von Kornelia Wulf

 

„Sieben Wochen sind vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. In diesen sieben Wochen ist das Gras dürr und gelb geworden. Die Zikaden sitzen zirpend in den Bäumen. Unter meinen Füßen knirscht der Kies. Im prallen Licht der Mittagssonne sieht der Park seltsam verödet aus.“

Oh Gott, was erzählt die denn da! Wohin bin ich hier nur geraten? In den Club der verhinderten Literaten?

Mein Blick hastet an der Wand entlang. Flink wie ein Mäuschen, das Nähe scheut. Vorbei an Elfi, die hier das Zepter schwingt und natürlich genau vor der Eingangstür sitzt. Wo ist nur der Notausgang. Der ist doch Pflicht in diesen Begegnungsstätten, in denen sich völlig fremde Menschen treffen. Oder?

Links an der Schläfe stelle ich meine Hand wie einen Schutzschirm auf. Spähe vorsichtig zu den zuckenden Schultern hinüber, die Anni gehören, sehe Hände, die sanft über ihre Arme streichen. „Dort hatten wir uns doch kennengelernt. Hand in Hand schlenderten wir durch den Stadtpark. Verloren uns im Veilchenduft, zwischen den orangenen Goldlackrabatten, der den Verstand zum Stillstand brachte. Im Café Meister träumten wir uns dann bei einem Cappuccino an – manchmal auch ein kleines Glas Weißwein – auf unserem Stammplatz, direkt am Fen….“ Und der Körper geschüttelt von wehen Momenten, verschluckt ein Schluchzer Annis Worte. Komisch, dass ich mir ihren Namen merken kann. Gleich, beim ersten Mal. Hier, in dieser albernen Kennenlernrunde, zu der uns Elfi zwang. Sie griff in die Tasche ihres Rockes, geschneidert wie eine lilafarbene Glocke – die um das üppige Hüftgold schwingt, als wolle sie ein Requiem einläuten -, fischte dort nach einer blauen Murmel, die sie spielerisch zwischen Daumen und Finger bewegte.

„Lasst sie rollen in eurer Hand – spürt das Glatte, ohne Ecken, Kanten – und nehmt Kontakt zu ihr auf. Dann lasst uns wissen, wer ihr seid.“

Madame Obertristesse hat wohl auch nicht loslassen können, dachte ich, als Elfi die blaue Murmel anhauchte – vom Spiel, von ihrer Kinderzeit – und spürte, wie sich etwas in meiner Seele fläzte. Ich glaube, man nennt es Gehässigkeit. Sie drückte ihm das Glasding in die Hand. Dem Mann, der gleich rechts neben ihr sitzt. Erich nennt er sich. Der auf seinem Sitz schwankt, hin und her, bleich wie ein Schilfstängel im lauen Wind. Allein muss er jetzt weiterwachsen, von all seinen verdorrten Brüdern verlassen.

Der bleiche Schilfstängel stöhnt nun laut auf. Genervt lasse ich die Augen kreisen, unter dem Schutz der gestreckten Hand. Was für ein Wahnsinn! Die will uns weichspülen. Im Schonprogramm.

Wohin habe ich mich nur verlaufen?

Verlaufen? Nein!

Wohl eher verschleppt. Von meinem Fräulein Tochter, die sich heut´ in der Früh vor meinem Bett auftürmte.

„Mutter, nein, so geht es nicht weiter.“

Ein scharfer Ruck am Rollogurt. Es knarzte empfindlich in meinen Ohren, als die schwarzen Lamellen sich waagerecht stellten, Licht einließen. Und der grelle Sonnenschein, sich durch den schmalen Spalt meiner Lidränder quälend, schien zu rufen

Was ist hier los? Die Uhr schlägt schon zwölf!

Die Knie nah ans Kinn gezogen, beide Waden fest umschlungen, schützte ich mich vor der Weltenkälte – ich glaube, man nennt das Embryostellung -, als meine Tochter, energisch am Oberbett reißend, mich aus der Schurwollhöhle schälte.

„Wann gedenkst du endlich aufzustehen?“

Ich hörte sie eilen durch alle Räume, die straighte Ruth – früher mal meine liebe Kleine -, das Knistern des Müllsacks in ihrer Hand. Die leeren Flaschen, die Pizzapackung – „Mutter, wie lang … Igitt, wie eklig! Da krabbelt schon was.“

Ich hätte doch alles rausbracht. Bestimmt noch heute – eigentlich Gestern – oder Morgen. Wenn er nicht wiedergekommen wäre, mein neuer Gefährte, der sich um meinen Brustkorb schmiegte. Wie ein Sandsack. Träge. Schwer. An manchem Tag glaub´ ich sogar, dass er mein Untermieter ist … Und während ich schon auf dem Sofa saß, fing mich der Schlaf. Rollte uns fest in seine Decke. Ich schwöre dir, ich setz´ mich zur Wehr, wenn er meine Gelenke lähmt, meinen Geist, bevor er mich in Blei einschließt. 

Sie ließ sich auf meine Matratze fallen – die sanfte Ruth, nun wieder meine liebe, Kleine – drückte mich an sich. Und ich versank in ihrer weichen Seite, während die Zornesmuskeln sich endlich entspannten. Als sei die Zeit im Brunnen versunken, bin ich beherzt hinterher gesprungen …

… und wieg´ sie noch einmal in meinem Arm – meine Ruth, die liebe Kleine -, bevor ich den Po ins Wasser tunke. In das warme, sanfte Nass. In die rosane Plastikwanne – was für ein Spaß! Und sie blubbert, gluckst, meine Kleine, als ich ihr Lied zu singen beginne

„Der Walfisch schwimmt im Meer. Er schläft und atmet schwer. Ich wasche ihm derweil sein Walfischhinterteil.“ …

… und als trieben wir noch auf derselben Welle, stupste sie dezent meine Schulter. Bis sie ihre Nase rieb – kaum merklich rümpfte -, die, steil und markant, plötzlich wieder zu wachsen schien.

„Bevor ich dich zu dieser Gruppe fahre, bei der ich dich angemeldet habe, gehst du besser noch unter die Dusche.“

Als ich die Strümpfe über die Schenkel rollte – selbstverständlich frisch gewaschen -, dozierte sie etwas über vier Phasen. Strukturieren. Alles nach Plan, ächzte mein Hirn laut und vernehmlich, der Ton für die Außenwelt stummgeschaltet. So tickt meine straighte Ruth, so packt sie das Leben an. Als könne man Trauer in Stücke zerteilen.

Die Haare gekämmt, etwas Rouge auf den Wangen, bin ich dann mit ihr gegangen. Fügte mich einfältig wie ein Lamm – das glaubte, im Innen geschoren zu sein – und schnallte mich an. Fromm und brav. Während sie mich zu der Schlachtbank brachte, hielt Ruth das Steuer fest in der Hand. Ihr Blick wich mir nicht von der Seite, bis ich den Backsteinbau betrat, neben dem sich der Kirchturm    hoch auftürmte. Das dicke Mauerwerk durchdringend – manchmal wird meine Tochter mir wirklich unheimlich -, folgte er mir über den Flur, beharrlich und wachsam, als ich nach der Nummer suchte.

„Raum 315, vergiss es nicht, Mutter. Drei. Eins. Fünf. Dort trifft sich die Selbsthilfegruppe,“ tönte Ruths Stimme in meinem Kopf. Ihr metallener Klang mischte sich mit der Glocke – ein sinfonischer Klöppelkusston sozusagen -, die im Kirchturm dreimal schlug …

… ein zögerndes Klopfen, auf meinem Arm – ich zucke zusammen – „Du bist jetzt dran!“ Zwei grüne Augen unter rotbraunem Pony schauen mich an. Sara – oder heißt sie Sandra? Ich weiß nicht genau, ich war gerad´ woanders -, lässt die Murmel in mein Handpolster gleiten. Ich drücke fest zu. So schwitzig die Flächen. Und als handele es sich um magnetische Kraft, wird mein Blick in das Blau gezogen. In das Azur der gläsernen Kugel. Und ich spüre die Wärme in mir aufsteigen. Sie breitet sich aus in Armen, Schultern, entlang an den Wirbeln, hinab bis zum Hintern. Für einen Moment, der ewig dauert, fühl´ ich mich von einer Welle getragen. Die Luft um mich summt, keine Fragen …

„Vor sieben Monaten, sechs Tagen und vier Stunden hat er mich für immer verlassen. Hat mich einfach im Stich gelassen.“

Prüfend nage ich an der Unterlippe – bin wirklich ich es, die da spricht? – und als mein Mund sich wieder öffnet, spüre ich ein empfindliches Ziepen.

„Was gäb´ ich darum, könnte ich´s ihm nochmal sagen. Stets hast du nur an dich gedacht.“

Und Worte purzeln. Unaufhaltsam …

„Seit diesem Tag sitz´ ich allein in einem Zelt. Die Plane aus wunder Walhaut gespannt. Und um mich herum verblasst die Welt …“

Aus dem Fenster des Raums der Begegnung schauend, erkenne ich das Blau – ein zartes, helles -, als eine Wolke, dick und behäbig, ihr Plumeau ein Stückchen anhebt.  

Aber war es nicht der Wal, frage ich mich, der dem Menschen zur Hilfe kam? Als ihm – verloren in Seinem Zorn – das Wasser bereits bis zum Halse stand?

 

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