Von Beate Fischer

Paulinchen war allein zu Haus. Die Mutter war bei einer Wohltätigkeitsgala und der Vater – wie immer – dienstlich unterwegs. Nur die Haushälterin, Frau Margarete, war da, aber die zählte nicht. Paulinchen vertrieb sich die Zeit damit, zu dröhnendem Death Metal über die Ledergarnitur im Wohnzimmer zu hüpfen und dabei Marshmallows in die Luft zu schnipsen, die sie nach der Landung genüsslich mit ihren nackten Füßen zertrat. Die klebrigen Häufchen zierten den Fußboden wie pastellfarbene Sommersprossen. Frau Margarete hatte sich schon zurückgezogen. Eine Cola-Dusche am Abend hatte ihr gereicht. Sie mochte Paulinchen und auch der Spitzname „Hausdrache“, den das Mädchen ihr verpasst hatte amüsierte sie, aber der Hausarrest machte die Kleine unerträglich. Einsperren war für sie Folter, doch nach den Vorkommnissen von letzter Nacht, musste der Vater ein Zeichen setzen. Die Türen waren verriegelt, die Fenster mit Schlössern gesichert. Ohne Schlüssel gab es kein Entkommen.

Paulinchen hatte genug vom Springen. Sie ließ sich auf das Sofa plumpsen, trank einen Schluck klebrige Limonade und pustete sie in einem feinen Nebel in die Luft. So ähnlich machten es die Feuerspucker, nur eben mit Hochprozentigem und Fackel. Paulinchen lief zum Bar-Schrank. Abgeschlossen. Der Brieföffner, mit dem sie die Tür schon ab und zu aufgehebelt hatte, war auch nicht zu finden. „Nicht, dass du dich verletzt“, hatte die Mutter erklärt, als sie ihn an einen sicheren Ort gebracht hatte.

Paulinchen fröstelte. Sie wusste, dass der Hausdrache die Heizung abgedreht hatte, um sie dazu zu bringen, ins Bett zu kriechen. Aber die Rechnung ging nicht auf. Paulinchen hielt einiges aus. Wie gestern Abend.

Es war fürchterlich kalt gewesen und hatte begonnen zu schneien. Die Nacht war schon hereingebrochen, als Paulinchen in einem kurzen Röckchen, löchrigen Sneakers und ohne Mütze auf dem Randstreifen der Stadtautobahn entlanggeschlendert war. Plötzlich hatte ein protziger Mercedes neben ihr angehalten.

„Hei, Kleine, was du da machst ist gefährlich“, rief ihr der glatzköpfige Fahrer durch das heruntergelassene Fenster zu. „Steig ein, ich nehm dich mit.“

„Wohin geht die Reise?“, fragte Paulinchen und zupfte sich am eingefrorenen Ohrläppchen.

„Wohin du willst.“ Der Glatzkopf grinste sie an. „Ins Reich der Sinne. In den Märchenwald. Ins Abenteuerland. Such dir was aus.“

„Dann ab zu Frau Holle. Ich liege gerne weich.“

„Gute Wahl. Spring rein.“

Drei Stunden später kauerte sich Paulinchen in einem Hauseingang zusammen und schlotterte. Ihre Finger waren vom Frost schon rot und blau. Sie hielt den Kopf gesenkt, damit sie niemand ansprach, denn ihr rechtes Auge war geschwollen und an ihrer dünnen Jacke fehlten zwei Knöpfe. Die Schneeflocken verfingen sich in ihrem goldenen Haar und bildeten ein feines Spitzenhäubchen. Paulinchen dachte an diesen uralten Film mit dem Arsen und den Leichen im Keller, den ihr Vater immer so komisch fand. Ihre Knie hatte sie dicht zu ihrem Körper gezogen. Um sich zu wärmen, hatte sie die Arme darum geschlungen und schaukelte behutsam hin und her. Die Fenster gegenüber waren mit blinkenden Sternen geschmückt und Lebkuchenduft zog durch die Luft. Ihr grauste vor den Weihnachtsfeiertagen. Die Eltern behaupteten, sie zu lieben und dennoch konnte sie ihnen nichts recht machen. Der Vater würde sie nicht schlagen. Er würde ihr einen Vortrag darüber halten, wie enttäuscht er von ihr wäre und sie würde ihn bitten, endlich sein Versprechen wahr zu machen und sie in diese Privatklinik zu bringen, von der ihre Cousine nur Gutes erzählt hatte. Die Mutter würde mit Tränen in den Augen an ihr vorbei starren und beten.

Paulinchen erinnerte sich an das Streichholzbriefchen, das sie dem Mercedesfahrer von der Ablage geklaut hatte und zog es aus der Tasche. Ein bisschen Ablenkung würde ihr bestimmt gut tun. Fasziniert betrachtete sie in das kleine, wunderbare Licht. Es kam Paulinchen vor, als säße sie vor dem Kamin im Ferienhaus an der Nordsee. Sie streckte schon die Beine aus, um sie zu wärmen – da erlosch die Flamme und hinterließ ihr versengte Fingerspitzen.

Nochmal, sagte sich Paulinchen und wieder flackerte es auf. Sie führte das Feuer an ihrem Arm entlang. Es schmorte ein Loch in Jacke und Pullover, hinterließ einen leuchtend roten Fleck auf ihrer Haut und erstarb.

Das nächste Mal kokelte sie ihre Augenbrauen an und verschmorte eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht hing.
Ganz versunken in ihr Tun, bemerkte das Mädchen den Schatten nicht, der sich plötzlich vor ihr aufbaute.

„Na, wen haben wir denn da?“ Ein mächtiger Polizist schaute von oben auf sie herab.
„Mal wieder beim Zündeln…Da wird sich der Herr Papa aber freuen.“

Er packte Paulinchen beim Arm und schob sie in das Polizeiauto, das am Fahrbahnrand parkte. Sie ließ sich ziehen, weil sie wenigstens passiven Widerstand leisten wollte.  

Auf dem Revier drückte sie sich in eine Ecke und schloss die Augen. Im Märchen war das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern gestorben und war glücklich zu seiner Großmutter gegangen. Sie würde das nie schaffen. Ihr Vater würde es nicht erlauben.

Von weitem hörte sie die Stimme des Polizisten, in der unverhohlene Schadenfreude schwang.

„Herr Polizeipräsident? Es tut mir leid, Sie zu stören. Wir haben wieder mal Ihre Tochter aufgegriffen…Ja, kein Wort zu irgendjemandem, verstanden…In zehn Minuten? Geht in Ordnung.“

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Paulinchen mit dem Feuer gespielt hatte, doch zum ersten Mal war ihr Vater richtig ausgerastet.

„Das ist doch wirklich krank. Wie kannst du uns das nur antun? Halbnackt und zugekokst auf der Straße zu sitzen und sich die Haare abzufackeln. Was sollen denn meine Mitarbeiter von mir denken?“ Er war eine geschlagene halbe Stunde mit solchen Sätzen über sie hergefallen. Keiner davon hatte sie getroffen. Sie hatte die Augen geschlossen und an ihre Oma im Himmel gedacht.

Danach hatte Paulinchen fast sechzehn Stunden geschlafen und am Nachmittag Eis mit heißen Himbeeren gefrühstückt. Mutter und Vater waren ausgegangen – getrennt.

Nun drehte sie die Musik ab und horchte. Der Hausdrache schien in seinem Zimmer zu sein. Sie schlich durch die Flure. Kein Licht drang aus den anderen Räumen. Alles war still, nur die Sirene eines Krankenwagens drang durch die geschlossenen Fenster.

Paulinchen duschte und schlurfte anschließend in einem knielangen Totenkopf-Shirt in die Küche. Aus Frau Margaretes Kammer drang ein leises Röcheln. Ruhe in Frieden, dachte Paulinchen und trank einen großen Schluck Milch direkt aus dem Tetra-Pack. Eine kleine Silhouette auf vier Beinen löste sich aus einer Ecke und strich an ihren Waden vorbei.

„Na, Friedrich, haben sie dich auch eingesperrt? Ist besser so, ist echt arschkalt da draußen.“

Paulinchen bückte sich und wuschelte durch das Fell des Katers. Als sie sich aufrichtete, fiel ihr Blick auf die Kindersicherung des Herdes. Sie war nicht aktiviert. Paulinchen pfiff durch die Zähne.

„Oh oh, da hat aber jemand nicht aufgepasst“, trällerte sie vergnügt und schaltete alle Platten an.

Während sich das Kochfeld in vier untergehende Sonnen verwandelte, fischte sie nach einer Rolle Küchenpapier.

„Am besten mitten auf die Größte“, beschloss sie und bestückte die anderen Platten mit einem Geschirrtuch, einem Putzschwamm und einem Trockenblumenstrauß.

„Die Rosen werden bestimmt wunderbar duften“, flüsterte sie dem Kater zu, der mit einem Satz auf den Küchentisch sprang und fauchte.

„Jetzt stell dich nicht so an, Friedrich. Siehst du nicht die wunderschönen Farben? Riechst du nicht den köstlichen Duft der Blütenblätter?“

Paulinchen schwang ihre Arme über dem Herd und summte ein Lied.

„Kennst du das, Friedrich? Maikäfer flieg. Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommerland. Pommerland ist abgebrannt.“

Der Kater huschte zur Hintertür und kratzte an der Katzenklappe.

„Bleib doch bei mir Friedrich“, bat Paulinchen. „Draußen ist Winter. Da erfrierst du nur.“

Das Küchenpapier fing Feuer und kurz danach brannte der komplette Herdbelag. Paulinchen ließ die Hände darüber tanzen und kam den Flammen immer näher.

„Komm Friedrich, hab dich nicht so. Das wärmt wirklich gut.“

In dem Moment, als Paulinchens Haare anfingen zu qualmen, setzte der Rauchmelder ein. Keine zehn Sekunden später hastete der Hausdrache herein, fegte die brennenden Gegenstände auf den Fliesenboden und schlug mit einem großen Tuch die Flammen tot.

Sie überschüttete Paulinchen mit einem Krug Eiswasser aus dem Kühlschrank und ließ sich dann schwer atmend auf einen Stuhl plumpsen.

„Du kostet mich noch den letzten Nerv, Kindchen“, stöhnte sie. „Das kann ich deinen Eltern nun wirklich nicht mehr erklären.“

Als der Vater sich eine Viertelstunde später die Bescherung ansah, fand er den Kater auf einem Häufchen Asche liegend, das einmal ein Rosenstrauß gewesen war. Friedrich wirkte verloren und der Vater meinte sogar, eine Träne in seinem Augenwinkel zu entdecken. Er gesellte sich zu ihm und zerkrümelte den verkohlten Schwamm.

„Die Presse wird bald Wind davon bekommen, das kann ich nicht mehr vermeiden“, murmelte er ganz in Gedanken. Friedrich stellt die Ohren auf.
„Ich muss in die Offensive gehen und diesen Hyänen selbst die Schlagzeile liefern. Und emotional muss sie sein. Was hältst du von ‚Verloren auf Asche – Der Chef der hiesigen Polizei trauert in seiner ausgebrannten Küche um sein schwer verletztes Kind‘?“
Er schaute sich um. „Da müssen wir allerdings noch ein bisschen nachhelfen.“ Die Batterie im Feuermelder musste als Erstes dran glauben.

Paulinchen war die nächsten Monate nicht allein zu Haus. Sie war überhaupt nicht zu Haus. Der Vater hatte sein Versprechen wahr gemacht und die Zeitungen hatten nach seinen Wünschen getitelt. Nur die Mutter blieb stumm – und kümmerte sich weiter um die Armen.