Von Anne Klisch


Seit ich klein war sind meine Eltern und ich immer am Fahrstuhl vorbei zum Treppenhaus gegangen. Es hat nichts mit Angst zu tun, es ist einfach normal für uns. Aber jetzt gibt es diese Riesengebäude mit ihren hundert Stockwerken und tausend Büros, da gibt es gar keine öffentliche Treppe mehr.
Mit einem leisen Ping öffnet sich die Fahrstuhltür, irgendwo im achtzigsten Stockwerk, wo ich jetzt arbeite. Es ist Herbst und der Boden der Kabine ist mit einer dünnen Wasserschicht bedeckt. In der Ecke hat sich eine Pfütze angesammelt und unter den Knöpfen für die Stockwerke ist eine Platte locker. Ich lehne mich über die Pfütze und drücke den Knopf für das Erdgeschoss. Gedankenlos starre ich in den Spiegel und die silber- grau metallische Wand. Wie immer macht mein Magen einen kleinen Sprung als der Fahrstuhl nach unten fährt. Aber heute ist es anders. Es fühlt sich an wie in der Achterbahn, wenn es plötzlich ganz steil nach unten geht. Das Neonlicht an der Decke flackert. Das laute Summen der Metallseile über mir hallt durch die Kabine. Irgendwas stimmt nicht. Panisch greife ich nach dem Griff unter dem Spiegel. Gerade rechtzeitig. Mit einem Ruck bleibt alles stehen. Mein Kopf kracht unsanft gegen die Metallwand. Alles dreht sich. Über mir geht das Licht aus und ein dreckiges rotes Notlicht springt an. 

 

In meinen Ohren pocht das Blut. Der Fahrstuhl ist abgestürzt und jetzt ist er stecken geblieben. Meine Beine zittern und langsam lasse ich mich auf den Boden sinken. Ich habe keine Angst vor dem dreckigen Wasser, nur vor der unbestimmten Tiefe unter mir und der ungewissen Kraft, die mich hier in der Mitte gefangen hält. Mein Leben am eisernen Faden.
Ich starre auf die dreckig braune Pfütze neben der Fahrstuhltür. Jede noch so kleine Bewegung der Kabine perlt mahnend über die Wasseroberfläche. Aus der losen Wandplatte unter den Knöpfen sprühen Funken, zischen und verglühen, wenn sie auf die Pfütze treffen. In meinem schmerzvernebelten Kopf erinnert mich das Bild ganz plötzlich an das Miller- Urey- Experiment. Meine Physiklehrerin hat davon erzählt. Wie lange ist das jetzt schon her? 

Im Jahr 1953 starten die Wissenschaftler Stanley Loyd Miller und Harold Clayton Urey einen Versuch die chemische Evolution nachzubilden. Die Entwicklung von einzelligen Lebensformen aus der Uratmosphäre. In einem Glaskolben simulieren sie die Umweltbedingungen, die, ihrem Forschungsstand entsprechend, in der Frühzeit der Erde geherrscht haben und setzen sie wiederholten Stromstößen aus – eine Simulation einschlagender Blitze. Und langsam können sie beobachten wie die Elemente durch Energiezufuhr ihre Form und ihre Kombination ändern. Es entstehen Aldehyde und Blausäure und schließlich verschiedenste Aminosäuren. Ich habe mich schon immer gefragt was passiert wäre, wenn man das Projekt nie abgebaut hätte. Wie weit wäre das gegangen? 

Ich starre auf die dreckig braune Pfütze mit ihren Bakterien von tausend Straßenschuhen, in die weiterhin die Funken regnen. Kleine Partikel kreiseln durch das trübe Nass und huschen weiter, wenn ein kleiner Blitz sie trifft. Treffen sich wieder und bleiben hängen. Kleine Felder entstehen. Inseln und Grüppchen. Ich sehe das Wimmeln in dem dunklen Wasser. Bakterien und kleinste Tiere. Ursuppe, bei mir im Fahrstuhl. Ich sehe zu wie sich die Bakterien weiterentwickeln. Zellen Teilen sich, vermehren sich. Mitose, Meiose… Dextrose. Ich lache. Mein Kopf tut weh. Ich spüre wie die Wärme unter meinen Haaren heraus und über mein Gesicht fließt. Rote Tropfen auf kaltem Metall, die sich langsam in die Suppe mischen. Eine schlanke Rückenflosse zerschneidet das unruhige Wasser. Ein Untier bäumt sich auf. Neben meinem Fuß kriecht eine kleine Amphibie aus der Pfütze und Efeu und
Farne wachsen an den glatten Metallwänden hinauf. Rasant vergeht die Zeit im Fahrstuhl. Binnen weniger Minuten bildet die Ursuppe ihre ersten Lebewesen. Gräser wachsen aus den Fugen und von der Decke baumeln große Blumen. Ich kann sehen, wie die Amphibie ihren Rücken verbiegt und langsam bildet sich ihr langer Körper zurück. Fell sprießt auf ihrer Haut und nasse Füße werden kleine Pfoten. Ein Säugetier klettert über mein Bein. Schlangen und Nager hängen in den Zweigen. Die Pfütze plätschert und über uns scheint zuckend und flackernd eine dunkle rote Sonne. 

Neben mir steigt plötzlich Rauch auf. Die Primaten haben das Feuer entdeckt. Alles summt und raschelt und plötzlich ruckt die kleine Welt. Es quietscht laut und metallisch. Eine große Welle geht durch die Urpfütze. Ertränkt die kleinen Lebewesen, die jetzt schon nicht mehr schwimmen können. Licht fällt durch das Blätterdach. Ein großer Mann in schwarz gelber Feuerwehr Uniform steckt den behelmten Kopf durch die aufgestemmte Aufzugtür. „Geht es Ihnen gut?“, fragt er. Doch ich starre nur verwirrt zurück. Er passt so gar nicht in meine Frühzeit- Fahrstuhlkabine. Sein Blick ist besorgt. „Sani!“, ruft er unter seinem Arm hindurch nach draußen, bevor er in die verklemmte Kabine hinuntersteigt. Er zieht mich vom Boden hoch in seine Arme und trägt mich raus aus dem abgestürzten Fahrstuhl. Katapultiert mich innerhalb weniger Sekunden vier Millionen Jahre in die Zukunft und zurück in diese laute Welt.