Von Sarah Sepke

Ein sonniger Herbsttag. Es ist früher Nachmittag und Zoe geht in der goldenen Herbstsonne am Strand spazieren. Hier am Wasser, wo ihr der Wind um die Nase weht, kann sie all ihre Gedanken und Sorgen ziehen lassen. Das einzige, was zählt sind das Rauschen der Wellen und der Geruch von Salz in der Luft. Wie sie es liebt! Die Woche war anstrengend. So kommt sie gerne ans Meer, um sich innerlich neu auszurichten und zu entspannen. Die gelben Gummistiefel suchen sich ihren Weg durch heran gespülten Schlick und werden seicht vom Wasser umspült.
Auf einmal stößt Zoe mit ihrem linken Schuh gegen einen Gegenstand. Beinah wäre sie gestolpert. Sie bückt sich mit ihrem Oberkörper nach vorne, die braunen lockigen Haare fallen ihr ins Gesicht, ihre Brille rutscht auf der Nase ein winziges Stück nach vorne.
„Huch, was haben wir denn da?“, fragt sie sich nach dem Gegenstand mit der rechten Hand greifend. Sie zieht ihn aus dem Schlick. Noch begreift sie nicht, was sie da aus dem Meer gefischt hat. Es ist eine grünlich schimmernde Glasflasche, die Zoe in der Hand gen Sonne hält. Sie betrachtet diese um sich selbst drehend. Zoe schaut genauer hin. „Da ist ein Zettel in der Flasche?“, geht es ihr aufgeregt durch den Kopf. In ihrem Kopf ruckelt und gluckst es: „Was? Wirklich? Ist das etwa eine Flaschenpost?“ „Aaaaahh, ich habe eine Flaschenpost gefunden!“, jubelt Zoe halblaut als sie nach einigen Minuten ihren Fund begreift. Die Möwen am Himmel stimmen ihr kreischend zu. Zoes Herz pocht laut, sie ist ganz aufgeregt. Die Flasche als Triumph des Tages in der rechten Hand, hüpft sie ihren Weg im Wasser fortsetzend weiter. „Ich brauche ein ruhiges Plätzchen, dann sehe ich mir mal den Inhalt an. Hoffentlich bekomme ich den Korken auf!“, murmelt die junge Frau vor sich her.
Sie entdeckt einen Strandkorb, der etwas abgelegen steht. Zielstrebig auf ihn zugehend, setzt sie sich an das Fußende in den Sand. Sie streckt ihre Beine lang aus und stellt die Flasche zwischen ihre Oberschenkel. Die Flasche betrachtend überlegt Zoe wie sie am Geschicktesten den Korken entfernen kann. Sie hat keine zündende Idee. Ihre Stimmung wird etwas missmutig. „Na toll! Nun habe ich einen Schatz gefunden und kann damit nicht anfangen“, denkt die junge Frau leicht deprimiert. Es vergehen ein paar Minuten. Sie überlegt fieberhaft und da kommt ihr in den Sinn ihren Schuh als eine Art Hammer zu verwenden, um den Korken zu lösen. Zoe stellt die Flasche kurz rechts neben sich in den Sand, zieht ihr rechtes Bein heran, um den Gummistiefel auszuziehen. Diesen stellt sie neben die Flasche und streckt ihr Bein wieder aus. Mit der rechten Hand greift sie sich die Flasche. Diese zwischen ihre angezogenen Oberschenkel kopfüber nach unten gekippt, hält sie nun den Gummistiefel in beiden Händen und bearbeitet mit dessen Sohle den Flaschenboden. „Nun komm schon. Bitte lieber Korken löse dich!“, fleht Zoe in Gedanken. Eins, zwei,… fünf, sechs,…zehn Schläge! Es macht „plopp“ und der Korken landet dumpf im Sand. Zoe schießt in die Höhe, die Flasche fällt unsanft ebenfalls in den Sand. Die junge Frau vollführt einen Freudentanz. Die Arme zum Himmel gestreckt dreht Zoe sich um sich selbst und ruft: „Juuuuhuuu!“
So schnell wie sie aufstand, springt sie nun wieder der Flasche bei. Sie setzt sich an ihre vorherige Position. Die Flasche in der linken Hand haltend, zieht sie das darin befindliche Papierstück vorsichtig mit der rechten Hand hervor. Das Papier ist gelblich verfärbt und scheint schon älter zu sein. Die Flasche steckt sie in den Sand zurück. Ihr Herz schlägt schneller. „Oh man, ist das spannend. Was sich mir gleich wohl zeigen wird“, denkt Zoe. Mit beiden Händen entrollt sie leicht zitternd das Papierstück. „Bloß nicht kaputt gehen“, betet sie innerlich. Das alte Papier ist mit Füller beschrieben. Einige Worte sind verschmiert und nicht zu entziffern. „Hmm,…entweder war die Flasche leicht undicht oder der Verfasser hat beim Schreiben geweint?“, fragt sich die junge Frau. Oben links auf dem Schriftstück steht „Lübeck 18.04.1721“.
„Krass!“, entfährt es Zoe. „Das ist ja ein richtiger Schatz, wow!“, findet sie. Aufgeregt und neugierig liest sie weiter. „Oh mein Liebster! Die Pest ist überstanden und doch bist du mir so fern! Ich sehne mich nach dir und deinen Umarmungen!“ Es formte sich ein kleiner Kloß in Zoes Kehle. Sie sehnte sich ebenso nach Umarmungen, nur gab es weit und breit niemanden, der ihr diese bis dato gibt. Ihre Augen nehmen die nächsten Worte wahr: „Ich verzehre mich nach deiner Liebe. Die Unwissenheit quält mich: Lebst du noch?“  schreibt die Unbekannte weiter. Das „noch“ ist ganz verschwommen und das Blatt Papier an der Stelle kreisförmig gewellt. Eine Träne hat wohl das Papier an der Stelle aufgeweicht. Zu dem Kloß gesellt sich eine kleine Prise Traurigkeit. Mitgefühl für die Verfasserin keimt in Zoe. „Die Arme! Wie furchtbar für die Zwei, die durch die Pest entzweit wurden und keine Ahnung haben, ob der andere noch lebendig ist. Mich hätte es wohl genauso traurig gemacht! Wie es wohl weiter geht?“, sind die aufkommenden Gedanken zu den ersten Zeilen.
„Ich bin unsicher, da ich lange nichts von dir gelesen habe. Ich hoffe sehr, dass du wohlauf …“ Wieder ein Tränenfleck, der dieses Mal das Satzende aufgelöst hat.
„Ich gedenke mich in drei Tagen mit einer Kutsche zu dir aufzumachen. Jeden Tag habe ich um Schutz und Gesundheit für uns gebetet. Ich bin mir sicher, dass die meinigen Gebete erhört worden sind. Du bist am Leben und gesund! In tiefer Liebe sende ich Dir Küsse! Stets treu verbunden – Deine Marie“
Zoe lässt das Papier in ihren Schoß sinken. Sie muss schlucken. Der Kloß im Hals ist noch da. Sie schließt die Augen. Ihr wirbelt einiges durch den Kopf: „Was muss das nur für eine düstere und unsichere Zeit gewesen sein. Umso bemerkenswerter wie diese Frau Liebe, Sehnsucht, Traurigkeit und eine optimistische Haltung miteinander vereint. Vielleicht sollte ich mir vor allem von der optimistischen Grundhaltung in Sachen Liebe etwas abgucken?“
In der Liebe ist bei Zoe seit Jahren schon Ebbe. Kein Mann ist in Sicht, der für Zoe passend erscheint. Die Sehnsucht ist groß nach Zweisamkeit. Manchmal überkommt sie eine tiefe Traurigkeit, dass es bei ihr nicht klappen will so wie Marie, die ihren Liebsten lange Zeit nicht gesehen hat. „Der Ausgang von Marie und ihrem Liebsten bleibt zwar ungewiss, dennoch zeigt die damalige Situation, dass es sich lohnt auszuharren sowie die Hoffnung zu bewahren. Wenn ich also an das Unmögliche glaube, ganz tief und fest, dann kann es auch wahr werden.“, jagt der nächste Gedanke durch den braunhaarigen Lockenkopf.
Ein kleines Lächeln macht sich in Zoes Gesicht breit, sie öffnet ihre Augen und blickt auf das Meer. Die Sonne strahlt noch mit ihrer letzten Kraft vom Himmel bevor sie sich dem Abend entgegen neigt. Es ist einige Zeit vergangen seit dem Öffnen der Flasche. „Ja, verdammt!“, kommt es mit brüchiger Stimme aus ihr hervor. Zoe räuspert sich. „Wenn eine Marie es 1721 schafft so viel positive Hoffnung zu bewahren, dann schaffe ich das 2021 erst recht.“, spricht sie mit nun festerer Stimme. „Irgendwann treffe ich schon meinen Prinzen mit dem weißen Pferd! Und für Umarmungen habe ich meine Freunde.“, formt es sich in Zoes Kopf. Mit beiden Händen rollt sie das Papierstück wieder auf. Vorsichtig manövriert sie es durch den Flaschenhals in den grünen Glasbauch.
Die Beine wieder angezogen, zieht sie sich den rechten Gummistiefel wieder an. Die Flasche ist in den Sand zwischen ihre Beine gerutscht. Zoe steht auf und fummelt mit der rechten Hand aus ihrer linken Hosentasche ihr Handy. Den SMS-Dienst aufrufend, tippt sie eine Nachricht an ihren besten Freund ein: „Umarmungen sind überlebenswichtig! Heute Abend brauche ich eine große von dir! Ich freue mich :*“  Mit breitem Grinsen und leuchtenden Augen stopft sie ihr Handy zurück. Die junge Frau schnappt sich die Flaschenpost und tritt voller Vorfreude im Schlendergang den Heimweg an.

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