Von Bernd Kleber

 

Ach, wissen Sie, nee, ich muss Ihnen ja mal wieder mein Leid klagen… Neulich haben wir bei meiner Tochter Weihnachten feiern wollen, die ist ja nun mit ihrem Freund zusammengezogen, nachdem sie sich doch nun gerade erst getrennt hatte.

Der Neue wirkt ganz vernünftig für meine Begriffe, aber Herbert kann den nicht leiden, der konnte ja den Tim schon nicht leiden, der Ex-Ehemann von Hannah. Nach dem Bruch zog meine Tochter erst hier bei uns ins Haus, zu Benjiro unters Dach, und wenig später zog sie zu einem neuen Partner, diesmal statt Tim: Jim. Alle nennen den Jimmy. Ein sehr netter, hilfsbereiter und charmanter Mensch. Hat mir neulich sogar einen Riesenstrauß Lilien mitgebracht. Woher der wusste, dass das meine Lieblingsblumen sind? Aber egal!

Jedenfalls hat der ein Töchterchen, die arme Mutter ist bei der Geburt gestorben, passiert noch heute, obwohl die Gründungszeiten der Charité ja schon paar Jährchen her sind … na, dieser Mann ist mit dem Mädchen allein gewesen. Luise heißt das niedliche Frätzchen und ist fast fünf, geht in den Kindergarten. Und wir alle sind verliebt in sie, Hannah sowieso, ich auch, meine Mutter total und sogar Herbert. So wurde ich ohne Vorbereitungszeit von neun Monaten Großmutter.

Also ist Hannah zu dem in den Neubau gezogen, fünfte Etage, drei Zimmer, Bad. Die Küche leider im Wohnzimmer, riecht ja nun da immer nach Mahlzeiten. Und einen riesigen Balkon. Die fünf Treppen müssen sie auch nicht laufen, es gibt einen Fahrstuhl. Ganz kleines putziges Ding. Keine Ahnung, warum die so eng geplant haben. Benjiro meinte einmal, man könne im Fahrkorb für Lasten noch eine Tür aufschließen, aber das habe ich nicht verstanden.

Nun kam also Weihnachten und das will ich Ihnen ja jetzt erzählen, hören Sie mal zu … und lassen Sie mich aussprechen.
So lange dauert es auch gar nicht.

Wir haben erst für unseren Familienjulklapp alle ein Geschenk gekauft, worüber sich jede Person freuen würde; und nachher würfeln wir dann immer so und man behält am Ende ein Mitbringsel, wenn der Kurzzeitwecker geklingelt hat. Ich kann Ihnen das jetzt nicht so genau erklären … Hannah nennt es Wichteln.

Neu war nun in diesem Jahr, dass wir alle eine Kleinigkeit für das Luischen besorgt haben. So ein Kind hat ja einen ganz anderen Blick auf Weihnachten. Luise hat einen sehr niedlichen Wunschzettel gemalt. Ja, gemalt. Das sah am Ende aus wie ein Wimmelbild, so viele Vierecke und Kreise und Schleifen waren drauf abgebildet. Hannah und Jimmy übersetzten aber die Zeichnung hervorragend und so hat jeder von dem Kunstwerk etwas erfüllt. Aus Tradition feiern wir ja immer mit Klara und Erwin gemeinsam, die haben ja keine Kinder und so rücken wir ein bisschen zusammen. Aber ohne Doppelkopf!

Also kamen am Heiligabend Klara und Erwin zu uns, wir tranken einen Punsch und warteten, dass Benjiro von oben runterkommt. Kam der mit Rollkragenpullover und Winterjacke, wo er doch das alte Weihnachtsmannkostüm anziehen sollte, um die Kleine zu überraschen. Die glaubt ja noch an den Geschenkemann. Also musste er nochmal hoch, sich umziehen, damit er am Ende ins Kostüm passt. Wir haben alle Geschenke fürs Kind in einen Jutesack gesteckt und die für den Julklapp extra genommen.

Klara brachte wieder alles durcheinander und lamentierte, man würde am Ende dem Kind Parfüm schenken und sie bekäme dann eine Barbiepuppe. Na, dachte ich mir, hat sie also ein Parfüm für den Julklapp gekauft, bin mal gespannt, wie unisexistisch das ist oder wie man die Sachen nennt, die nicht mehr für Mann beziehungsweise Frau bestimmt sind.

Herbert hat unseren Wagen aus der Garage geholt. Dann ist Benjiro, als Weihnachtsmann verkleidet, hinten mit Erwin und Klara eingestiegen. Meine Mutter hatten wir mit Elfriede gemeinsam schon am Vormittag rübergefahren. Hängen nur noch zusammen die beiden Damen, wie zu Schulzeiten, sagt meine Mutti. Elfie wohnt ja jetzt bei uns Parterre neben Gregor. Wenn wir jetzt kommen, haben die Ladys schon gegessen und ihre Geschenke in eine Ecke gelegt und dann fährt Erwin sie wieder nach Hause, denn den ganzen Abend würde zu anstrengend für die Alten. Aber sie hatten es bisschen gemütlich und das, was es bei Hannah heute zu Mittag gab. Wir essen ja traditionell am Heiligabend Kartoffelsalat und Bockwurst.

Also los ging´s. Die volle Fuhre! Im Wagen übte Benji eine strenge tiefe Weihnachtsmannstimme, was sich zu blöde anhörte. Ich musste immer wieder korrigieren. Irgendwann mischte sich dann wieder mal Klara ein, die meinte, ich solle doch mal ihren Liebling in Ruhe lassen und Erwin fragte, ob Klara meinen Benjiro bereits adoptiert hätte. Dabei ist er schon einmal adoptiert und ich gebe den nicht mehr her.

Na egal, jedenfalls glaube ich nicht, dass mein Benjiro eine Karriere als Schauspieler vor sich hat und ich hoffte, dass die kleine Luise ihn nicht erkennen würde. Soll ja bisschen noch eine wahre Legende bleiben, das mit dem Weihnachtsmann.

Wir kommen also am Haus an und finden, was für ein Glück, ’nen Parkplatz. Dann alles rausgeholt, hatten ja ordentlich zu schleppen. Ich den Kartoffelsalat, Erwin unsere Julklappgeschenke und ein Paket mit umgenähten Gardinen fürs Schlafzimmer der jungen Leute. Klara trug wie immer die Verantwortung und gab unentwegt kluge Ratschläge. Einmal hat sie mich erwischt, wie ich die Augen verdrehte. Da polterte sie los: „Hildegard Kalweit, ick kann dir sagen, wenn de so weita machst heute, werden wa noch die besten Freundinnen!“ Ich winkte ab.

Benjiro hatte an dem Sack, der ja nur die Geschenke für Luise enthielt, ganz schön zu schleppen. Die Pakete von ihrem Vater und Hannah waren auch darin. Im Hausflur angekommen, beschlossen wir, dass erstmal Klara, Erwin und ich hochfuhren, oben die beiden alten Damen in den Fahrstuhl schieben und dann musste ja Herbert die erst nach Hause chauffieren. Weil es nun schon so spät war, würden wir die Kinderbescherung ohne Herbert beginnen, hatten wir ausgemacht. Benjiro sollte dann als Weihnachtsmann allein hochgefahren kommen.

Wir waren also angelangt, es gab ein großes Hallo, alle freuten sich, die Alten und das Kind genauso wie meine Tochter und ihr Mann. Elfie läuft jetzt am Rollator und meine Mutter hält sich auch dran fest und so verabschiedeten wir die beiden Freundinnen und gingen wieder in die Wohnung zurück.

Ich meinte dann: „Luise, ich glaube, ich habe den Weihnachtsmann schon gesehen. Er ging gerade ins Nachbarhaus, als wir kamen.“

„Was?“, quiekte die Kleine und rannte ans Fenster, riss es auf und schob einen Hocker an die Heizung darunter. Ich hielt sie fest und schrie meinerseits: „Hannah, dat Kind hopst noch aus’m Fenster, dit jeht aber so nich!“

„Ach, Mutti, wir sind doch immer dabei und wenn nicht, verschließen wir das Fenster und stellen den Hocker ins Bad“.

Ich hielt den Körper des Mädchens auf Bauchhöhe, die sich weit hinausbeugte, nach links und rechts sehend und dabei rufend: „Weihnachtsmann, hier wohne ich. Komm schnell zu uns!“.

Dann klingelte es. Ich hob die Hand an den Mund wie zu einem Riesenschreck: „Huch, jetzt ist er da!“.

Luise hopste vom Hocker und rannte zur Tür, riss sie auf und betätigte den Summer. „Er kommt, er kommt, bestimmt ist er das jetzt. Und ich war ja auch ganz artig!“

Als das Licht, mit Pfeil nach unten, im Bedienfeld des Fahrstuhls ansprang, hielt di Kleene ihr Ohr an den Schlitz zwischen beiden Türhälften. Sie glauben gar nicht, wie aufregend es war. Es surrte und rauschte, bis es klackte, was bedeutete, der Fahrkorb hatte irgendwo weit unter uns gestoppt. Durch den Hausflur war ein lautes „Ho, ho ho!“ zu hören. Das Kind wurde ganz blass und leise, atmete nicht mehr.

Ich behauptete: „Der hat aber gute Laune, jetzt kommt er hochgebraust!“ Und Luise umklammerte mein Bein, was fast ein wenig schmerzte. Na, bin eben auch schon in so ’nem Alter, wo man Wehwehchen hat.

Dann klackte es wieder in der Steuerung des Fahrstuhls und man hörte den Fahrkorb aufwärts rauschen. Luise hielt sich beide Hände vor den Mund und sah mit so geweiteten Augen ihren Vater an, dass man Bange bekommen konnte, ihre blauen Murmeln fielen gleich aus den Glubschlöchern.

Dann ein Knarzen, ruckartige Geräusche und Stille. Mir wurde ganz flau.

Luise sah uns nacheinander an, kein Mucks, wir hielten im Chor den Atem an. Unserer aller Augen waren aufgerissen wie Suchscheinwerfer. Man hörte nur aus der Wohnung Klaras Plappern.

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lange wir warteten, bis auf einmal ein lautes Klingeln durch den Hausflur schallte. Irgendwie gar nicht wie „Kling Glöckchen, klingelingeling“, sondern eher wie, in der Feuerwehr, wenn alle die Stange zum Abwärtsrutschen benutzen!

„Was nun los?“, fragte Jimmy. Hannah ging zum Treppenabsatz, als hätte sie die Fähigkeit dort besser durch das Gestein des Hauses zu blicken. Luise rannte wieder zur Fahrstuhltür und legte ihr Ohr an. Ich war ratlos.

„Mann, Scheiße!“, röhrte es nun aus dem Fahrstuhlschacht. Luise erwiderte es mit einem „Auweia!“ Dann wummerte sie beherzt an die Fahrstuhltür und rief gegen den geschlossenen Schlitz: „Weihnachtsmann, bist du da drin?“

„Ja! Ich stecke fest!“, brüllte Benjiro zurück. Sie können sich denken, wie entsetzt ich war, ohne verstellte Stimme! Luise schrie natürlich zurück: „Benni, bist du alleine oder ist noch jemand bei dir?“ Benjiro erwiderte: „Ja, ich bin hier mit dem Weihnachtsmann und wir stecken fest!“ Dann erinnerte der Junge sich an unsere Übung im Auto und an die Stimmlage, „Ho, ho, ho, das ist aber nicht so gut, ich muss noch mehr Kinder heute besuchen. Holt schnell Hilfe!“.

Wissen Sie, ich schwitzte. Was war noch zu retten? Jimmy wählte eine Nummer auf seinem Mobilphone. Da würden wohl, wenn wir Glück hatten, irgendwann Techniker kommen oder sowas murmelte er nach dem Telefonat. Luise weinte jetzt herzzerreißend. Ich nahm sie auf den Arm und drehte mich zur Wohnungstür: „Klara, nimm mal die beeden Flaschen Glühwein aus meen Beutel und wärme die uff’m Herd uff. Töppe sind im untersten Schrank! Dit wird’n langit Weihnachten diesmal.“

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