Von Bruni Braun

Schon lange hatte ich den Wunsch gehabt, Port LLigat im Norden Spaniens zu besuchen, wo der große Surrealist und begnadete  Selbstdarsteller Salvador Dalí mit Gala, seiner aus Russland stammenden Frau und Muse, die  erste Bleibe gefunden hatte.

 

Nun stand ich vor seinem Haus. Ich hatte es nicht verfehlen können, denn bereits von weitem zeigte sich eines jener riesigen Eier auf einem Dach, die so bezeichnend für sein Werk sind. Niemand war zu sehen, nur das Zirpen der Zikaden und sanftes Raunen des Windes in großen Trauerzypressen und kleinen Pinienbäumen war zu hören. Das Haus war weiß gestrichen, links seitlich umgeben von einer langen, sichelförmig verlaufenden Gartenmauer und nur durch ein ebenfalls sichelförmiges, schmales  Plateau von jener  kleinen Bucht getrennt, die der Meister immer wieder gemalt hat. Eine niedrige Holztür verband Haus und Gartenmauer, in der ich durch herausgebrochene Steine, die auf den Platz davor gefallen waren, ein Loch entdeckte.

 

„Wer macht denn sowas?“, sagte ich zu mir, als ich eine etwas herausfordernde männliche Stimme  hörte:

„¡ Hola guapa !“, „Hallo Hübsche!“

 

Originell war das nicht, hatte mir jedoch genügt, um in die Richtung des Rufenden zu schauen. Kerzengerade, die Hände auf dem goldenen Knauf eines langen Stockes übereinander gelegt, stand er da,  majestätisch – theatralisch. Schwarze, mit Pomade dressierte Locken fielen fast bis auf die Schultern herab. Seine dunklen Augen unter buschigen Augenbrauen waren unnatürlich weit aufgerissen und funkelten irgendwie irre. Er trug schwarze Hosen, ein modernes,  blütenweißes Hemd und eine knallrote Krawatte mit  weißem Blütenaufdruck, was ich nicht ungewöhnlich fand. Doch was hatte er sich darüber geworfen? Eine  weiße Tunika mit aufgestickter Krone eines Marqués und goldener Borte in Form einer Doppelhelix, einer Doppelspirale!

 

War Dalí seinerzeit nicht in solchem Gewand einbalsamiert worden?

 

Wo war ich denn hier hinein geraten? Gab hier jemand den Dalí?

 

Mein Blick fuhr die Erscheinung langsam ab und  entdeckte erst jetzt den weltberühmten Schnurrbart, den er mal wie ein Schneckenhaus nach innen gedreht und dann wieder die Enden, im rechten Winkel senkrecht nach oben aufgerichtet, als seine Antennen trug. Heute war sein Moustache ausgebreitet wie geöffnete Arme und trug, wie auf eine Kette aufgezogen, je eine winzige weiße Blüte am jeweiligen Schnurrbartende.

 

Jetzt war ich mir ganz sicher, er musste es sein, denn alles passte in sein Repertoire des Absurden. Ich war so perplex, dass ich auf das Loch in der Gartenmauer zeigte, als sei ich das gewesen und stotterte: „Su muro está roto.“, „Ihre Mauer ist kaputt.“ Dalí lächelte, kam näher, öffnete das Gartentor, schaute nach rechts auf den kleinen Steinhaufen, zuckte die Schultern und sagte lakonisch:„Reparieren lohnt nicht. Das passiert dauernd“ und dann, seiner einladenden Geste folgend, betrat ich den Garten.

 

Der Weg führte seitlich am Haus entlang und gab am Ende den Blick frei auf eine Holzbank, ein niedriges Holztischchen davor und zwei Holzsessel. Alles schon beträchtlich in die Jahre gekommen. Hier war auch der Eingang zum Haus.

 

„Um diese Tageszeit“, begann Dalí das Gespräch, „pflege ich einen Carajillo einzunehmen. Machen Sie mir die Freude, nehmen Sie Platz und teilen Sie diesen Genuss mit mir.“

 

Ich wählte die Bank, und Dalí verschwand im Haus. Kurz darauf kehrte er zurück, in der einen Hand eine Flasche Carlos Primero, Spaniens besten Cognac und in der anderen ein Zuckerdöschen, in das er bereits zwei winzige Löffel hineingesteckt hatte. Er platzierte alles auf dem Tisch und verschwand wieder. Mit zwei kleinen schmalen Gläschen,  die sich nach oben verbreiterten, kam er zurück. Mit abgespreizten Ring- und  kleinen Fingern stellte er sie auf den Tisch, denn der bis zur Hälfte darin  eingefüllte  Kaffee war, wie es sich gehört,  sehr heiß. Er setzte sich neben mich, und jeder rührte sich Zucker in sein Gläschen.  Dann nahm Dalí den Cognac und füllte die Gläser so schwungvoll bis zum Rand auf, dass etwas daneben schwappte und auf dem Tisch ein kleiner brauner See entstand. In der einen Hand noch immer die Flasche, tauchte er blitzschnell den Mittelfinger der anderen Hand in die Alkohol-Pfütze und tupfte ihn mir mitten auf die Stirn.

„Bringt Glück“, meinte er. Ich nickte, denn ich kannte diesen Brauch. Während der Carajillo abkühlte, wandte er sich mir zu.

„ Und?“, fragte er, „ Was machen Sie so?“

Ich zögerte einen Moment.

„Nun sagen Sie schon!“, wurde Dalí etwas ungeduldig.

Wer nimmt sich aber auch heraus, den großen Meister warten zu lassen!

„Ich bin Kunstmalerin, Vertreterin des Fantastischen Realismus der Wiener Schule“, sagte ich. Ruckartig richtete er sich auf. Seine Augen leuchteten. „Fantastischer Realismus, Wiener Schule!“, rief er aus. „Wissen Sie, dass Ernst Fuchs und ich Freunde waren?“ „Ich weiß es“, antwortete ich.

Während ich nun meinen Carajillo Schluck für Schluck genoss, stürzte der große Künstler seinen Kaffee in einem einzigen Zug hinunter, fuhr sich mit der Zunge noch einmal über die Oberlippe und sagte dann völlig unvermittelt: „Sie sind einfach zu spät geboren! Hätten Sie im Barock gelebt, hätte man Ihnen zu Füßen gelegen. Ihre Portraits sind Masterpieces, aber das hat man Ihnen ja schon von kompetenter Seite bestätigt.“

Einerseits hatte er gefragt, was ich so mache, andererseits schien es, als wisse er über mich Bescheid. Sehr, sehr rätselhaft! Wir schwiegen, und mein Blick glitt über den Garten. Blumen gab es nicht, nur ein paar kleine Pinien, Büsche und trockenes Gras mit geknickten Halmen. Er hatte mich aus den Augenwinkeln beobachtet und sagte mit fast erloschener Stimme: „ Seit Gala fort ist, hat der Garten seine Seele verloren. Trotzdem bin ich gerne hier. Mein Gott, was waren wir damals jung… – Sollen wir ans Meer gehen?“ Er stand auf, als hätte ich bereits zugestimmt, wandte sich dem  Gartentor zu und ich folgte ihm, denn Widerspruch war in seinem Leben offenbar nicht vorgesehen…

 

Der Strand war winzig und nur ein ganz schmaler Sandstreifen unmittelbar hinter dem Rand des spiegelglatten Wassers war zu sehen. Der Rest der Bucht wirkte wie die Rumpelkammer der Schöpfung. Dunkle, flache, zum Schöpfungsakt nicht mehr benötigte Steine in allen Größen verdeckten den Sand. Mitten in diesem düsteren Chaos stand ein schwarzer Flügel, mit einem seiner Beine bereits in die Bruchsteine eingesackt. Kein Deckel schützte das verletzbare Innere, und die Tastatur wirkte wie ein lückenhaftes Gebiss mit faulen Zähnen. Dahinter, aufrecht stehend, zwei hüfthohe halbe Eierschalen, mit blutroter Farbe bespritzt, um die zwei weiße, mit den Flügeln schlagende Schwäne herumliefen.

 

„Irritiert Sie der Flügel als Mahnmal der Endzeit, weil er nicht mehr bespielt werden kann?“, wollte Dalí wissen.

 

„Keineswegs“, antwortete ich. „Als ich ein kleines Mädchen war, durfte ich manchmal eine sehr vornehme alte Dame besuchen, die auch einen schwarzen Flügel hatte. Bei meinem ersten Besuch hatte sie mir die mit Brillantringen geschmückten Finger beider Hände entgegengestreckt, deren Gelenke durch Gicht verformt waren und gesagt: ›Damit kann ich nicht mehr spielen, darum ist der Flügel jetzt das Haus von Mimi.‹  Mit diesen Worten hatte  sie den Deckel des Flügels hochgehoben, und ich erblickte Mimi, eine weiße Maus mit roten Augen. Das war sensationell!“

 

Der Meister des Absurden hatte amüsiert zugehört. Er lachte, wobei die kleinen weißen Blüten seiner Schnurrbart-Enden vibrierten.

 

„Ich finde es interessant“, fuhr ich fort, „dass das Meeres hier tatsächlich so hauchdünn ausläuft, dass man, genau  wie Sie es gemalt haben, zwangsläufig auf den Gedanken kommen muss, man könne es mit zwei Fingern wie ein Tischtuch anheben und schauen, was darunter ist.“

 

„Ja“, lachte Dalí, „um dort dann meinen schlafenden Hund zu entdecken, wie ich es gemalt habe!“ 

 

Ich schaute auf die Uhr, es war später Nachmittag. „Ich wohne in Lloret de Mar“, sagte ich, „das ist, wie Sie wissen, ein ganz schönes Stück von hier. Ich habe unsere Begegnung sehr genossen, sollte mich aber jetzt auf den Heimweg machen.“

 

„Ich bekomme oft Besuch“, meinte Dalí, „Meistens sind es Schriftsteller, aber eine Malerin ist noch nie hier gewesen. Ihr Besuch hat mir sehr gefallen.“

 

Schweigend gingen wir zu seinem Haus. Er öffnete das Gartentor, trat ein und drehte sich zu mir um.

Jetzt oder nie, dachte ich, lächelte etwas unsicher, zeigte auf den kleinen Steinhaufen vor der Gartenmauer  und fragte: „ Würden Sie mir erlauben, einen dieser Steine mitzunehmen?“

 

„Tun Sie das!“, erwiderte er freundlich. „ Andere machen das auch. Das passiert dauernd!“

 

Nachdem ich  meinen Stein aufgehoben hatte, wollte ich mich bedanken und verabschieden, aber Dalí war verschwunden, das Gartentor geschlossen.

 

„Señor Dalí?“, rief ich in den Garten, doch es kam  keine Antwort.

 

Was war das denn? Wo war sie hin, diese rätselhafte Begegnung? Oder hatte es sie am Ende überhaupt nicht wirklich gegeben?

 

Ganz offensichtlich waren Haus, Garten, der kleine Strand und mein Wissen um Dalís Person zu einer Szenerie verschmolzen, wobei, wie der Optiker beim Anpassen neuer Brillengläser verschiedene Linsen  voreinander setzt, sich hier wohl gläserne Erinnerungsscheiben an verstorbene Freunde voreinander geschoben und das Bild einer sehr speziellen Persönlichkeit, nämlich die meines Dalí erzeugt hatten.

 

Da war Juris, mein ungeduldiger, lettischer Kunstprofessor, mit dem ich viele interessante Gespräche geführt und so herrlich gestritten hatte. Er hatte den Begriff „Masterpieces“ für meine Arbeiten gebraucht und war nicht an Widerspruch gewöhnt.

 

Da war Pedro, mein katalanischer  Freund, der mich in die Gebräuche und Genüsse seines Landes eingeweiht hatte und  ebenso genussvoll gestorben war, wie er gelebt hatte, nämlich lachend in seinem Weinkeller stehend, mit einer Champagner-Schale in der Hand!

 

Als Dritter hatte sich noch I-Gusti Nyoman Nadia gezeigt, der balinesische Maler vom Meeresheiligtum von Tana Lot. Ich hatte ihn der Sendereihe „Das Fantastische in der Kunst“ gesehen und spontan beschlossen, ihn zu besuchen. Obwohl er für mich am anderen Ende der Welt wohnte, wollte ich feststellen, ob er ebenfalls die gravierenden Gemeinsamkeiten unserer Arbeiten trotz unterschiedlicher Thematik erkennen würde.

„Das sind ja meine Farben. Sie setzen die Farben genau wie ich. Ich sehe es ganz genau, wir haben dasselbe Ziel, nur unsere Wege sind verschieden“, hatte er mit leiser, singender Stimme meine Gemäldefotos kommentiert. Er war es gewesen, der beim Abschied gesagt hatte, dass er oft Besuch bekäme,  es meistens Schriftsteller seien, aber eine  Malerin noch niemals da gewesen sei.

Und mit den Worten „Ihr Besuch hat mir wirklich sehr gefallen. Ich werde über Sie nachdenken, ich werde über Ihre Bilder nachdenken “ hatte er mich verabschiedet.

Da stand ich nun mit meinem Stein in der Hand. – Das Gartentor, die Tür zum Schauspiel, war verschlossen, Dalí verschwunden und mit ihm die Bilder meiner verstorbenen Freunde.

 

Alles war still, nur die Zikaden sangen noch immer…