Von Heike Weidlich

„Schönes Wochenende Frau Haller. Haben Sie was Schönes vor?“ Neugierig sah Frau Müller Sabine an. „Äh, nein. Hausarbeit, ein bisschen einkaufen, so was halt.“. Damit verschwand Sabine im Fahrstuhl. Sie hatte etwas vor und  deshalb extra eine Stunde früher Feierabend gemacht, aber das würde sie dieser Tratschtante nicht auf die Nase binden, auch wenn sie die einzige war, die sich je für ihre Wochenendaktivitäten zu interessieren schien.

Ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten, grüßte sie Herrn Keller an der Pforte und wünschte ihm einen schönen Sonntag. Entgeistert starrte er ihr nach.

„Ja, glotz nur!“ Sabine wusste, dass beinahe alle ihre Kollegen sowie auch die meisten anderen ihrer Mitmenschen sie für eine eingebildete Ziege hielten.

Früher war das nicht so gewesen. In der Schule hatte sie nie Schwierigkeiten gehabt Freunde zu finden, und auch ein Mangel an Verehrern hatte nie bestanden.

Aber während mit der Zeit beinah alle ihre Freundinnen feste Freunde gehabt hatten, die dann irgendwann zu Ehemännern mutierten, hatte sie immer das Gefühl gehabt, es müsse noch was Besseres kommen.

Als ihre Freundinnen Mütter wurden, wurde sie befördert und stieg die Karriereleiter empor. Jegliche Anspielung der anderen auf Familienglück etc. hatte sie als Einmischung, als Ausbremsen oder einfach nur als Neid empfunden. Während Karin, Helga und Martina den Kinderwagen schoben und Babybrei kochten, traf sie wichtige Entscheidungen und spielte in einer Liga, von der die anderen auf ewig nur träumen würden. Glaubte sie.

Mit der Zeit veränderte sich die Beziehung zu ihren Freundinnen. Die Gespräche verloren ihre Leichtigkeit, – sie wurden mühsam. Die Erzählungen über die „Abenteuer“ der Kleinen langweilten sie. Wenn sie ihrerseits über spannende Verhandlungen und Transaktionen aus ihrem Arbeitsalltag berichtete, konnten die anderen ihr kaum folgen und landeten schnell wieder bei ihren Kindergeschichten. Sie entfremdeten sich zusehens. Heute trafen sie sich höchstens noch einmal im Jahr oder telefonierten miteinander. Für neue Freundschaften hatte sie nie Zeit gehabt.

Mittlerweile gehörte sie zu den Senior-Experten. Junge, gut ausgebildete Leute rückten nach. Alle hatten studiert, während sie noch klassisch eine Ausbildung absolviert, und sich durch harte Arbeit sowie diverse Lehrgänge von ganz unten hochgearbeitet hatte. Sie war 58 und das Fossil der Firma.

Als sie in ihre Wohnstraße einbog, bot sich ihr das gleiche Bild wie immer: Nachbarn, deren Namen sie nicht kannte, und die sie seither auch nicht interessiert hatten. Sie hatte keinerlei Kontakt zu den Anwohnern in ihrer Straße. Die Kinder konnten sie nicht leiden und machten sich heimlich über sie lustig. Seither hatte sie so getan, als bemerke sie es nicht.

Seit ein paar Tagen war jedoch alles anders, – so konnte es nicht weitergehen.

Endgültig klar geworden war ihr dies vor zwei Wochen, als sie mit Karin telefoniert hatte. Diese hatte sie gefragt was sie an den Feiertagen vorhatte. Zum Glück hatte sie vor lauter Begeisterung über ihre eigenen Unternehmungen nicht bemerkt, dass Sabine keine Antwort auf ihre Frage gegeben hatte. Dies aus dem einfachen Grund, weil Sabine keine Pläne hatte. Niemand hatte sie gefragt, ob sie die Feiertage mit ihm verbringen würde oder sie eingeladen. Auch sie hatte niemanden eingeladen, sie hätte nicht gewusst wen.

Als sie den Hörer aufgelegt hatte war es nicht mehr zu leugnen oder schönzureden gewesen. Sie war einsam, unglücklich und allein, – und es war ihre eigene Schuld.

Als sie zwei kleine Mädchen auf ihren Rollern vorbeiflitzen sah, rief sie den beiden hinterher: „Ähm mögt Ihr Himbeerbonbons? Damit hielt sie ihnen eine Tüte roter Bonbons unter die Nasen. Wie heißt ihr gleich noch mal?“. Erstaunt sahen die Mädchen sie an. „Ja, klar, ich heiß Anna und das ist Marie“ Damit riss Anna ihr die Tüte aus der Hand und schon fuhren die beiden weiter. „Danke“ riefen sie noch als sie um die Ecke bogen.

Als sie an der Schuhmacherwerkstatt vorbeikam, trat Herr Huber gerade aus der Tür. „Hallo Frau Haller. Schon Feierabend?“. Früher hätte sie maximal ein knappes „Ja“ gebrummt. Aber ihr neues Ich gab den Befehl zum Anhalten. „Ja, ich habe heute früher Schluss gemacht, weil ich noch in die Stadt fahren will“ „Bei dem Wetter? Es ist massiver Schneefall ansagt. Ich muss auch noch was besorgen. Ich fahr allerdings mit dem Bus. Mein Auto ist gerade in der Werkstatt.“. „Schönen Abend noch“ Sabine ging weiter. So viel hatte sie seit Jahren nicht mehr mit einem ihrer Nachbarn geredet.

Zuhause angekommen fiel ihr sofort der Brief ins Auge. Sie hatte ihn gestern Abend fertig gemacht und auf dem Küchentisch an die Vase gelehnt. Da stand er nun und wartete auf die Erfüllung seiner Mission. Sie nahm ihn vom Tisch, drehte und wendete ihn und steckte ihn dann kurz entschlossen in ihre Handtasche. Zurückzucken war keine Option. Sie würde das Inserat aufgeben und mit ein wenig Glück würde sie Weihnachten nicht wieder alleine verbringen.

Sie machte sich auf den Weg zu ihrem Stellplatz und setzte sich ins Auto. Der Wagen gab keinen Mucks von sich. Ausgerechnet heute!

In diesem Moment kam Herr Huber vorbei. „Hallo Frau Haller, Probleme?“ „Mein Wagen springt nicht an“. „Lassen Sie mich mal sehen“. „Also, ich bin ja kein Fachmann auf diesem Gebiet, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Batterie hinüber ist“.

Verzweifelt sah Sabine ihn an. „Was mach ich denn jetzt? In einer halben Stunde habe ich einen Termin beim Friseur.“ Wichtiger war jedoch der Brief. Wenn sie ihn heute direkt bei der Redaktion einwarf, könnte es noch klappen, dass die Anzeige in der nächsten Ausgabe der „Bekanntschaftsanzeigen“ erschien.

„Kommen Sie doch mit zum Bus“ riss Herr Huber sie aus ihren Gedanken. „Der fährt in acht Minuten, da kommen Sie noch rechtzeitig zu Ihrem Termin“.

„Also, ich steig hier aus. Vielleicht sehen wir uns bei der Rückfahrt wieder. Einen schönen Abend noch“. Damit stieg Herr Huber zwanzig Minuten später aus. Als der Bus an der nächsten Station hielt, sprang Sabine aus dem Bus und rannte zum Friseur. Den Brief musste sie nachher einwerfen sonst kam sie zu spät.

„Guten Tag Frau Haller, das Gleiche wie immer?“ fragte ihre Friseurin, bei der sie bereits seit Jahren Stammkundin war. „Warten Sie Frau Münster“ hörte Sabine sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen. Seit Jahren wenn nicht gar Jahrzehnten trug sie die gleiche Frisur. Sie hatte lange, glatte, ehemals dunkle Haare. Früher hatte das ziemlich gut ausgesehen. Mittlerweile war ihr Haar von grauen Strähnen durchsetzt, was sie älter erscheinen ließ als sie war. Außerdem trug sie ihre Haare seit Jahren nicht mehr offen, sondern als Dutt. Aber davon hatte sie jetzt genug. Ihr neues Ich brauchte eine neue Frisur.

„Schneiden Sie sie ab“ „Was?“ entsetzt sah die Friseurin sie an. „Und bringen Sie mal ein bisschen Farbe in diese Angelegenheit“ „So?“ Frau Münster hob ihre Hand so an Sabines Kopf, dass sie ca. drei Zentimeter über den längsten Haaren lag. „Nein, so“ Sabine legte ihre Hand an ihr Kinn und musste ein Grinsen unterdrücken, als sie das Gesicht von Frau Münster sah. Diese riss sich zusammen: „Na, dann wollen wir mal, aber auf Ihre Verantwortung.“

Zwei Stunden später sah Sabine fasziniert in den Spiegel. Ihre Augen trafen sich mit denen der Friseurin. „Es ist nicht zu fassen. Das hätten wir schon längst tun sollen!“ Sabine verließ den Friseursalon. Mittlerweile hatte der vorhergesagte heftige Schneefall eingesetzt.

Auf dem Weg zur Redaktion kam sie an der Bushaltestelle vorbei. Dort warteten bereits einige Menschen, unter ihnen Herr Huber. „Fahren Sie schon zurück?“ Herr Huber fuhr herum und starrte sie an. Ungläubigkeit machte sich auf seinem Gesicht breit. „Frau Haller? Das ist ja nicht zu fassen! Sie sind ja kaum wieder zu erkennen. Sie sehen fantastisch aus!“  Entsetzt stammelte er: „Entschuldigen Sie bitte, so war das nicht gemeint, ich meine, äh, ich wollte nicht sagen, dass Sie vorher nicht auch gut ausgesehen hätten, also“ Herr Huber verstummte. Sabine lachte: „Schon gut, ich nehme es als Kompliment. Also was ist jetzt, wollen Sie bereits nach Hause fahren?“

„Wollen ja, allerdings läuft hier wohl in den nächsten Stunden gar nichts. Sie wissen ja, kaum fallen drei Schneeflocken vom Himmel, bricht der Verkehr zusammen. Auch ein Taxi ist im Moment nicht zu kriegen“.

 

Herr Huber musterte Sabine. “Hätten Sie Lust mit mir einen Tee zu trinken? Gleich da drüben ist ein nettes Café“ Sie bestellten Tee mit Schuss und unterhielten sich über die Arbeit von Herrn Huber. Er erzählte viele lustige Anekdoten aus seiner Werkstatt. Als er sie nach ihrer Arbeit fragte, wehrte sie ab: “Ich hab vor allem viel mit Zahlen und Daten zu tun.

Nicht sehr spannend“. Ganz wider Erwarten wirkte Herr Huber keineswegs gelangweilt. Durch sein Interesse ermutigt, begann sie sich zu entspannen. Plötzlich fielen ihr auch witzigere Begebenheiten ein. So trocken war ihr Alltag doch gar nicht.

Als das Café schloss, schauten sie sich enttäuscht an. Eigentlich hatten weder Sabine noch Herr Huber Lust jetzt heimzufahren und so wechselten sie in die Bar nebenan. „Was möchten Sie trinken, Frau Haller? Sekt?“ „Ja, das wäre nicht schlecht. Aber sagen Sie doch Sabine zu mir“. Herr Huber nickte: „Gern, ich bin Michael“.

Als Sabines Lieblingslied aufgelegt wurde, sah sie Michael fragend an: „Hast du Lust zu tanzen?“ „Sehr gern“. Michael stand auf und es stellte sich heraus, dass er ein hervorragender Tänzer war.

Und so tanzten, tranken, erzählten und lachten sie, bis auch die Bar zumachte. An Sabines Haustür verabschiedeten sie sich. „Also, bring mir morgen früh deine Stiefel, damit du keine kalten Füße bekommst“. Er zögerte kurz. „Und morgen Abend würde ich dich gerne zum Essen einladen. Magst du?“ „Sehr, sehr gern. Gute Nacht Michael, bis morgen“.

Michael drückte sie kurz an sich. Als Sabine den Haustürschlüssel aus ihrer Tasche hervorkramte fiel ihr der Brief in Hände. Den hatte sie ja völlig vergessen. Aber das machte nichts, sie brauchte ihn nicht mehr.