Von Sabine Esser

Seit 10:00 Uhr laufen bei deutschen Nachrichtensendern rote Einblender. Breaking News: „Schielefeld: Großeinsatz in Schrebergartensiedlung … Zwei vermutlich Tatverdächtige erschossen … Wahrscheinlich kein terroristischer Hintergrund … Mutmaßlich OK der chinesischen Triaden … Menschenhandel und Sadismus nicht auszuschließen … Einsatz von Suchtrupps mit Leichenspürhunden …“

 

Alle Medien übertragen Live-Streams vom Tatort und -geschehen.

Man sieht schwerbewaffnete und maskierte Polizeibeamte Gartenzäune niederreißen, gepflegte Buchs- oder Buchenhecken mit Kettensägen niedermähen, plattgetrampelte Gartenzwerge, buddelnde Polizeihunde. Und einen alten, weinenden Mann in Großaufnahme. Vor allem den immer wieder.

Man hört eine Frau schreien: „Das ist mein Willi! Mein kleiner Willi!“

Es folgen hastige Interviews mit schockierten Schrebergärtnern: „Nein, niemals! Otto und Ottilie sind wie wir.“

 

Nationale und internationale Reaktionen werden übermittelt.

Das chinesische Außenministerium verspricht intensive Mitarbeit bei der Aufklärung.

Der amerikanische Präsident twittert höchstpersönlich: „We are on your side. Believe me. America will help you!“

Die deutsche Kanzlerin äußert sich vorläufig noch nicht. Ihr Regierungssprecher gibt bekannt, dass man erst die näheren Untersuchungsergebnisse abwarten möchte.

 

Um 11:45 Uhr gibt der Pressesprecher der zuständigen Landespolizei eine erste polizeiliche Erklärung vor den versammelten Mikrofonen und Kameras ab:

„Meine Damen, meine Herren! Heute Morgen um 08:35 Uhr erfolgte ein Großeinsatz in der Schreberkolonie „Zum Gleisdreieck“ in Schielefeld aufgrund kriminalpolizeilicher Erkenntnisse. Ziel war, Personen mit terrorverdächtigem Hintergrund oder Personen, die der Organisierten Kriminalität angehören, festzunehmen. Der Auftrag wurde weisungsgemäß ohne Sonderrechte durchgeführt, um die Zielpersonen nicht zu warnen. Im Einsatz befanden sich neben SEK und Kriminalpolizei auch Kräfte der Bereitschaftspolizei. Bei der Einkreisung des Objektes kam es unerwarteterweise zu einem Schusswechsel, bei dem beide Zielpersonen getötet wurden.“

 

Jetzt darf die Presse Fragen stellen und er muss antworten:

„Eine der Personen erhob sich mit einer Waffe in der Hand.“

„Nein, niemand sonst wurde verletzt.“

„Zu den Hintergründen des Auftrages kann ich Ihnen noch keine Auskunft geben. Wir müssen die Ergebnisse der laufenden Ermittlungen abwarten.“

„Es handelt sich um zwei Personen, über die uns bislang keine genaueren Angaben vorliegen.“

„Ja, es gab Hinweise von befreundeten Nachrichtendiensten.“

„Von welchen, kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.“

„Natürlich sind Algorithmen hierbei wesentlich.“

„Bitte haben Sie Verständnis, wenn ich mich über die Abfrageroutinen befreundeter Dienste nicht äußern kann und darf.“

„Selbstverständlich überprüfen wir die uns übermittelten Informationen auf Korrektheit, bevor wir einen derartigen Einsatz anordnen.“

 

Weniger seriöse Medien titeln online „Sex and Crime im Schrebergarten!“

 

Im Netz kursiert die Info, es gäbe ein Bekennerschreiben.

 

In der Zusatzsendung nach den Abendnachrichten verkündet der Ministerpräsident, dass er stolz auf die zeitnahe und effektive Leistung der Polizei sei und vor allem dankbar für die Hinweise, die aufgrund der hervorragenden internationalen Zusammenarbeit diesen Erfolg erst ermöglicht hätten. Von einem Bekennerschreiben wisse er nichts. Außerdem habe er volles Vertrauen in die ermittelnden Behörden.

 

Noch in derselben Nacht veröffentlicht Wikileaks den Ursprungstext, der, von mehreren ausländischen Nachrichtendiensten routinemäßig nach gewissen Suchbegriffen analysiert, auslösend für den Großeinsatz gewesen sei. Es handele sich hierbei nicht um ein Bekennerschreiben, sondern um den Aufmacher einer unbedeutenden deutschen Lokalzeitung von vor drei Tagen:

 

„Verloren auf Asche

In der Schrebergartenkolonie „Zum Gleisdreieck“ geschehen unheimliche Dinge:

Große und kleine Körper sowie deren ‚losgelöste Einzelteile‘ werden über- und ineinandergelegt, Beine dazwischengeschoben und fixiert, und zum Schluss – wie kann es anders sein – ein Rohr eingeführt. Das Kamasutra ist nichts gegen diese Verrenkungen! Damit nicht genug: Das Fleisch wird mit Duftölen eingerieben, damit keine Verbrennungen bei der nachfolgenden Prozedur entstehen. Marquis de Sade hätte seine helle Freude, denn nun erfolgt das Rösten bei geschlossener Klappe. Der Hausherr bittet, nicht hinzusehen, was sehr verständlich ist. ‚120 Minuten später sie finden Fleisch gut verloren auf Asche, Ergebnis erinnern Mitesser‘.“

 

Wiki kommentiert: „Niemand hat die wenigen Zeilen kontrolliert. Es fehlt der erklärende Satz: ‚Dies hat uns eine Leserin humorvoll über den Zusammenbau ihres Smokers anhand der aus dem Chinesischen ins Deutsche übertragenen Bauanleitung geschrieben.‘ Bei der ‚Waffe‘ handelt es sich um eine Kaffeekanne, wie das beigefügte, stark vergrößerte Foto deutlich zeigt.“

 

Zwei tote Rentner, ein durchwühltes Schrebergartengelände, diverse freigelegte Hunde- und Katzenskelette. Politische Verwicklungen sind nicht zu befürchten. Die Algorithmen haben korrekt analysiert. Der Polizeiapparat hat effektiv funktioniert.

 

Selbstverständlich wird ein parteiübergreifender Untersuchungsausschuss gebildet, um die Frage zu klären, wie es überhaupt zu einer solchen Eskalation kommen konnte. Auch ist zu eruieren, ob ein Mitverschulden der getöteten, beteiligten Personen und dem zuständigen Redakteur vorliegt.

 

Noch liegt kein Ergebnis vor.

 

 

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