Von Marcel Porta

Marc war diesen Weg schon tausend Mal entlanggegangen. Es war sein normaler Schulweg, und er achtete nicht auf seine Schritte. Wozu auch, seine Füße würden ihn ans Ziel bringen, selbst mit geschlossenen Augen.

Dies mag als Entschuldigung für seine Unachtsamkeit gelten, die fatale Folgen für ihn und alle jugendlichen Einwohner der Kleinstadt hatte.

Absolut nichts deutete darauf hin, dass er diesen Weg zum letzten Mal ging.

Er war zu spät aufgestanden, wie immer, hatte das Frühstück zum Leidwesen seiner Mutter ausfallen lassen, und war davongestürmt, bevor sie ihm einen ihrer feuchten Küsse verpassen konnte. Dass sie es aber auch nicht lassen konnte, einen Fünfzehndreivierteljährigen, der sie um Haupteslänge überragte, vor der  Haustür abzuknutschen. Ha, heute konnten sich die Joneszwillinge von nebenan über etwas anderes amüsieren! Alles in allem ein guter Beginn des Tages also, dachte er,  obwohl er seine Mutter im Wegstürmen noch murmeln hörte: „Zum Glück ist Pubertät nicht ansteckend.“ Doch ihre Sorgen waren noch nie die seinen gewesen.
Eben pfiff er den Anfang von  „Auf in den Kampf, die Schwiegermutter naht“, da trat er – wir erwähnten ja schon, wie unachtsam er an diesem Morgen war – mit dem linken Fuß auf etwas Weiches, Klebriges, das an seinen Schuhen haften blieb. Ein Mückenschiss von Zufall, denn fünf Zentimeter weiter links oder rechts wäre er daran vorbeigelaufen und sein Leben wäre weiter gradlinig verlaufen, er hätte das Studium der Rechte mit Auszeichnung absolviert, hätte eine Frau namens Michaela geheiratet, zwei süße Bälger in die Welt gesetzt und wäre steinalt geworden.
So aber trat er auf dieses Ding und bückte sich, um den lästigen Batzen, der sich an seinen Schuh geheftet hatte, in Augenschein zu nehmen.

 

„Verflixt, was ist denn das für ein Zeug“, fragte er sich, doch das war die letzte Frage, die zu formulieren er in der Lage war.

„Autsch!“, brachte er noch heraus, dann kippte er um und lag der Länge nach auf der Straße.

Niemand war in der Nähe, und so blieb seine Metamorphose unbeobachtet. Es fing mit dem Bein an, das auf den gallertartigen Klumpen getreten war. Es blähte sich auf, sodass die Hose aus den Nähten platzte. An den Knöcheln begann es, lief wie eine Welle am Bein hoch und erreichte innerhalb von Sekunden Marcs Schritt.

Auch dort gab es eine Schwellung, die ihm unter anderen Umständen ein freudiges Grinsen entlockt hätte, bevor die Welle sich teilte und in zwei Richtungen verlief. Eine wanderte das andere Bein hinab, die zweite breitete sich nach oben aus. Sie dehnte den Brustkorb, sodass alle Knöpfe vom Hemd sprangen, bevor sie sich erneut teilte. Beide Arme schwollen synchron an und die Hände sahen vorübergehend wie Bockwürste aus, die er zu Lebzeiten so gerne gegessen hatte.

Eine weitere Welle erreichte den Kopf, ließ die Augen aus den Höhlen treten, sodass sie einem Chamäleon Konkurrenz machen konnten, ehe die Augenbälle wieder in den von der Natur dafür vorgesehenen Öffnungen verschwanden.

 

„Ähem, krrrz, pfffffstt!“ Die Laute, die seinem Mund entfleuchten, klangen nur entfernt menschlich, ähnelten eher einer Kreissäge, die einen Blasebalg imitiert.

Immerhin erhob sich das, was man inzwischen wieder für Marc Siebenweck halten konnte und wir der Einfachheit halber weiter mit seinem Namen benennen wollen. Wenn er auch torkelte wie ein besoffener Storch in Stöckelschuhen, so schaffte er es doch nach zwei, drei Schritten, seine gallertartigen Kniegelenke unter Kontrolle zu bringen. Die seitlichen und rückwärtigen Bewegungen, die jedem Chirurgen das Herz hätten höher schlagen lassen, wurden weniger. Einige Schritte später ähnelte der Gang schon dem eines Schimpansen an Bord eines Segelschiffs, und als er hundert Meter weiter um die Ecke bog, konnte man durchaus einen in Lumpen gekleideten und etwas betrunkenen Marc Siebenweck in ihm vermuten.

 

Allerdings bog er nicht zur Schule ab, sondern ging geradeaus weiter auf den Aussichtsturm im Zentrum der Stadt zu.

„Hallo Marc, heute keine Schule?“, wurde er von seiner Tante Mechthild angesprochen. Sie sah schlecht, die Gute, sonst hätten ihr die um seinen Körper schlotternden Kleider und sein etwas derangierter Gesichtsausdruck Kopfzerbrechen bereitet.

„Nnnn…“, begann ihr Neffe und verlegte sich dann darauf, den Kopf zu schütteln. Zum Glück war Tante Mechthild auch schwerhörig und gab sich damit zufrieden. Noch besser allerdings, dass sie ihm nicht hinterherschaute, denn Marc schaffte es nicht, das Kopfschütteln rechtzeitig zu beenden, sodass sich sein Kopf mehrmals auf der Wirbelsäule drehte, bevor er zurück schnellte und erst nach einiger Zeit wieder zur Ruhe kam. Das Gesicht schaute nicht mehr gerade nach vorne, sondern schräg zur Seite, was allerdings seine Bewegungskoordination nicht weiter behinderte. Es begegnete ihm auch niemand mehr, der seine Kopfhaltung merkwürdig hätte finden können.

 

Langsam schleppte sich Marc die Treppe hoch, setzte Fuß vor Fuß und näherte sich dem höchsten Punkt der Stadt. Die Tür am Ende der Treppe war verrammelt, doch ein Faustschlag ließ sie aus den Angeln kippen. Das hässliche Geräusch der splitternden Handknochen wurde vom Scheppern der Tür übertönt.

Marc war mutterseelenallein dort oben. Er suchte sich ein Plätzchen, sank  unvermittelt in sich zusammen und bewegte sich einige Stunden lang nicht.

 

***

 

Trine, Knut und Vinzenz waren erst seit einigen Stunden in der Stadt. Eigentlich hatten sie hier nicht aussteigen wollen, doch der Schaffner hatte die Schwarzfahrer kurzerhand am nächstbesten Bahnhof des Zuges verwiesen. Dass bei den drei Punks auch mit Polizeiunterstützung kein Geld zu holen war, wusste er aus langjähriger Erfahrung.
„Wenn wir schon in diesem Mistkaff gelandet sind, wollen wir das Beste draus machen“, beschwor die lebenslustige Trine ihre beiden Gefährten. Also richtete sie sich ein wenig her, sorgte dafür, dass ihr Busen halb aus dem Kleid hing, und verlegte sich aufs Betteln. Knut und Vinz nutzten die Unaufmerksamkeit der abgelenkten Männer, um sie zu beklauen. Schnell gab es erste Beute.

Mehr als zwei Erfolge waren an einem Ort ohne Gefahr für Leib und Leben nicht zu erzielen, das wussten die drei aus Erfahrung. Also sahen sie sich nach einem Platz um, an dem sie die Beute sichten konnten.

 

Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihnen, denn unseligerweise stach ihnen der Turm im Stadtzentrum in die Augen, und so stiegen sie nach wenigen Minuten die Stufen nach oben.

„Was ist das für ein Kerl dort drüben? Sieht aus, als könnte er  Geld bei sich haben“, flüsterte Knut, der Marc als Erster entdeckt hatte.

„Lass ihn pennen, wir haben genug erbeutet“, gab Trine zurück. Irgendwie kam ihr der Kerl nicht koscher vor.

„Wir können das Geld besser brauchen als er!“, meinte Vinzenz und wusste gar nicht, wie Recht und Unrecht er damit zugleich hatte.

„Also los, du fingerst ihn ab, und ich halte ihn mit dem Messer in Schach.“

Langsam und leise schlichen Knut und Vinzenz auf Marc zu. Knut hatte das Messer gezückt und der kleinere Vinz ließ seine flinken Hände über die Kleidungsfetzen wandern, die um Marc herum drapiert waren.
Plötzlich schloss sich eine Hand wie ein Schraubstock um sein Handgelenk. Vinz stieß einen Schrei aus, der bis ans andere Ende der Stadt zu hören war. Vor Schreck stieß Knut mit dem Messer zu. Es drang in Marcs Brust ein und blieb dort stecken, als Knut in Panik floh. Noch niemals hatte er einen Menschen ernsthaft verletzt, und auch das hier hatte er nicht gewollt.

Vinzenz wollte sich losreißen, doch es gelang ihm nicht. Mit vor Schreck geweiteten Augen schauten Trine und Knut, der sich zu ihr geflüchtet hatte, zu, wie sich der von ihnen für tot oder zumindest schwer verletzt gehaltene Marc erhob. Er trug Freund Vinzenz zur Brüstung des Turms, hob den Unglücklichen hoch, hielt ihn mit zwei Fingern über den Abgrund, als wiege er weniger als ein Taubenschiss und nicht annähernd zwei Zentner, und … ließ ihn fallen.
Der Schrei ihres Freundes verhallte und riss nach wenigen Sekunden abrupt ab. Trine und Knut hielten sich an der Hand, drängten sich angstvoll gegen die Wand hinter ihnen.

„Was machen wir jetzt?“, flüsterte Knut, doch die sonst nie um eine Antwort verlegene Trine brachte kein Wort heraus. Marc drehte sich um, und Knut, der für sein Leben keinen Pfifferling mehr gab, pieselte sich in die Hose.
Ungläubig registrierten sie, dass der Schwerverletzte sie überhaupt nicht beachtete, sondern sich wieder zu seinem Platz begab und in sich zusammensank.
Auf den leisesten Sohlen ihres Lebens schlichen die beiden Eindringlinge zur Treppe, und nach den ersten Stufen beschleunigten sie und stürmten nach unten.

Ruhe kehrte wieder ein auf dem Turm, während sich in der Stadt etwas zusammenbraute. Voller Panik flüchteten Trine und Knut durch die Stadt, schrien sich die Seele aus dem Leib, und als man endlich aus ihrem wirren Gestammel klug wurde, entdeckte man schnell die Leiche am Fuß des Turms. 

Es waren nicht mehr als fünfzehn Minuten vergangen, als sich Sirenengeheul näherte. Das, was von Marc übriggeblieben war, erwachte und kletterte auf das Dach der kleinen Zitadelle, die sich oben auf dem Turm befand.

 

Die Polizisten stiegen bereits die ersten Stufen empor, als Marc seine Metamorphose vollendete. Sein Körper schwoll erneut an, sprengte die letzten Fetzen Kleidung vom Körper und begann zu pulsieren. Ein irre lauter Ton erklang, wie er niemals zuvor in dem kleinen Städtchen zu hören war, und so plötzlich, wie er begonnen hatte, endete er.  Zwei Sekunden später explodierte Marc. Lautlos. Die Fetzen flogen kilometerweit. Die winzigen Brocken von Marc Siebenweck lagen verteilt über die ganze Stadt und warteten geduldig auf unaufmerksame Passanten.

 

© Marcel Porta, 2017

Version 3