Von Kornelia Wulf

Und dann stehe ich wieder da. Vor der Kulisse, Traumszene 23. Vor dieser Leinwand, straff gespannt. Über Holzrahmen, die – völlig eindimensional – bis in den Himmel ragen. Die Farbe – irgendwie ungesund – lässt mich an Braunbier mit Spucke denken. Als sei ein Schwamm über den Stoff hinweggerauscht. Habe alle Farben aufgesaugt. Wie festgenagelt verharre ich auf diesem Fleck, kann hier nicht weg, und da ist kein Lüftchen, das in meine Nase weht, kein Duft von Wiesenkraut, kein Abgashauch, kein Knattern aus Auspuffrohren und auch das Gezwitscher aus Blaumeisenschnäbeln fällt heute aus. Nur dieser dunkle Spalt – direkt vor meinem Bauch – wölbt sich wieder vor mir auf. Und meine Finger krabbeln voran, betasten den Karst, zu dem er gehört, streicheln die Höhlensteinfalten. Und wieder beuge ich mich vor, presse mein Ohr auf den nackten Felsenspalt. Spür´ wie die Kälte, die aus ihm strömt, in mir klirrt, als plötzlich ein Pinsel in die Szene schießt. Er tänzelt herum. Summt dideldum … Bis auf der Leinwand ein Mülleimer erscheint, verwegen kreiert, mit ein paar Strichen skizziert, aus dem Gestank aufsteigt …

… und …

… das Bild zerfällt, als ich auf Claas schaue. Der leise schnorchelt im Schlaf, die Mimik weich, als habe ihn gerade ein Engel geküsst. Aus seinen Lippen, nur spaltbreit geöffnet, entweicht ein strenger Hauch. Tartar mit Zwiebeln, denke ich, und die Pulle Bier gestern Abend.  Und den Blick auf der 5, der 0 und der 8 auf dem Radiowecker, verkrieche ich mich tief in die Decke …

als der Klingelton Mr. Sandman säuselt, der, anstatt nochmal nach zu streuen, kräftig in meinen Augen reibt und die letzten Körnchen dort vertreibt. Stöhnend quäle ich mich hoch, taumele über den Flur, das I-phone fest umklammert. Biege rechts ab dann in die Küche. Nicht ohne mir – noch halb gefangen im Schlaf – den großen Zeh anzuhauen. Am Chromfuß unseres neuen Barhockers.

„Verdammt“, fluche ich mit gebremster Kraft, damit wenigstens Claas noch ein, zwei Stunden schafft, während mein Finger den Slider wischt und ein Räuspern in mein Ohr eindringt.

„Lara?“

Hugos Stimme, denke ich, wieder so gequetscht. Und schon bläht sich sein fleischiger Hals vor mir auf, der – wie immer zu eng geknöpft – über den steifen Kragen quillt. Sein Teint blüht dann auf. Hahnenkammrot. Als ereile ihn bald der Bluthochdrucktod.

„Hey, Kollege, was ist los?“, murre ich. „Wenn das jetzt was Privates ist.“

„Was? Lara, red´ nicht so´n Quatsch. Hör´ einfach zu. Tada!“ Seine Stimme schlägt nun einen Falsettbogen. „Ich sage nur, dein erstes Mal. Juhu! Die Krise ruft. Also, gib Gas. In fünf Minuten bin ich bei dir.“

Einen Moment lang trifft mich der Schlag – der aber irgendwie keine Funken sprüht – als ich zurück über die Flurdielen tapsend den Kleiderschrank öffne. Und meine Beine fühlen sich beinahe teigig an, während ich sie in die Jeggings stemme. Was nicht an dem großen Zeh liegen kann, in dem es – mittlerweile dick wie ein Kugelfisch – heftig puckert. Den Blick fest auf den Ankleidespiegel geheftet, denke ich, das kann doch nicht, dass ich, Lara Hofer – Abitur und Master mit Eins gewuppt, alle Konkurrenten mal eben weggekickt bei der Bewerbung um die Polizeipsychologenstelle – jetzt plötzlich schwächele.

Humpelnd eile ich drei Stockwerke hinab, nachdem Hugo nur kurz geklingelt hat, der an diesem frühen Morgen so seltsam frisch aussieht. Die Linie des Scheitels schnurgerade gezogen und nirgendwo ein Fussel auf der tarnfarbenen Hose.

Und während er auf die Tube drückt,

 „Alles easy?“ fragt – mich dabei voll anguckt – setze ich meine coole Maske auf.

„Na dann. Auf geht`s. Notfalleinsatz im Ahornviertel.“

Na prima, denke ich, Ahornviertel. Denn das, was wie ein botanischer Schlupfwinkel klingt, beherbergt ein sensibles Brennpunktgebiet. In dem das Gras schon zwischen den Kinderfingern glüht und nicht unter zarten Fußsohlen blüht. Selbst den Gestandenen aus dem Wir im Revier schlottert hier beim Einsatz die Uniformhose.

Und – wen schicken die?

Den PM Hugo Wacker, der sein A im Dienstgrad für Anwärterschaft erst letzte Woche verloren hat. Und Frau Lara Hofer – wenn man genau hinschaut, kleben da noch ein paar Eierschalen hinter den Ohren – ein Greenhorn eben, das mehr wackelt als sitzt in seinem Psychologensattel.

Ein Knäuel aus Zweifeln schnürt mich ein. Unser Ziel rückt immer näher. Im milden Glanz des Frühsonnenstrahls scheinen die Hochhaussilhouetten in Honig getunkt zu sein. Dann. Der Wagen stoppt. Und während er fest die Handbremse zieht, den Kopf in meine Richtung gedreht, flattert seine Stimme nun im Kastratentimbre,

„Eine weibliche Person. Auf dem Dach. Haus Nummer 10. Das hat uns der Hausmeister des Viertels gemeldet. Du weißt schon …“,

(Mensch Wacker, lass bloß dieses kryptische Grinsen sein)

und schnappt sich vom Rücksitz die Einsatztasche.

Eine dürre Gestalt vor grauem Beton stellt sich als „Pauli, Hausmeister“, vor. „Da sind Sie ja endlich“, mault er grimmig. Eine Fluppe zwischen den Lippen rollend, betritt er mit uns den Aufzug  des hohen Hauses, das achtzehn Stockwerke bis zur Dachfläche misst. Ein unflätiges Fluchen bricht aus Pauli heraus, als er – das Schweizermesser wie einen Dolch in seiner Faust – hektisch an einem Kaugummi schabt, das eine Symbiose mit dem Bedienungstableau plant. Und während der Lift nun sachte rumpelt, grummelt er etwas von Junkiepack. Und Mutter Hartz, die diesem Abschaum Obhut gewährt.

Warum kannst du nicht einfach die Klappe halten, denke ich, und in meine Nase kriechen Asbach Schwaden. Bestimmt nicht uralt, sondern noch morgenfrisch.

Beim Aussteigen kippe ich fast auf Pauli, als sein plumper Knobelbecher meinen Kugelfisch voll erwischt. Ich folge ihm humpelnd, Stufe für Stufe. Versuche, den Schmerz zurechtzurücken, auf der schmalen Bodentreppe, bis er die Luke zum Himmel öffnet. Mit beiden Beinen fest auf dem Flachdach stehend, dröhnt plötzlich in mir diese markige Stimme

Der Weltraum … Unendliche Weiten

Warum fällt mir nur das verstaubte Raumschiff ein. Jetzt, in diesem Moment. Wahrscheinlich ein hartnäckiges Abwehrmanöver. Nicht gegen das Dominion. Nein. Sondern gegen dieses seltsame Wesen, das zirka dreißig Zentimeter entfernt vom Abgrund steht. Und – mit Verlaub – ziemlich albern aussieht. Der Kopf versteckt in einer schwarzen Kapuze, die Schenkel bedeckt fast bis zur Hälfte von einem schlabbrigen Riesenhoodie. Darunter weiße Zitterbeinchen. So dünn, dass sie mich an Häkelnadeln erinnern. Mit letzter Kraft unterdrücke ich ein Lachen, als Wortfetzen zu mir hinüberwehen.

… Klappse … völlig durchgedreht … (Pauli)

… Schweigepflicht … klar, verstehe … echt ernst, die Sache … Gefahr in Verzug … (so tapfer insistiert mein Lieblings Wacker),

der sich anschleicht über Bitumenbahnen, bis sein gequetschter Flüsterton mein offenes Ohr erreicht.

„Plötzlicher Kindstod. Das arme Kleine. Und sie, die Mutter, lag neben ihm. Komplett zugedröhnt. Das darf man sich gar nicht vorstellen. Danach dreizehn Wochen auf der Geschlossenen. Im Rochus-Hospital. Die haben Frau Boll – so heißt die junge Dame – wohl wieder hingekriegt. Das sagte zumindest Dr. Schneider, gerade eben, als wir telefonierten. Dann, letzten Monat, ist eine Teenie-Mutter in ihre Nachbarwohnung eingezogen. Mit einem Schreikind. Tag und Nacht soll der Wurm geplärrt haben. O-Ton Pauli“, von tief unten herauf schnauft Hugo auf, „ach ja.“

Zwischen den Schultern rinnt der Schweiß. Die frühe Sonne gibt heute alles. Ihre Hitze sitzt mir im Nacken. Warum kann mich ihr Strahl nicht in Pünktchen zerteilen. Als leuchtende Hülle weit weg von hier beamen. Und während ich mich der verbotenen Zone nähere, dem Raum, der unerwünschte Erinnerungen beherbergt, rutscht die coole Maske über die Wangen. Vergeblich versuche ich sie aufzufangen.

Du hast es gespürt, dass ich dir die kalte Schulter zeigte. Grenzenlos wuchs meine Angst, ließ keinen Platz in mir.

All die Gedanken rotierten wie ein verrückter Kreisel. Ich bin doch erst 19, hab´ ich zu dir gesagt. Das Studium und dieses Wahnsinnszimmer – das ich im Netz ergattert hatte – alles zerbricht in tausend Scherben, die man nie wieder zusammenfügen kann. Oh, du fragtest nach deinem Vater. Verzeih mir, so viele Drinks im Magen, die konnte ich noch nie vertragen. Erst spät kam er auf Annis Fete. Axel hieß er (oder Alex?). Wir haben uns nicht gesucht, nur gefunden, für ein, zwei betörend schwitzige Stunden.

Zähflüssig wie Teer, die Stunden, die Tage, bis sie den Strom der Zeit erreichten, dann leichter flossen. In diesem Moment haben wir beschlossen, dass wir es miteinander versuchen wollen.

Dann. Am Dienstag. 23. Woche – nicht den Bruchteil einer Sekunde werde ich jemals vergessen – hast du mich im Stich gelassen.

Fokussiert auf dich mit allen Sinnen, werfe ich meinen persönlichen Kram in die weit entfernteste Erinnerungslade. Husche heran, nur ein paar Schritte – und übertrete hiermit jede Regel – bevor ich dich behutsam anspreche. „Hey, Lara mein Name. Okay, ich habe verstanden. Für dich ist es jetzt so weit. Du willst springen? Aber nur zu zweit.“ Ihr Kopf, er dreht sich zögernd um. Sie nestelt an der Kapuze herum, aus der Igelstacheln ragen. Und während sie weit die Augen aufschlägt, unser Blick sich anzieht wie ein Magnet, rollt da eine Träne. Etwas strömt zwischen uns – hin und her – für das es keine Worte gibt. Und ich spür´ wie die kalten Krabbelfinger, die Knochen kaum von Haut bedeckt, sich in mein warmes Handpolster schmiegen. Fuß vor Fuß, Stück für Stück, ziehen wir uns dezent vom Abgrund zurück.

***

Und dann stehe ich wieder da. Traumszene 23. Weich blüht der Samt unter meiner Hand. Grün strahlt die Höhle in der Sonne, mit einem Teppich aus Moos bespannt. Und aus dem schmalen Felsenspalt steigt ein warmer Luftstrom auf, trägt dich in die Freiheit. Schon sehe ich dich schweben, du zartes Ding, du, mein bunter Schmetterling. Deine Flügel flattern nah heran, streifen zärtlich meine Wangen – keine Angst, kleiner Freund, ich will dich nicht fangen – bevor sie durch die Lüfte gleiten. In unendliche Weiten. Bis dorthin, wo die Sterne wohnen.

 

V3