Von Clara Sinn

Sie bekam Post

von dieser Flasche?

Er hatte seine olle Hinterhofwerkstatt nicht aufgeben wollen, obwohl sie das Geschäft des Jahrhunderts hätten machen können. Mit dem Doppelgrundstück. Dieser …

Da traf es sie wie ein Blitz: Spinner. Das richtige Wort für ihren Vater war Spinner. Bei der Therapeutin hatte sie wiederholt umsonst herumgesucht und es schließlich dabei belassen, dass er einen Spleen hatte.

Irgendwie fand sie es gerecht, auch einmal für ihre Mutter zu gucken. Am Ende hatte es zwei volle Tage gedauert, den bestätigenden Ja-Blitz zu spüren:

Tochter eines Spinners und einer Killerin.

Sie legte den Brief ungeöffnet auf Halde.

Musste an ihren Ex denken. Er hatte sich nicht bekehren lassen wollen, sie lieben zu können. „Andere wären froh“, hatte er immer gesagt. Wie schon seine Vorgänger. Wegen seiner unbedingten Treue.

Bedingungsfreie Liebe hätte sie vorgezogen. Oder einfach mehr Ehrlichkeit. ‚Ich kann dich nicht lieben, ich kann dir nur treu sein.‘

Bilder der Mutter drängten sich ihr auf. Eine Glucke, die zur Mörder-Glucke mutierte. Spezialität: Ersticken. Und dieser Unterton, der ‚eigentlich müsstest du mir dankbar sein‘ sprach.

Sie hätte sich gewünscht, Gehör zu finden. Mit ihren Bedürfnissen. Mit Betonung auf ihren.

 

Konnte mit einem Mal spüren. Wie sie in ihrer Versunkenheit erstarrt war. Ganz die Tochter:

Eine Spinnerin, die sich Ehe-Männer nahm, die fürsorglich und treu waren. Korrekt. Dankbarkeit erwarteten. Und eine Killerin, die sich da selbst hineinmanövriert hatte. In diese Versteinerung.

Konnte sich jetzt plötzlich auch hören.

Bist du meine Mama? Willst du meine Mama sein?

All diese Treusorgenden hatten anstandslos bejaht. Sie konnte die lange Phalanx der rettungsbereiten Bewerber deutlich sehen.

Und zum ersten Mal sich selbst.

Als Tochter. Und nicht nur als Tochter. Sondern als freien Menschen.

 
Der große braune Brief auf ihrem schmucken Flurschränkchen rief sie zurück. Egal, was es sei, sie würde ihn öffnen. Würde sich dem schnöden Inhalt selbst stellen.

Ich möchte lieber ich selbst sein, als die nahtlos Gerettete.

 

In der Nacht träumte sie von ihrer Stele. Eine hohe Holzsäule auf die sie ihr riesiges Ei hinaufgerettet hatte. Vollkommen intakt.

Sich selbst aber noch als Kind.

Als das Ei auch schon anfing, seine großen Eierschalenblätter eins nach dem anderen auszubreiten und zu einer gewaltigen makellosen Blüte aufzugehen.

Die dieses Kind ganz in sich aufgesogen hatte in ihrem ausnehmenden Wachstum.  

 

Ich kann schon selbst ich sein, wollte sie noch verkünden, als sie sich wiederfand. Im eigenen Körper. Ohne Beihilfen. Aller Art. Nackt. Voller Vertrauen. In das Wunder.

Liebe.

 

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