Von Florian Ehrhardt

Der Soldat tritt die Tür ein. Skrupellos, ohne zu denken, setzt er seinen schweren Stiefel ein, um sich gewaltsam Zutritt zu dem ärmlichen Haus, das mehr eine Hütte ist, zu verschaffen.

Wird man einmal so über mich schreiben? So abschätzig und verachtend? Wahrscheinlich, denn ich bin Teil eines der abscheulichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. Teil der Säuberung.

Weg mit den sentimentalen Gedanken. Das geht gegen die Agenda. Also betrete ich die Hütte. Es sieht ruhig aus. Kein Widerstand. Aber auch keine Menschenseele. Meine Nase nimmt den bestialischen Verwesungsgestank wahr, bevor sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Ich bedeute dem Team, mir zu folgen. Der Gestank kommt aus dem hinteren Raum der Hütte. Lisa läuft direkt hinter mir, Daniel folgt ihr. Hinter ihm kommt James, André ist das Schlusslicht.

Langsam und vorsichtig laufen wir durch die Hütte. Der Gestank wird immer schlimmer. Mit meiner Taschenlampe leuchte ich in die Ecken. Endlich kann ich sie sehen. Zusammengekauert liegen zwei Gestalten in der Ecke. Ich identifiziere sie als Mutter und Sohn. Neben ihnen ein toter Hund. Wie lange liegen sie schon so hier? Tage? Wochen? Ich richte meine Waffe auf sie.

„Bitte nicht schießen!“ Kaum mehr als ein Flüstern.

Ich darf keine Gefühle zeigen. Und doch zögere ich. Sie sind dem Tod so nahe. Und unschuldig.

Hinter mir lösen sich zwei Schüsse. Alles Leben weicht aus den Körpern.

Lisa sieht mich traurig an. „Tut mir leid, aber Befehl ist Befehl. Keine Gefühle.“

Daniel rennt aus der Hütte heraus. Ich höre Würgegeräusche und ein Platschen, als sich sein Frühstück auf die Straße entleert. Er ist neu. Aber er wird sich daran gewöhnen. Alle tun es Irgendwann. Ich spreche in mein Funkgerät. „House cleared. 107 North Street.“ Nur noch 5 Häuser für heute.

 

Das Essen ist wie immer erbärmlich. Die graue Substanz erinnert entfernt an Kartoffelbrei, aber was aus den Töpfen der Armeeköche kommt hat sowieso nie Geschmack.

Lisa fängt unter dem Tisch an mit meinen Füßen zu spielen. Ich glaube niemand bemerkt es, aber man kann ja nie sicher sein. Ich versuche, sie streng anzublicken, weiß aber genau, dass ich erregt bin.

 

Ein Einzelzimmer zu haben, ist der größte Vorteil als Offizier. Lisa wartet lange, bis sie zu mir kommt. Es ist schon Mitternacht, als mich ihr hektisches Klopfen weckt. Der Digitalwecker sagt es ist 1:37 Uhr, ich habe tatsächlich etwas gedöst. Schlafen kann ich meist nicht vor drei Uhr. Erst dann wird die Erschöpfung stärker als die Bilder des Tages. Doch die Bilder sehe ich ja auch in den Träumen. Müde schleichen ich zur Tür. Wieder klopft sie. Diesmal noch hektischer und ängstlicher. Ich öffne die Tür langsam.

Ihr entfährt ein leises „Endlich!“, dann fällt sie mir in die Arme.

Ich kann gerade noch der Tür einen Schubs geben, Sekunden später ist ihre Zunge in meinem Mund. Wir taumeln – ich rückwärts, sie schiebt mich nach hinten – und ich falle zurück in mein Bett. Die Anstrengungen des Tages und die allgegenwärtige Müdigkeit lassen unsere Bewegungen plump und unerfahren wirken, aber im Moment ist es der beste Sex, den ich je hatte.

 

Aber die schönsten Momente im Leben sind am schnellsten vorbei. Wir liegen wortlos nebeneinander und starren an die Decke. Wie jede Nacht seit drei Wochen. Ich breche das Schweigen. „Wirst du es mir heute sagen?“

„Was?“ Sie weiß genau, was ich meine.

„Stell dich nicht dumm.“

„Ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen will.“

„Du schläfst seit drei Wochen mit mir aber lässt mich immer noch nicht wissen, warum du überhaupt hier bist? Vertraust du mir nicht?“

„Es ist eine schreckliche Geschichte!“

„Schlimmer als das, was wir hier täglich erleben?“

Damit kann ich sie überzeugen. „Okay. Ich kann es dir ja nicht ewig verheimlichen.“

„Danke!“

Sie fährt sich über die Lippen. „Ich bin eine Verbrecherin.“

„Was?!“

Lisa nickt schweigend.

„Was hast du getan?“

Wieder nur Schweigen.

„Bitte sprich mit mir! Du kannst dich nicht vor deiner Vergangenheit verstecken!“

Dann bricht es aus ihr heraus „Meine Mama hat dieses Medikament gebraucht. Sie war todkrank, hätte noch circa ein schmerzerfülltes Jahr vor sich gehabt, aber es gab dieses neue Wunderheilmittel. Natürliche nur für die Superreichen.“ Sie schnaubt verächtlich. „Was hätte ich Anderes tun sollen? Ich musste es doch stehlen! Mein Papa ist schon lange tot gewesen, er starb beim Bau des Hamburg-Walls, wir waren alleine!“

„Oh.“ Mehr bringe ich nicht heraus.

„Nach nur 30 Minuten hatten sie mich gefasst. Nochmal eine halbe Stunde später stand ich vor der Schnellgericht. Ohne Anwalt. Studienverbot habe ich sofort bekommen, meine Uni hat mich exmatrikulieren müssen noch bevor ich vor dem Richter stand. Er hat mich vor die Wahl gestellt. Zehn Jahre im Gefängnis wegen Verbrechen gegen die vereinigten Pharmaindustrien von Atlantica oder zwei Jahre in der Armee. Mit Gehalt. Wie hättest du dich denn entschieden? So konnte ich meine Mama wenigstens noch ein paar Mal sehen.“

„Aber…?“

„Ja, das ist drei Jahre her. Aber nach der großen Flut haben sie alle temporären Streitkräfte auf Lebenszeit verpflichten dürfen. Wusstest du das nicht?“

„Ich hatte keine Ahnung. Denkst du, die sagen uns was? Je weniger wir denken, desto besser.“

Der Frau, die heute noch mehrere Unschuldige erschossen hat, laufen nun Tränen über die Wangen. „Ich will das Alles nicht mehr!“

Ich nehme sie behutsam in den Arm.

Sie schluchzt gegen meine Schulter. „Ich will hier raus!“, flüstert sie.

Ich streiche ihr über die Haare. „Gemeinsam stehen wir das durch.“

„Ich möchte keine Unschuldigen mehr töten.“

„Wenn das PA-Projekt Erfolg hat, wird alles einfacher. Dann bekommen wir die Überbevölkerung auf diesem verbrannten Planeten in den Griff.“

„Versprich mir, dass du mich niemals verlässt.“

„Ich bleibe bei dir. Ich liebe dich!“

„Ich liebe dich auch!“

„Bleib heute Nacht bei mir!“

„Nur wenn ich morgen auch wieder kommen darf!“

„Bleib am besten gleich für immer hier.“

Wir liegen eng umschlungen auf dem unbequemen Bett. Es ist das schönste Gefühl der Welt.

„Lass uns desertieren.“, murmelt Lisa müde, bevor wir uns ins Reich der Träume begeben.

Zum ersten Mal seit Monaten schlafe ich ohne Albträume.

 

Randnotiz aus der Atlantica-Staatszeitung vom 25.05.2043:

Deserteure erhalten gerechte Strafe!

In der Nacht zum 22.05. konnten zwei Deserteure der Atlantica-Armee gefasst werden. Der Offizier Julius Brand und die Soldatin Lisa Meyer wurden unmittelbar in der Nähe ihres Lagers aufgegriffen. Erschwerend kommt hinzu, dass die beiden eine unerlaubte Liebesbeziehung hatten. Die Verbrecher wurden dem Lawbot-3000 vorgeführt und zum Tode durch den Strang verurteilt. Zeugenaussagen und ein Tagebucheintrag des Offiziers, in dem die Fahnenflucht angekündigt wird, machten das schnelle Urteil möglich. Das Urteil ergeht im Namen der Völker und wurde noch am 23.05. vollstreckt. Die humane und schnelle Rechtsprechung konnte wieder einmal ein gerechtes Urteil zum Wohle der Menschheit fällen.