Von Gabriele Sodeur

Neulich war ich zum  ersten Mal auf einem Poetry-Slam und habe daran auch gleich teilgenommen.
Den Wettbewerb habe ich natürlich nicht gewonnen,
aber ganz viele Anregungen mit nach Hause genommen.
Mir ging zum Beispiel überhaupt nicht aus dem Kopf,
was da Eine so von sich erzählt hatte, kämpfte sie doch
ihr ganzes Leben lang darum, endlich „groß“ zu sein
und nicht überall die Kleine „bloß“ zu sein.
Bei ihrem Lehramtsstudium trug sie sich für die Grundschule ein,
weil sie dort die Chance hatte, größer als ihre Schülerinnen und Schüler zu sein.
Speziell für kleine Lehrerinnen ist das wirklich ein zentrales Problem,
war es in meiner Schulzeit auch schon und für mich, als große Schülerin, überhaupt nicht schön!
Allein dadurch, dass ich sie um drei Kopf überragte, fühlten sich kleine Lehrerinnen, auch mit ihrem Wissen,
mir gegenüber oft unterlegen und meinten,
das durch besondere Ungerechtigkeit kompensieren zu müssen.
Sie fühlten sich unwohl in meiner Gegenwart und bekamen Schmerzen. Ich aber auch,
und zwar an der gleichen Stelle wie sie, nur war bei ihnen da der Kopf und bei mir der Bauch.
Im Gegensatz zu der Lebensproblematik dieser kleinen Frau,
stellt sich meine andersherum dar und zwar ziemlich ganz genau:

Es fing alles damit an,
als ich in die Schule kam.
Da war ich noch nicht mal sechs, und da wurde mir schon klar,
dass bis jetzt mein ganzes Leben nur ein Zuckerschlecken war.
Denn ab da, ein Jahr zu früh,
zwang die Schul‘ mich in die Knie.
Ich gab dort meine Freiheit her,
für alle Zeiten und noch mehr.
Verspielt war sie für Rechnen, Schreiben, Lesen.
Und die Größte in der Klasse bin ich mit fünf trotzdem gewesen!

„Du bist so klein und niedlich und heiter ist Dein Blick,
Gott möge dich erhalten zu deiner Eltern Glück.“
Das schrieb mir eine Freundin ins Poesiealbum hinein
doch der Spruch, der war absurd, denn ich war ja niemals klein.

Ich war mit vierzehn
schon einsneunundsiebzig-Komma-fünf, knapp einsachtzich
und da dacht‘ ich, ‘mein Gott, wachs ich
denn noch weiter?‘
„Mensch kiek ma, der braucht ja ‘ne Leiter“,
wurde hinter meinem Rücken gefeixt und gelacht,
als ich mit meinem ersten Freund spazieren ging. Das hat keinen Spaß gemacht.

Meine beste Freundin, ja die war klein und niedlich, mit modisch kurzem Haar und schönem Hinterkopf.
Ich war groß und unhandlich, lange Haare, Seitenzopf. 

Ich war sechzehn
und ich hoffte, dass diese spießigen Erwachsenen, diese saudummblöden Zwergdödel-Affen,
endlich mal aufhörten, hinter mir her zu reden und zu gaffen:
„Guck mal, die ist aber groß!“
„Ja, guck doch mal bloß!“ 
Das fühlte sich an in meinem Rücken,
wie Stiche von mindestens einer Million Mücken.

Auch meine Mutter brachte mich manchmal zum Weinen,
dabei wollte sie‘s ja nur gut mit mir meinen.
Doch schon damals wusste ich, das ist das Gegenteil von gut
und heulte deswegen nur noch mehr, nämlich aus Wut,
wenn sie mich, und das allerorten,
jemandem vorstellte, mit den stets gleichen Worten:

„Das ist MEINE KLEINE.“

Oh, fand ich das immer peinlich.
Oder war ich da zu kleinlich?

 

Denn mit Blick ins Stammbuch der Familie,
auf der väterlichen Linie,
sah ich, sie war‘n alle groß.
Das ging schon mit meinem Vater los:
Bei einszweiundneunzig hatte er zwar Schuhgröße achtundvierzig „bloß“,
dafür maß Opa einsachtundneunzig und seine Schuhe waren zweiundfünfzig groß!
Doch von allen meinen  Ahnen,
lässt sich heute noch erahnen,
war am größten der mit den
Zweimeterundzehn!

 

Das war mein Ur-Ur-Opa, doch ich sag Euch ehrlich,
das war für einen Mann auch vor Ur-Ur-Zeiten trotzdem nie und nimmer so beschwerlich,
wie für mich mit siebzehn, und das fand ich gar nicht „witzich“,
meine Größe von einsneunundsiebzig-Komma-fünf und Schuhgröße einundvierzich!

Ja, meine beste Freundin, die war klein und niedlich, für Jungens was zum Schmusen.
Ich war groß und unhandlich, was nütze da mein Busen,
den ich schon hatte,
sie hatte nur Watte,
und trotzdem knutschten die Jungs mit ihr
und nicht mit mir!
Und beim Tanzen, da legte sie den Kopf an der Knaben Brust.
Bei mir, da war das umgekehrt, das vertrieb der Knaben Lust! 

Ich war groß und unhandlich, und fühlte mich, wie ein zu großes Baby
und seh wie
zierlich, liebreizend und ganz entzückend,
klein und niedlich und sehr heiter blickend,
meine beste Freundin mit dem modischkurzen Haar und dem hübschen Hinterkopf,
von allen bewundernd angeschaut wird, weil sie ihren blonden Schopf
mit einem Cowboyhute krönte
und erwähnte,  
dass ihr Vater – in einer Hutfabrik Prokurist –
ihn ihr geschenkt hatte. So ein Mist!

Aber, kurz und gut,
zu meiner allergrößten Freude schenkte er auch mir, als Freundin seiner Tochter, so einen Hut.
Und, damit er mir genauso gut, wie meiner besten Freundin stand,
ließ auch ich mir die Haare modisch kurz schneiden, weil ich fand,
dass der Hut viel besser an mir aussah,
wenn ich aussah, wie sie aussah

Da hatte nun auch ich modisch kurzes Haar und einen schönen Hinterkopf,
mit dem Unterschied, dass die Frisur bei mir eher aussah, wie ein Topf.
Die Jungens gingen nur noch mit verdeckten Augen an mir vorbei,
doch mit dem Cowboyhut auf dem Kopf, war mir das ziemlich einerlei!

Die Erwachsenen, die gafften jetzt erst recht hinter mir her,
doch mit dem Hut auf meinem Kopf, störte mich das jetzt nicht mehr.
Ich zog sogar noch extra hohe Schuhe an und zusammen mit dem Hut,
war ich einsfünfundachzig, und dazu brauchte es Mut!

Ich war achtzehn, und der Hut tat mir gut.

Der Hut, er hat mein Selbstbewusstsein ungemein gestärkt,
aber andrerseits hab ich natürlich damals auch gemerkt,
dass die Menge aller der Jungs, die größer war‘n als ich
proportional immer kleiner wurde, doch auch das kümmerte mich nicht,
denn ich schloss mit meiner besten Freundin einen ganz genialen Pakt:
Wenn Einer größer wär als ich, dass dann sie hätt‘ so viel Takt,
dass sie ihn mir dann „überlasse“.
So eine Freundin ist wirklich Klasse!

Trotzdem dauerte – für mich gefühlt – es immer noch recht lange,
bis eines Tages, ohne mich zu bücken, Wang an Wange,
ich mit einem Jungen tanzen konnte und zum Schluss,
gab ich ihm – für ihn völlig überraschend – einen Kuss.

Ich war neunzehn und ich fand ganz wunderbar,
dass ab da, ich nun SEINE KLEINE war.

 

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