Von Ingo Pietsch

Ich malte mir aus, wie die Schlagzeile lauten könnte: Verloren auf Asche. Ein Bürger der Stadt Lübbecke verliert durch eisernen Willen und Disziplin über 50 Kilogramm Gewicht innerhalb eines Jahres auf dem Waldsportplatz. Der Bürgermeister überreichte eine Urkunde – bei der Übergabe waren etliche Freunde und Bekannte anwesend, die stehend Beifall klatschten.

Und dann wachte ich auf …

 

Röchelnd rollte ich mich von einer Seite auf die andere. Das Knarren des Bettes war furchtbar.

Ich schaffte es einfach nicht abzunehmen. Der Wunsch danach war groß, aber es fehlte mir einfach an Disziplin.

Also erzählte ich allen, die fragten,  ich hätte eine Krankheit oder schob es auf einen genetischen Defekt.

Am meisten belog ich mich aber damit selbst.

Bis zu meiner Ausbildung war ich ein ganz normaler Teenager gewesen. Ständig stopfte ich mich mit Cola, Süßigkeiten und Fastfood voll und nie hatte etwas angesetzt.

Dann kam Eins zum Anderen: Freundin weg, Arbeit langweilig und so weiter.

Das Unterbewusstsein kann ziemlich gemein sein.

Schnaufend kämpfte ich mich aus dem Bett. So konnte es nicht mehr weitergehen.

Die langen Tage im Büro und die durchgemachten Nächte vor dem Fernseher hatten Spuren auf meinem Körper und meiner Seele hinterlassen.

Gleich morgen wollte ich mit dem Training beginnen. Aber nicht im Fitnessstudio oder Joggen in der Nachbarschaft, nein dort, wo mich niemand sah.

 

Aus dem nächsten Tag war eine ganze Woche geworden, natürlich, weil ich mein Equipment noch nicht zusammen hatte: Trainingsanzug, neue Schuhe und MP3-Player mit Sportkopfhörern.

Und jede Menge Schweißbänder. Im Spiegel betrachtet sah ich aus wie eine Werbefigur für Fitnessartikel aus den Achtzigern, obwohl ich mit den Bändern eher wie der Michelin-Mann wirkte.

Ich parkte meinen Opel Corsa auf dem Parkplatz unseres Waldsportplatzes. Es war nur eine fünfminütige Autofahrt, so groß war Lübbecke nun mal nicht, aber es ging stetig bergauf. Zu Fuß wäre ich wahrscheinlich nie dort angekommen.

Ich hatte nie verstanden, warum gerade dicke Leute kleine Autos fuhren. Das war wohl mehr, als nur ein Klischee.

Ich konnte kaum noch die Gangschaltung betätigen, geschweige denn, mich umzudrehen, um den Schulterblick zu machen. Möglicherweise war der Wagen ja mit Zeit einfach nur eingelaufen.

Der Corsa wackelte wie ein Segelschiff, als ich mich herauskämpfte.

Ich atmete erst einmal die kühle Luft des Waldes ein. Es roch ein bisschen muffig wegen der verrottenden Blätter, aber auch irgendwie herbstlich.

An diesem frühen Samstagmorgen brachen die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume und verwandelten die Lichtung im Nebel in ein Lichtspektakel.

Ich strecke mich erst einmal genüsslich und passierte dann das halb verrostete Drehkreuz, das ein schlankerer Mensch wahrscheinlich übersprungen hätte.

Meine Oberschenkel hätten beinahe nicht hindurchgepasst, also musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen und mit Trippelschritten weitergehen.

Auf der anderen Seite beglückwünschte ich mich für das Meistern dieses schwierigen Hindernisses.

Ein paar Schritte weiter befand ich mich auf der roten Laufbahn.

Ich schob die Asche mit meinen Füßen hin und her, um den Untergrund zu prüfen.

Dann schüttelte ich meine Beine aus und wollte loslaufen, als eine jugendliche Stimme rief: „Hey Fettsack, wenn du zum Müllaufsammeln hergekommen bist, musst du hierher kommen.“

Der Satz versetzte mir einen Stich ins Herz.

Ich drehte mich um und entdeckte im vorbeiziehenden Nebel eine Bank, auf der zwei Jugendliche mit Bierdosen saßen.

Egal, was die beiden um diese Uhrzeit hier zu suchen hatten, wahrscheinlich waren sie von einer höheren Macht geschickt worden, um mich am Laufen zu hindern.

Ich versuchte sie ignorieren.

„Oder ebnest du mit deinen Plattfüßen die Bahn für richtige Sportler?“

Mein Puls steigerte sich mich jedem Wort und ich überlegte mir eine schlagkräftige Antwort.

Plötzlich fühlten sich meine Beine wie Wackelpudding an und ich drohte zu fallen.

Nein, so schnell wollte ich nicht aufgeben.

Ich steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und schaltete den MP3-Player ein. Als erstes lief „I´m so exited“ von den Pointer Sisters.

Der Rhythmus gab mir neuen Antrieb. Ich setzte einen Fuß vor den anderen und sprintete los.

Jedenfalls kam es mir so vor. In Wirklichkeit  hüpfte ich von einem Fuß auf den anderen.

Die Jugendlichen begannen so laut zu lachen, dass sie sogar die Musik übertönten.

Ich bewegte mich fort.

„9,8 auf der nach oben offenen Richterskala!“, drang es gedämpft an meine Ohren. Ich schaltete die Musik lauter.

Ich drehte meinen Kopf und sah die Jugendlichen mit ihrer Bank wieder im Nebel verschwinden.

Nach der ersten Hälfte der Bahn setzten auf einmal bei mir Seitenstiche ein. Der Schmerz zog bis in die Lunge hoch, weil meine Kehle so gut wie ausgetrocknet war und mein Herz wummerte wie wild.

Die Schweißbänder waren längst vollgesogen und auch mein ganzer Rücken war nass.

Die frische Luft brachte kaum Abkühlung.

Meine Beine knickten ein und ich ging auf die Knie.

Und was die Sache noch schlimmer machte: Die Jugendlichen hatten mich eingeholt, standen mit ihren Bierdosen in der Hand vor mir und blickten auf mich herab.

„Jetzt ist der Wal wohl gestrandet!“ Grinste mich einer der beiden mit schiefen Zähnen an.

„Ich mache nur eine kurze Pause“, hechelte ich. Ich nahm die Kopfhörer ab und schleppte mich langsam zum Handlauf der Bahn.

Die beiden setzten ihre Sticheleien fort, bis ich am Rand angekommen war und ich mich gegen das Geländer lehnte.

„Was willste denn damit beweisen? Ich dachte immer, dicke Menschen sind mit ihrem Körper glücklich.“

Beide stanken furchtbar nach Alkohol. Ich hatte Angst, etwas Falsches zu sagen, denn sie hätten mich locker niederschlagen können.

„Ich bin überhaupt nicht zufrieden mit mir“, presste ich ehrlich zwischen meinen Zähnen hervor. Ich wurde wütend: „Seid ihr denn zufrieden mit euch, dass ihr in aller Frühe schon Bier trinken müsst?“

Einer hielt mir seine Dose hin: „Viele Kohlenhydrate.“

Verächtlich schüttelte ich den Kopf, zog meine Trinkflasche mit Trinkhalm vom Gürtel und nahm einen Schluck. Oh, wie gut das tat.

Die Jugendlichen rülpsten, als ich mich vom Geländer abstieß. Sie klammerten sich dort fest, weil sie selber kaum noch stehen konnten.

Ich wurde mit wüsten Beschimpfungen angefeuert, während ich meine Bahn vollendete und sogar eine zweite schaffte. Das meiste davon hörte ich nicht, weil ich die Musik noch lauter gedreht hatte, aber es verschaffte mir den nötigen Ansporn, nicht aufzugeben, so wie die beiden Typen.

Ich würde meine Ernährung umstellen müssen und ein richtiges Training absolvieren. Aber ich war mir sicher, dass es möglich wäre, hier auf dieser Bahn die nötigen Pfunde zu verlieren. Ich würde es den beiden zeigen und allen anderen auch. Der Anfang war schon mal getan.