Von Monika Heil

Adriano spürte, dass sein Leben langsam zu Ende ging. Sein Herz schlug zunehmend schwächer, das Atmen fiel ihm oft schwer und die Schmerzen in seinen Beinen wurden immer heftiger. An manchen Tagen ging es ihm so schlecht, dass er sein Bett nicht verlassen konnte. So auch heute. Er war über seine körperlichen Gebrechen traurig, beschied sich jedoch in das Unausweichliche. Gern hätte er noch ein paar Jahre gelebt. Doch er wusste, man konnte sich dem Schicksal nicht widersetzen. Den ganzen Tag über wälzte sich Adriano unruhig auf seinem Bett. Erst am Abend fiel er in einen leichten Schlaf.

 

Er hätte später nie erklären können, ob es ein Traum oder Wirklichkeit war.

Sie standen am Fußende seines Bettes. Luzifer in einem roten Seidengewand strahlte Lebensfreude und Heiterkeit aus. Gabriel dagegen – ganz in weiß gekleidet – wirkte sanft und zurückhaltend. Erst flüsterten sie miteinander. Adriano hörte nicht zu. Als die Stimmen lauter und drängender klangen, wurde ihm endlich bewusst, dass man über ihn sprach. Nun lauschte er aufmerksam. Beide machten sie ihren Anspruch auf Adriano geltend, doch es fehlten ihnen offenbar die entscheidenden Argumente. Adriano war weder besonders gut noch besonders schlecht gewesen in seinem Leben. Einen neutralen Platz gab es nicht zwischen Himmel und Hölle.

 

Das Zuhören fiel dem alten Mann schwer und er verstand nicht alles. Er schnappte etwas auf von »vier Wochen Zeit schenken« und »an seinen Reaktionen messen.«

Dann sollte eine Entscheidung fallen. Adriano fiel erneut in Schlaf. Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich wesentlich frischer als am Tag zuvor. Dankbare Freude überfiel ihn.

 

Adriano war einer der unzähligen Gondoliere in seiner Heimatstadt Venedig. Er liebte seinen Beruf, er liebte seine Stadt und er liebte das Leben. In seinem Metier gab es kein Rentenalter. Jeder bewegte die Gondel so lange und so viele Stunden am Tag, wie er wollte, konnte oder musste, um seine Familie ernähren zu können. Heute Morgen fühlte er sich frisch und aktiv und es zog ihn wieder hinaus auf den Kanal. Dass er gestern noch hatte sterben wollen, verdrängte er völlig.

 

Adriano war sein Leben lang bescheiden gewesen. Familie hatte er nicht. Im Laufe der Jahre hatte er ein schönes Sümmchen angespart, um damit – irgendwann – seinen Lebensabend zu genießen. Immer wieder dachte er irritiert an diese Mischung aus Traum und Wirklichkeit. Irgendjemand hatte etwas von geschenkter Zeit gesagt. Wie viel Zeit hatte er noch?

 

Nach dem Frühstück ging er hinunter zum Anlegeplatz, an dem seine Gondel wartete. Die Kollegen sahen ihm entgegen, als erblickten sie einen Geist.

»Als läge er im Sterben, sieht er nicht aus, der Alte«, murmelte einer und half Adriano bereitwillig, die Gondel flott zu machen. Kurz darauf glitt sie langsam durch das Wasser und Adriano war wieder dabei.

 

                         ***

Die Frau stand an der Anlegestelle des Palazzo Pizzi. Stumm und bewegungslos. Adriano schaute hinüber und war seltsam berührt. Er hatte das Gefühl, als wiederhole sich etwas, das er vor vielen, vielen Jahren einmal beobachtet hatte. Als stünde er unter Zwang, hielt er an, obwohl die Frau nicht zu erkennen gegeben hatte, dass sie einsteigen wollte.

 

»Signorina«, sprach er sie leise an und streckte ihr seine Hand entgegen. Sie zeigte kein Erstaunen. Wie selbstverständlich ergriff sie die dargebotene Hand und betrat mit kleinen, vorsichtigen Schritten die Gondel. Sie nahm auf der hinteren Bank Platz.

»Wohin, Signorina?«, fragte Adriano. Die Fremde schüttelte den Kopf.

»Irgendwohin«, murmelte sie.

Adriano setzte seine Gondel langsam in Bewegung. Eine Melodie kam ihm in den Sinn. Er summte die schöne alte Volksweise vor sich hin. Da schaute sein Gast auf.

»Wie heißt dieses Lied?«, fragte sie auf deutsch. Adriano, der in mehr als vierzig Jahren Dienst auf dem Canale Grande unglaublich vielen Touristen begegnet war, konnte sich in mehreren Sprachen verständigen. Deutsch sprach er am besten. So antwortete er fehlerfrei mit tiefer, warmer Stimme. Endlich erschien ein Lächeln auf dem Gesicht der Fremden.

»Das war das Lieblingslied meiner Mutter«, erklärte die junge Frau. Erst jetzt wurde Adriano bewusst, dass sein Gast schwarz gekleidet war.

»Sie sprechen in der Vergangenheit?«

»Sie starb vor zwei Monaten. Ich sichtete ihren Nachlass und fand Spuren, denen ich nachgehen muss.« Das letzte Wort hatte sie mit viel Betonung ausgesprochen.

 

Adriano horchte dem Klang der jungen Stimme nach und wieder zogen Erinnerungen wie Nebelfetzen an ihm vorüber. Ein lange verklungenes Lachen blitzte wie ein Sonnenstrahl in seine Gedanken.

»Wie hieß Ihre Mutter?«

»Anna-Maria.«

Adriano zuckte zusammen. Anna-Maria. Wie lange war das her? Fünfundzwanzig Jahre mindestens. Sie war damals so jung wie diese Frau hier – und genauso schön. Vielleicht war es ein Zufall? Diesen Namen gab es in Deutschland sicher öfters.

»Warum sind Sie hier?« Seine Stimme klang seltsam rau.

»Ich suche meine Wurzeln. Meine Mutter lebte vor einem Vierteljahrhundert als Au-pair-Mädchen in Venedig. Sie sprach nie viel von dieser Zeit. Doch es muss der schönste Sommer ihres Lebens gewesen sein. Ihre geschenkte Zeit nannte sie ihn stets.«

Erschrocken hielt sie inne. Wie kam sie eigentlich dazu, diesem fremden alten Mann so etwas Persönliches zu erzählen?

»Wie heißen Sie?«

»Adrienne.«

 

An diesem Abend führte Adriano die junge Frau in ein kleines Restaurant, von dem er wusste, dass es ihrer Mutter gefallen hätte. Sie hatten sich so viel zu erzählen.

 

Sie blieb vierzehn Tage und als sie abreiste, versprach Adriano, sie und das Grab ihrer Mutter im kommenden Frühjahr in Deutschland zu besuchen. Doch dazu sollte es nie kommen. Adriano starb vier Wochen nach dieser seltsamen Begegnung. Gabriel stand allein am Fußende seines Bettes und winkte freundlich, während Adriano in den ewigen Schlaf glitt.

 

Die junge Deutsche erhielt die Nachricht vom Tode des freundlichen, alten Gondolieres von einem Notar in Venedig, der ihr auch ein Flugticket übersandte und sie aufforderte, am zwanzigsten des nächsten Monats zu dessen Testamentseröffnung zu erscheinen.

 

Ein zweites Mal in so kurzer Zeit machte sich Adrienne auf den Weg.

 

Version 2