von Marco A. Rauch

 

 

Wenn zwei Pfade zueinanderfinden, um gemeinsam zu verlaufen, vervielfältigen sich die Möglichkeiten, den Wegesrand zu gestalten.

 

Oktober 2021. Ein kühler Abend im Herbst. Hannes sitzt am Schreibtisch im Arbeitszimmer und liest die Nachrichten beim Spiegel Online. Er ist neugierig, was die Ampel so alles umsetzen will.

»Was zum …?« Hannes schaut aus dem Fenster.

»Schatz? Hast du wieder die Sicherung rausgeschmissen?«

»Nein, das war ich nicht. Es ist alles dunkel. Auch draußen ist kein Licht, das ist ein Stromausfall.«

»Na toll, ich sehe die Hand vor Augen nicht, haben wir irgendwo Kerzen?«

»Warte, Conny, bleib wo du bist, ich komme runter!« Hannes steht auf und tastet sich am Schreibtisch entlang zur Tür. Stück für Stück geht er bis zur Treppe, während er mit beiden Händen versucht, sich zu orientieren. Seine Rechte findet das Geländer, langsam geht er Stufe für Stufe die Treppe nach unten, die in den Flur führt. »Conny?« Er hört Geräusche aus der Küche.

»Ja, ich durchsuche die Schubladen, aber ich sehe kaum was.«

»Versuch mal die oberste rechts neben der Spüle, da ist eine kleine Taschenlampe drin.«

Tastende Geräusche, Geklapper. Ein Lichtstrahl erhellt den Flur. Hannes atmet erleichtert aus. »Was soll das überhaupt heißen, wieder?«

»Was meinst du?«

»Du hast gesagt wieder die Sicherung?

»Ach, hör auf, jetzt ist der falsche Zeitpunkt.« Conny geht zum Wohnzimmertisch und nimmt ihr Smartphone in die Hand. 

»Wann ist der richtige Zeitpunkt? Und wen willst du anrufen?«

»Ich will Gisela anrufen, ob sie Strom hat.«

»Das kannst du dir schenken, der ganze Bezirk ist dunkel, hab ich von oben gesehen.«

Conny seufzt, legt das Smartphone auf den Tisch. »Willst du jetzt unbedingt streiten?«

»Wieso unbedingt streiten? Du hast doch angefangen mit deinem ‚wieder‘, das klingt ja so, als würde ich dauernd nur Mist machen?«

»Schatz, hör zu …«

»Nein, nicht Schatz, ich will wissen, warum du mich so abfällig behandelst? Bloß weil ich letzten Monat den Schutzschalter der Sicherungen ausgelöst habe? Das war ein Versehen.«

»Abfällig behandelst?« Conny schnaubt, ballt die Fäuste. »In welcher Welt leben wir denn, mein Herr? Einmal? Du tust ja gerade so, als wäre das eine Ausnahme gewesen, und betitelst das auch noch mit Versehen. Was war denn vor zwei Wochen, war das vielleicht der Pumuckl? Da hast du an dem alten Radio herumgebastelt und was ist dann passiert? Na?«

Der leicht süffisante Ton ihrer Stimme lässt Hannes Kämpferherz entflammen. »Der Kondensator war kaputt, was kann ich denn dafür?«, schnaubt er und sein Ton fädelt sich gefährlich in die Höhe, als er das Wort dafür ausspricht.

»Ha!«, entfährt es ihr und bei dem abfälligen Geräusch ballt Hannes ebenfalls seine Fäuste. »Soll ich dir mal aufzählen, wie viele defekte Kondensatoren wir in 12 Jahre Ehe schon hatten? Soll ich das?« Sie leuchtet mit der LED-Taschenlampe direkt in sein Gesicht.

Hannes hebt die Arme vors Gesicht. »Sag mal, spinnst du? Willst du mich zu Tode blenden? Nimm das Scheißding weg!«

»Ohne das Scheißding wären wir blind wie die Maulwürfe, weil der Herr mal wieder nicht wusste, was er tut!« Ihre Stimme schraubt sich ebenfalls in gefährliche Höhen, während sie die Worte spricht.

»Ach, du bist doch komplett verrückt, wieso glaubst du eigentlich, dass du die Heilige bist? Du tust ja gerade so, als würdest du nie Fehler machen. Wer hat denn unser teures SUV in der Garage angeeckt? Trotz Parksensoren und Rückfahrkamera, hä? Weißt du was, das muss man erst mal schaffen, Frau Bodwig!«

Ein Stich fährt durch Connys Herz, als er sie mit dem Nachnamen anredet, den sie nur seinetwegen angenommen hat. Sie mochte den Namen von Anfang an nicht, aber aus Liebe und der alten Tradition Willen und aus Respekt vor ihrem Vater, der das als gut bürgerlich bezeichnet hatte, gab sie schließlich klein bei und verzichtete auf ihren Mädchennamen. »Frau Bodwig? So weit sind wir schon? Wenn du wüsstest, was du tust, hätten wir nicht ständig kaputte Sicherungen, Herr Bodwig!«

Der amüsierte, leicht herablassende Ton in ihrer Stimme sollte nicht ohne Folgen bleiben.

»Ich weiß genau, was ich tue, oder hab ich den Toaster nicht repariert, hä?«

»Ts, das Kabel hast du angelötet, fein, das hätte ich auch geschafft. Aber was ist mit dem Radio? Hast du schon vergessen, wo das gelandet ist?« Wieder leuchtet sie in seine Augen, doch diesmal nur kurz.

»Der Kondensator war kaputt und das Radio dreißig Jahr alt, so was gibt es nicht mehr, wird nicht mehr gebaut!«, faucht er und hebt dabei seine Hände in die Höhe.

»Natürlich, der Herr kennt sich ja aus. Hättest du es meinem Bruder gegeben, er hätte es repariert. Er ist Elektroingenieur und hätte da sicher was basteln können. Aber dafür ist sich der Herr wieder zu fein, da schmeißt er es lieber heimlich weg.«

»Heimlich? Sag mal spinnst du? Ich hab das Ding zusammen mit dem Elektroschrott ins Auto gepackt und bin zum Wertstoffhof, was ist daran heimlich?«

»Mir hast du davon nichts gesagt, ich hatte den Norbert schon angerufen, ich wollte dir einen Gefallen tun.«

»Einen Gefallen? Ach, so nennst du das? Ich nenne das hintergehen, du traust mir nicht zu, das zu reparieren, und rufst lieber deinen Bruder an? Was für ein Gefallen soll das sein?«

»Weißt du was? Ich tue dir einfach keinen Gefallen mehr«, wiegelt sie ab und macht Anstalten, mit der Lampe das Wohnzimmer zu verlassen.

»Wo willst du hin? Ich sehe nichts, wenn du gehst!«

»Na, da wäre ja nichts Neues.«

»Was soll das jetzt wieder heißen? Hey!«

»Was das heißen soll? Du siehst ja nicht mal, wenn ich beim Frisör war. Du siehst nicht, wenn ich meine Haare gefärbt habe, du siehst nicht, wenn ich Ohrringe trage, du siehst nicht mal, wenn ich neue Dessous gekauft habe, deswegen kaufe ich keine mehr!« Wutschnaubend verlässt sie den Raum.

Hannes steht im Dunkeln und wünscht sich nichts sehnlicher als eine einsame Hütte irgendwo in den tiefen und weiten Wäldern Kanadas. »Was soll das eigentlich heißen, ich sehe das nicht? Freilich sehe ich das, aber soll ich jedes Mal sagen ‚Ach fein, Schatz, schee schaust aus‘?« Keine Antwort. »Albernes Getue, wie so ein kleines Mädchen«, brummelt er vor sich hin.

»Das habe ich gehört!«, schallt es von irgendwoher.

»Ja, sicher hast du das gehört, du hörst nur, was du hören willst, typisch Weiber!«, plärrt er nun sehr gereizt.

Im Sturmschritt kommt sie anmarschiert und leuchtet mit der Taschenlampe direkt in seine Augen. »Wenn du mal mehr als nur deinen Elektroschrott sehen würdest, hätten wir vielleicht öfters Sex als nur zweimal im Monat, Herr Bodwig!« Ihre Stimme liegt irgendwo zwischen Panzerfaust und Handgranate.

»Ha! Ach so ist das, jetzt bin ICH schuld, dass du dauernd deine Tage hast, oder was?« Seine Stimme begnügt sich derweil mit Revolver.

»Oh, weißt du was, mir reichts! Ich habe neue Dessous gekauft, ich habe mir die Schamhaare abrasiert, weil du gesagt hast, das törnt dich an, ich mache Aerobic, Beckenbodentraining und versuche, gesund zu kochen, und jetzt bin ICH diejenige, die nicht will?« Der Pfeil ihrer Stimme wandelt sich im Flug zu einer Bodenabwehrrakete.

»Wenn du nicht immer drei Stunden im Bad brauchen würdest, hätten wir vielleicht öfters Sex, hast du daran schon mal gedacht? Jedes Mal muss ich stundenlang warten, bis du endlich kommst. Klar, dass ich dann keine Lust mehr habe. Und überhaupt: Was willst du jetzt überhaupt kochen, ohne Strom, hm? Hast du daran schon mal gedacht?« Die Tonlage seiner Stimme klettert in Richtung Gattlin-Gun.

»Du spinnst!«, stellt sie fest und schüttelt irritiert den Kopf. »Das Einzige, das dir im Moment einfällt, ist essen?«

»Ja, ist doch kein Wunder. Ohne Strom seid ihr Weiber doch aufgeschmissen, das sieht man doch jetzt. Ihr lebt in einer Luxuswelt, die es euch erlaubt, weit über eure gottgegebenen Grenzen hinaus Rechte einzufordern, die euch gar nicht zustehen. Ihr denkt euch, ihr wärt was Besonderes oder was Besseres, ihr glaubt, ihr hättet Rechte oder Privilegien, könntet an der Sprache rumpfuschen mit eurem Gendern oder uns Männern vorschreiben, im Sitzen zu pissen. Aber lass nur mal den Strom ausfallen, dann seid ihr wieder da, wo ihr hingehört. Ganz unten in der Nahrungskette, hilflos, und den Männern ausgeliefert!« Der Klang seiner Stimme trägt die Sprengkraft einer Wasserstoffbombe in sich.

Connys Unterkiefer klappt nach unten. Sie fragt sich, wer der Fremde ist, der da vor ihr steht. Sie zählt in Gedanken 1,2,3,4,5, dann macht sie auf dem Absatz kehrt und rennt die Stufen nach oben. In Windeseile packt sie einen Koffer, zerrt ihn nach unten und öffnet die Haustür.

»Wo willst du hin? Wir sind noch nicht fertig.«

»Wir sind fertig, mein Herr. Aber so was von!« Die Haustür knallt ins Schloss.

»Ja, fein, geh ruhig, ich weiß, wie man eine Tiefkühlpizza zubereitet. 15-20 Minuten bei 200 Grad. Geh ruhig, lass deinen Mann alleine.« Stille. Hannes steht im dunklen Wohnzimmer. Ein Motor erwacht brummend. Lichter flammen auf, werfen einen Schein durch den Raum, entfernen sich. Es herrscht Stille, nur das leise Ticken der Standuhr erinnert an ein menschliches Heim. Ein verächtliches Seufzen fährt durch den Raum, widerhallt kurz und verschwindet. »Toll, und wie krieg ich jetzt den Herd zum Laufen?«

 

 

Wenn zwei Pfade zueinanderfinden, und einer droht sich zu verlaufen, kann der Wegesrand Orientierung bieten.

 

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