von Michael Eschmann

 

Eigentlich nehme ich immer die Treppen. Heute nicht. Unser Fahrstuhl, ein kleiner Raum. Schnell gehe ich auf ihn zu. Da ist der Knopf, der mit dem Pfeil nach oben zeigt. Kurz drücke ich ihn. Er leuchtet. Man hört einen Fahrstuhl näherkommen. Welch ein Dröhnen! Er fährt von oben nach unten. Meine Hände sind feucht. „Alles wird gut, drum hab nur Mut“, summe ich leise vor mich hin. Nun öffnet sich der metallische Sarg mit einem lauten Ruck. Niemand darin? Schön! Mein Puls klopft am Handgelenk und in der Brust. Der Mund ist trocken. Ich trete ein. Vor mir eine Reise zu den Stockwerken. Nun drücke ich auf die letzte Zahl: 13. Die Fahrt beginnt, ein leichtes Rütteln, ein leises Quietschen, ein Schweben ist da. Das Klopfen im Kopf wird stärker. Habe ich heute meine Blutdrucktablette wirklich genommen? Nun blicke ich auf das rot leuchtende Display über dem Eingang. So schnell geschieht alles, wie die Stockwerke an mir vorüberziehen, wie verflossene Lebensjahre. 1., 2., 3., 4., 5., 6., Stockwerk. Man sagt, die ersten sechs Jahre im Leben des Menschen seien entscheidend für alles, was danach noch kommt. Wieder ein lauter Ruck, dann ein Quietschen. Der Fahrstuhl hält an. Er steht. Meine Augen suchen das Display. 6. Stockwerk. Ruhe. Ich höre nichts mehr. Nur das Pochen des Blutes in den Ohren. Was nun? Warum fährt er nicht weiter? Vielleicht hat unten jemand gedrückt und er fährt gleich zurück? Ein elektronischer Irrtum? Nein, er ist still. Ganz still. Ich weiß, manchmal bleiben Fahrstühle für einen kurzen Moment stehen und fahren dann plötzlich weiter. Und diesmal? Nichts. Ruhig Blut, alles wird gut werden. Meine Hand wische ich an meiner Hose ab. Fahrstühle sind heutzutage gut abgesichert, es kann nicht viel passieren. Langsam fange ich an zu zählen. Die Zahlen spreche ich laut und deutlich. Bei 848 setze ich mich auf den kalten Boden. Der Schwindel und das Klopfen in den Ohren ist stärker geworden. Durch die Nase einatmen und durch den Mund ausatmen habe ich gelernt. Der Notrufschalter muss nach unten gekippt werden. Um ihn bedienen zu können, muss ich aber aufstehen. Mit einer Hand stütze ich mich gegen die kalte Wand des Fahrstuhls, die andere kippt den Schalter um. „Ich stecke fest!“ Von fern höre ich nur: „Können Sie bitte etwas lauter sprechen. Ich verstehe sie so schlecht.“ Genau das kann ich nicht mehr. Meine Stimme hat mich fast verlassen. Es ist, als ob ich etwas leise in einen dunklen Tunnel rufe. So schwach. So fern. Von der Stirn tropft etwas Schweiß auf meine Jacke. „Ich stecke fest!“, versuche ich jetzt zu schreien. „Hören Sie mich? Hilfe! Der Fahrstuhl steckt fest“. Vielleicht funktioniert der Notruf jetzt auch nicht mehr. Ich setze mich wieder hin. Es ist kalt. Aus der Sprechanlage klingt die Frauenstimme klar und deutlich: „Wo sind Sie?“ Ich muss hoch, schnell zum Mikrofon, sonst finden die mich nie! Meine Kraft in den Beinen ist weg, ich zittere, weiß aber, alles muss jetzt ganz schnell gehen, sonst kommt niemand. „Himmelsgasse 13“ hauche ich in das Mikrofon hinein. „Hören Sie mich? Himmelsgasse 13“. „Ja, ich kann Sie gut hören. Bleiben Sie ruhig. Hilfe ist unterwegs!“. Wieder sitze ich auf dem Boden. Ich soll ruhig bleiben, spreche ich vor mich hin. Aus der Jacke hole ich ein Taschentuch, wische mir über die Stirn und sage erneut: „Ich soll ruhig bleiben!“ Warum bin ich es aber nicht? Erneut fange ich an zu zählen. Die Zahlen spreche ich wieder ganz andächtig und laut, so wird ein Warten erträglicher. Ich habe keine Zeit mehr zum Nachdenken. Jetzt wird gezählt und zwar richtig. Los geht’s! Bei 1346 bewegt sich der Fahrstuhl mit einem lautstarken Ruck und fährt nach oben. 7., 8., 9., 10., Stockwerk. Nun ist gleich alles vorbei und ich werde oben sein. Mein Verhalten war vorbildlich, würde mein Therapeut sagen. Das Display zeigt das 11. Stockwerk an. Der Fahrstuhl bleibt erneut stehen. „Nein“ schreie ich in meinen Käfig. Ich habe keine Kraft mehr. Auch nicht für einen Notruf. Nichts geht mehr. Ich zähle auch nicht mehr. Es ist aus. Ich sitze in meiner Ecke. Ein Ruck. Der Fahrstuhl fährt weiter. 12., 13. Stockwerk – ich bin da. Die Tür öffnet sich. Ich steige aus. Morgen nehme ich die Treppen wieder.

 

 

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