

Sieglinde sah Chris erwartungsvoll an.

„Während des zweiten Weltkrieges wurde jede Menge Strandgut in unserem Village angespült. Dies lag zwischen all den Things, den Sachen.“

„Und wie haben Sie mich ausfindig machen können?“, wollte Sieglinde wissen.

„Oh, wir hatten eine Adresse, nur wussten wir nicht, ob sie noch stimmte“, sagte Vanessa. „Öffnen Sie die Flasche.“

Mit zittrigen Fingern schraubte Sieglinde den Verschluss auf. „Kannst du mir mal helfen, Anni?“ Das Mädchen nestelte eine Pergamentrolle aus dem Inneren hervor und rollte sie vorsichtig auf. Das Papier war fettig und jemand hatte kricklige Buchstaben mit einem Bleistift einen Brief darauf hinterlassen.

„Ich kann nicht. Lies du, Anni“, sagte Sieglinde mit erstickter Stimme.

Anni nahm den Brief, betrachtete die Buchstaben und meinte dann: „Omi, ich kann aber kein Chinesisch.“

Sieglinde hatte nicht daran gedacht, dass sie die alte und verschnörkelte Schrift nicht lesen konnte und begann selbst zu lesen.

Die Millers hielten sich an den Händen. Sie fühlten mit der alten Frau mit.

„Liebste Sieglinde. Schon in der ersten Nacht auf See bin ich zwischen die Fronten zweier Kriegsschiffe geraten. Im Dunklen wurde mein Kutter getroffen und schlug Leck. Es war furchtbar – niemand hat überlebt. Ich weiß nicht, ob ich das rettende Ufer erreichen werde. Es ist furchtbar kalt und es zieht ein Unwetter herauf. Ich liebe dich über alles, aber ich möchte auch, dass du glücklich bist. Tu was richtig ist – Siegbert. 28.Mai 1941.“ Anni sah zu ihrer Großmutter. „Ihr heißt Sieglinde und Siegbert? Das klingt aber komisch.“

Sieglinde schnäuzte sich die Nase. „Das fanden alle hier im Dorf auch. So oft gibt es die Namen hier gar nicht. Wahrscheinlich war es Schicksal.“ Sie drehte das Pergament um. „Das ist das Butterbrotpapier, in das ich seine Brote gewickelt hatte. Oh, da steht ja auch unsere Adresse.“

Chris nickte: „Ich arbeite zur Zeit hier in Germany und habe Sie deshalb ausfindig gemacht. Ich hätte Ihnen die Flasche gerne schon earlier gegeben, aber ich habe den Letter selbst erst vor kurzem entdeckt.“

„Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie sich die Mühe gemacht haben. Sie wissen ja nicht, wie viel mir das bedeutet.“

„Das haben wir doch gerne getan.“ Vanessa lächelte sie an.

„Gehen wir jetzt Opa Siggi wecken und überraschen ihn damit?“

„Ja, dass könnten wir tun.“ Sieglinde stand auf. „Er liegt in der Hängematte im Garten und genießt die Mittagsluft. Kommen Sie doch mit“

Die Millers sahen sich überrascht an und folgten ihr.

Anni rief mehrmals: „Opa, Opa Siggi, wir haben Besuch! Und eine Überraschung!“

„Anni, Anni, nicht so wild. Ich bin nicht mehr der Jüngste!“ Trotzdem schwang er sich wie ein Jugendlicher von der Matte herunter. Er maß fast zwei Meter und man sie ihm an, dass er ein rauer Seebär war. „Was gibt es denn so Wichtiges?“, er hatte eine tiefe, angenehme Stimme und ein ansteckendes Lächeln auf den Lippen.

Sieglinde überreichte ihm wortlos die Flasche. „So eine hatte ich auch mal. Ist schon eine Ewigkeit her.“ Dann hielt er den Brief in den riesigen Händen und sein Lächeln verschwand mit jedem Wort, das er las.

Als er fertig war, hielt er sich eine Hand ins Gesicht, um die Tränen zu unterdrücken und Sieglinde nahm ihn in den Arm.

Ein leichter Wind wehte durch den Garten und es roch nach tausend Blüten.

Niemand sagte etwas.

„Ich finde die Stille ist ziemlich gruselig. Was habt ihr denn alle?“, wollte Anni wissen.

„Dann sind Sie bestimmt Siegbert?“, fragte Chris Miller.

Stumm ging das alte Paar mit Anni an der Hand um die Bäume herum, an der die Hängematte hing und die Millers folgten ihnen.

Dort stand ein Grabstein: In Gedenken an Siegbert, geliebter Ehemann und Bruder.

„Ich bin Siegmund. Ich habe Sieglinde nach Kriegende geheiratet, da uns damals klar wurde,

dass mein Bruder nicht zurückkehren würde. Und dies sind seine letzten Worte an uns. Danke, liebe Millers, Danke Siegbert.“

 

V3