Von Franck Sezelli

Klaus und Herbert sitzen in der Strandbar bei einem Glas Wein und schauen aufs Meer, das glatt und friedlich in der Sonne liegt. Die vorbeiziehenden weißen Segel verleiten zum Träumen. »Wir haben es doch wirklich gut«, spricht Klaus aus, was Herbert eben auch dachte. »Ich glaube, je älter man wird, desto besser kann man das Leben genießen.«

»Richtig, früher musste man sich immer irgendwie beweisen.« Herbert schwelgt in Erinnerungen. »Es gab immer wieder Neues, das begann ja schon mit dem Wechsel von der Schule an die Universität beispielsweise.«

»War das eine Herausforderung für dich?« Klaus kennt Herbert nun schon lange. Im Laufe der Zeit, in der sie beide jedes Jahr den Sommer hier am Mittelmeer verbringen, hat sich zwischen dem Göttinger und dem Leipziger eine freundschaftliche Beziehung entwickelt.

»Oh ja!«, antwortet Herbert. »Fachlich hatte ich im Studium nie größere Probleme, aber noch vor dem Vorlesungsbeginn ging es los. Plötzlich war ich Einsatzleiter, Chef von sechsundzwanzig Leuten – und das in der Landwirtschaft!«

»Ich verstehe nicht«, unterbricht Klaus seinen Freund. »Einsatzleiter? Landwirtschaft? Hattest du nicht Mathematik studiert?«

»Ja, ja. Es war  im Vorbereitungslager für die Studienanfänger. Dort wurden wir in Seminargruppen eingeteilt, hörten Vorträge zu Philosophie, Lernmethoden, Gedächtnistraining, Empfängnisverhütung … Natürlich auch Politisches. Alle möglichen Professoren kamen dahin.«

»Und was hat das mit Landwirtschaft zu tun?«

»Entschuldige! Damals wurden Studenten im Herbst in der Ernte eingesetzt, meist in den Kartoffeln oder Zuckerrüben. Zu meiner Zeit waren es die ersten beiden Studienjahre, die auf die Dörfer geschickt wurden.«

»Du hattest vorhin etwas von Einsatzchef oder so gesagt. War das in diesem Lager?«

»Nicht direkt, der Ernteeinsatz fand nach dem Vorbereitungslager statt. Unsere künftigen Seminargruppenberater waren mit im Lager, leiteten die Kennenlernrunden, führten Einzelgespräche und prüften auch schon mal unsere mathematischen Vorkenntnisse.«

»Seminargruppenberater?«

»Wissenschaftliche Assistenten, die Übungen und Seminare leiteten. Unser Studienjahr bestand aus zwei Seminargruppen, jeder war ein solcher Assistent als Berater zugeordnet.«

»Ein bisschen wie ein Klassenlehrer?«

»Wirklich nur ein bisschen. Jedenfalls wurde ich von den beiden als Einsatzleiter für den Ernteeinsatz bestimmt. Ich weiß bis heute nicht, wieso sie gerade auf mich kamen. Schließlich war ich damals eigentlich recht schüchtern und fast der Jüngste der Gruppe mit meinen neunzehn Jahren.«

»Waren die anderen nicht gleich alt?«

»Die meisten schon, alle, die gleich nach dem Abitur mit dem Studium begonnen hatten. Aber es gab einige, die hatten sich erst später zum Studium entschlossen. Peter und Ulrich hatten Berufsausbildung mit Abitur gemacht, das dauerte länger, waren also auch älter. Lutz war auf den Tag genau sieben Jahre älter als ich und hatte schon ein Ingenieurstudium hinter sich.«

»Irgendwie musst du dich von den anderen herausgehoben haben in den Augen dieser Assistenten«, gab Klaus zu bedenken.

»Vielleicht hing es damit zusammen, dass ich schon an einem Schülerseminar am Institut teilgenommen hatte. Den Einsatzleiter der zweiten Gruppe kannte ich auch von dort. Wir waren beide bei den Mathematik-Olympiaden recht erfolgreich gewesen und hatten auch an der DDR-Olympiade teilgenommen.«

»Na, siehst du! Und was hattest du nun als Einsatzleiter zu tun?«

»Die Uni Leipzig war im Oderbruch eingesetzt, die verschiedenen Fakultäten in verschiedenen Kreisen. Ein Sonderzug fuhr uns Mitte September in den Bezirk Frankfurt. Unsere Gruppe von siebenundzwanzig Mann, d.h. vier Mädchen waren auch dabei, war in Neuküstrinchen, einem kleinen Ort direkt an der Oder, eingesetzt. Du kannst dir denken, dass ich in den Nächten vorher kaum geschlafen habe, wusste ich doch nicht, was auf mich zukam. Irgendwie verantwortlich für diese neu zusammengewürfelte Gruppe und von Tuten und Blasen keine Ahnung.«

»Und wie lief das dann?«

»Ich war der Verbindungsmann für den LPG¹-Vorsitzenden und den Feldbaubrigadier, teilte die Leute für die unterschiedlichen Aufgaben ein. Klar habe ich da die Wünsche meiner Mitstudenten berücksichtigt, das war also nicht so schwer. Meistens haben wir Kartoffeln gesammelt. Ich hatte die Übersicht zu halten, wer wieviele Kiepen pro Tag geerntet hatte. Danach wurden wir bezahlt. Wöchentlich empfing ich das Geld und zahlte es aus.«

»Das war doch zu schaffen«, meint Klaus und nimmt einen Schluck. Auch Herbert greift zum Glas, trinkt und stimmt ihm zu.

»Da hast du recht, aber für mich ziemlich unangenehm war, dass ich täglich die Ernteergebnisse an den Einsatzstab unserer Fakultät in die Kreisstadt Wriezen melden musste. So saß ich Abend für Abend im LPG-Büro und telefonierte, während meine Mitstudenten schon ihr Bierchen in der Kneipe tranken. Ich habe nie gern telefoniert, zu Hause hatten wir kein Telefon, das kam erst Jahrzehnte später.«

»Na ja, Herbert, so schlimm war das doch sicher trotzdem nicht!«

»Nein, es ging. Aber da war noch etwas. Und zwar fanden am 10. Oktober Kommunalwahlen statt. Zur Organisation und besonders natürlich zur politischen Bedeutung der sogenannten Volkswahlen wurden wir Einsatzleiter extra geschult. Dafür war ich ein paar Mal in Wriezen, habe an diesen Tagen also auch nichts verdient. Soviel zur Gerechtigkeit.«

»Wann war das eigentlich genau?«, erkundigte sich Klaus.

»1965. Kurz vorher war Bundestagswahl gewesen. Da hatten wir alle große Hoffnungen auf Brandt gesetzt, wurden aber enttäuscht. Die FDP hatte es vorgezogen, weiter Erhard zu unterstützen, sonst hätte Brandt damals schon Kanzler werden können.«

»Das hat euch interessiert?«

»Unbedingt! Wir haben immer politisch viel diskutiert, abends beim Bier, aber auch in den angesetzten Versammlungen, vor allem zur Wahlvorbeitung.«

»Wahlvorbereitung? Ihr Studenten?«

»Nun, die DDR legte bekanntlich viel Wert auf die Wahlbeteiligung, die als Zustimmung zu ihrer Politik galt. Das Problem war, dass die studentischen Erntehelfer in Sonderwahllokalen im Einsatzkreis wählen sollten – und zwar in unserem Fall die Kandidaten von Leipzig-Mitte, dem Sitz der Universität. Das führte zu erheblichen Diskussionen, weil fast alle aus anderen Orten kamen und die zu Wählenden natürlich nicht kannten. Außerdem gab es ein neues Wahlgesetz, dass erstmalig Streichungen auf den Stimmzetteln ermöglichte, was aber möglichst nicht gemacht werden sollte. Da hatte ich Überzeugungsarbeit zu leisten, obwohl ich selbst manches nicht recht eingesehen habe.«

»Du hast das trotzdem gemacht?«

»Ja, ich fühlte mich dem Staat verpflichtet. Ich komme aus ziemlich einfachen, sogar ärmlichen Verhältnissen, meine Mutter hat drei Kinder allein großgezogen. Ob ich unter anderen Verhältnissen hätte studieren können, bezweifle ich. Solche politischen Diskussionen habe ich durchgestanden, hatte dabei auch Unterstützer in der Gruppe. Aber gerade die Älteren waren dabei für mich harte Brocken.«

»Natürlich haben wir in meiner Jugend auch viel diskutiert, aber eben meist mehr auf akademisch-theoretischer Ebene.«

»Bei uns war das ganz konkret. Wir mussten auch sogenannte Wahlhelfer stellen, mit den Leuten im Dorf reden, ihnen das neue Wahlgesetz erklären, sogar mit dem Dorfpfarrer haben wir diskutiert. Das hatte mir aber Spaß gemacht, kannte ich noch von der Jungen Gemeinde vor der Konfirmation im 9. Schuljahr.«

»Konfirmation? Ich denke, du warst so ein ganz Staatstreuer?«

»Das Eine schließt doch das Andere nicht aus. Als junger Mensch ist man ja auch immer ein Suchender. – Aber ich habe ja noch nicht alles erzählt. Das dicke Ende kommt doch noch!«

»Wie? Was? Habt ihr den Pfarrer zum überzeugten Sozialisten gemacht?«

»Quatsch! Lass mich erzählen! Aber vorher könnten wir uns noch ein Glas bestellen … Das war vielleicht drei Monate nach dem Ernteeinsatz, ich hatte mich im Studium gut eingefuchst. Da wurde ich zum Dekan bestellt. Zuerst dachte ich, jetzt wird mir der große Dank ausgesprochen, ich kriege eine Prämie oder so. Das wäre aber bestimmt auf einer öffentlichen Veranstaltung gewesen, und ich war direkt in sein Büro bestellt. – Da fragt der mich doch, ein Physikprofessor war das, den Namen weiß ich nicht mehr, ich merkte auch, dass es ihm ein bisschen unangenehm war, aber er hatte wohl den Auftrag … Also, da fragt der mich doch, warum ich nicht gewählt habe. Ich fiel aus allen Wolken und dann erinnerte ich mich wieder an alles. Aber erst dachte ich, was geht ihn das an – und woher weiß der das? Wahlgeheimnis und so.

Ich hatte wirklich nicht gewählt. Von meiner alten Schule hatte ich eine Einladung zur Feier anlässlich des Tags der Republik bekommen. Und zwar, weil mir für mein Abitur „mit Auszeichnung bestanden“ die Lessing-Medaille verliehen worden war und die dort überreicht werden sollte. Das fand dummerweise einen Tag vor der Wahl statt. Selbstverständlich war alles langfristig mit dem Einsatzstab abgesprochen, ich hatte die Erlaubnis und bin nach Leipzig getrampt. Aber man hatte versäumt, meinen Wahlschein in Leipzig zu lassen, wo ich nun hätte wählen sollen. Ich wies den Dekan auf diese Schlamperei, den die Funktionäre des Einsatzstabes der Fakultät zu verantworten hatten, hin und war entlassen.«

»Und? Gab es da noch irgendwelche anderen Folgen?«, erkundigte sich Klaus neugierig.

»Nein! Aber das Gesicht des Dekans hättest du sehen sollen, als ich mich im Hinausgehen umdrehte und sagte: Zum Glück sind die Kandidaten der Nationalen Front gewählt worden. Auch ohne meine Stimme.«

Klaus lachte und hob das Glas. »Zum Glück haben sie sich nicht dauerhaft gehalten. Sonst könnten wir hier nicht so schön gemeinsam in Frankreich sitzen und den Rosé genießen.«

 

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¹ LPG = Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft

 

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