Von Manuela Murauer

Sie lenkt den Mietwagen auf die Bundesstraße Richtung Nationalpark Sierra de Grazalema. Auf dem Beifahrersitz liegt die neueste Canon EOS 80D, ein Geschenk ihrer Mutter vor ihrer Abreise nach Andalusien.

„Halte alle Wunder der Natur auf deiner Studienreise damit fest.“

Seit drei Wochen jobbt sie jetzt auf der Hacienda Andaluz, einem Wanderreitbetrieb. Heute ist ihr erster freier Tag und sie ist bei Sonnenaufgang losgefahren. Chiara erreicht die schmale, steile Straße, die hoch in die Berge führt, die regenreichste Region Spaniens mit einer traumhaften Pflanzenwelt. Die Märzsonne taucht alles in elfenbeinfarbiges Licht. Auf den Wiesen liegt ein silbern funkelnder Schal aus Tau. Rauschende Bäche stürzen von den Bergen in die Tiefe und hinterlassen einen Gischtnebel, der sich bunt mit dem Licht der Sonne vereint. In der Ferne eine große Schafherde auf einem  Wiesenstück. Langsam fährt sie vorbei und bemerkt erst jetzt im Schatten einer Steineiche den Schäfer mit seinem Border Collie. Chiara kann dieser zarten Atmosphäre nicht widerstehen, sie hält am Straßenrand, nimmt ihre Kamera und steigt aus.

„Puedo tomar fotos, Señor?“ Der Hirte lächelt und nickt, ohne zu antworten. Durch ihr Objektiv kann sie die tiefen Furchen im Gesicht des Mannes erkennen. Unter der Baskenmütze dunkelblaue, jugendlich wirkende Augen, die irgendwie nicht zu der gegerbten Haut passen. In seiner linken Hand hält er eine krumme, schlanke Zigarre, aus der er einen Zug nimmt. Zu seinen Füßen liegt der Border Collie, sein abwartendes Verhalten an der Seite des Hirten zeugt von Sensibilität, die Augen sind ruhig auf die Schafe gerichtet. Sie kann sich der Ausstrahlung dieses Hundes kaum entziehen und muss an Hank denken, den Hund ihrer Großtante. `Ach, wie er mir fehlt!`, denkt sie wehmütig.

Der Schafhirte erhebt sich und humpelt, er zieht ein Bein nach, der Hund folgt ihm wie ein Schatten.

„Gracias, Señor!“ ruft Chiara hinterher. Sie hat einige Fotos gemacht und bricht wieder auf.

Pünktlich zum Abendessen trifft sie in Prado del Rey ein. Lautes Geschrei aus der Küche der Hacienda.

„Dieser Mistkerl! Wenn ich den erwische, hacke ich ihm die Finger eigenhändig ab!“ Chiara verdreht die Augen. Die Hofbesitzerin Marietta, eine deutsche Auswanderin, bei einem hysterischen Anfall. „Chiara! Komm sofort hier her!“

„Was ist denn passiert, Señora?“

„Wir wurden schon wieder bestohlen! Hast du nichts bemerkt in der Früh? Diese scheiß nutzlosen Köter schlagen auch nicht an!“ Vor der Tür liegen zwei Cattle Dogs in der Sonne und dösen.

„Es war ganz ruhig, als ich losgefahren bin. Was fehlt denn wieder?“

„Es fehlt Käse, Geräuchertes, Brot… es ist zum Verrücktwerden!“ Mariettas Haar ist zerzaust, einzelne Strähnen kleben an ihren Schläfen und sie hat Schweißflecken an ihrem Kleid.

„Mach´ dich an die Arbeit und betreue die Gäste. Eine neue Ausreitgruppe ist eingetroffen. Nach dem Abendessen hast du Stalldienst und morgen früh hilf´ dem Reitführer beim Satteln. Rápido!“

Nachdem Chiara die Tische der neu eingetroffenen Gäste abgeräumt hat, geht sie müde Richtung Stallungen. Niedrige, drückende Mauern mit einem alten Gewölbe erstrecken sich entlang der Pferdeboxen, es riecht miefig und es ist heiß. Zu viele Pferde für zu viele Stunden eingepfercht auf engstem Raum. Die Pferde schauen hinter Gitterstäben zu Chiara, manche brummeln oder wiehern ihr zu.

„Diego, mein Freund. Wie geht es dir?“ Chiara streichelt dem Schimmelwallach über den Hals. Das Heu hat er bereits aufgefressen. Diego, der sicherlich mal ein stattlicher Spanier gewesen ist, senkt den Kopf. Seine Rippen sind deutlich zu sehen und die Hüftknochen stehen hervor. Chiara steckt ihre Nase in seine Mähne, kann ihre Tränen kaum unterdrücken. Sie hält noch bei jedem einzelnen Pferd Nachschau, füttert Heu und streichelt die Tiere liebevoll. Dann geht sie in ihr kleines Pueblo hinter einer leer stehenden Stallung. Hier hat sie zum Glück genügend Abstand zu den Touristen, die im Hofinneren wohnen und hört den Lärm nicht, den sie nach dem Abendessen auf der Veranda sitzend machen. Sie verstaut ihre Kamera sorgfältig und fällt dann gleich in tiefen Schlaf.

„Die Pferde sind gesattelt“, begrüßt Chiara am nächsten Morgen Hernandez, den Reitführer. Der aus der Region stammende, wortkarge Mann mittleren Alters zieht seine Stiefel und Sporen an und holt sich eine Kandarentrense aus der Sattelkammer. Diego reißt die Augen auf und wirft seinen Kopf in die Höhe, als Hernandez sich ihm nähert.

Ein Dutzend Reitgäste kommt herbei, laut plaudernd und lachend. Hernandez weist den Gästen die Pferde zu, erklärt kurz den geplanten Weg und alle sitzen auf. Zwei Gäste prosten sich bereits jetzt aus Brustflaschen zu und drücken die Sporen in das Pferdefell. Chiara hat einen Kloß im Hals und ein bedrückendes Gefühl in der Magengegend, mit zittrigen Händen räumt sie die Putzkisten weg und macht sich an die Stallarbeit.

„Marietta, einige Pferde bluten aus dem Maul und sind kräftig sporniert worden. Die Gäste sind mehr als grob. Wieso weist Hernandez die Gäste nicht zurecht? Das ist seine Pflicht!“ Chiara steht abends in der Küche und kann ihre Wut nicht bremsen.

„Das müssen die Rösser schon aushalten. Das ist ihr Job. Und überhaupt geht dich das nichts an, kümmere dich um deine Arbeit und lass mich in Ruhe, ich habe zu tun.“

Eine Nacht voll Kummer und Sorge um die Pferde. Chiara kann nicht einschlafen, es ist bereits lange nach Mitternacht, als sie plötzlich ein Knacksen und Rascheln vor ihrer Hütte hört. Sie steht auf und sieht aus dem Fenster. Ein Hund, geduckt und schleichend, dahinter ein hinkender Mann. Der Schafhirte! Langsam öffnet sie die Tür.

„Ola? Qué haces aquí?“ flüstert sie. Der Mann bleibt erschrocken stehen.

„Sie können Deutsch mit mir sprechen, Señorita!“, flüstert er zurück.

„Kommen Sie rein, bitte. Wir wollen niemanden wecken.“ Chiara macht eine einladende Handbewegung.

Heute hinkt er besonders schlimm und während er über die Türschwelle tritt, kommt er ins Stolpern, seine Leinentasche fällt auf den Boden und der Inhalt entleert sich auf den Holzdielen. Chiara schließt schnell die Tür und bückt sich. Sie muss schmunzeln: Brot, Käse, Zigarren, Hundefutter…  

„Da haben wir ja den Dieb!“, sagt sie lächelnd und sammelt alles ein.

„Setzen Sie sich doch. Wie heißen Sie?“

„Ich heiße Roland.“ Er reicht ihr die Hand. „Ich bin Chiara und arbeite als Aushilfe hier.“

„Sicher keine leichte Aufgabe bei dem Hausdrachen“, entgegnet er.

„Roland, die Chefin bemerkt, dass sie bestohlen wird. Was, wenn sie dich erwischt?“

„Wenn Marietta nicht so gefühlskalt wäre, wüsste sie, dass ich es bin und mir nur das hole, was mir zusteht. Sie ist nämlich meine Frau.“

„Deine Frau?“

„Denk ich mir, dass sie das nicht erwähnt hat. Wir sind vor über 20 Jahren ausgewandert und haben die Hacienda übernommen. Bis zu meinem Autounfall habe ich die Gäste auf Ausritten begleitet. Danach ging nichts mehr. Ich kann nicht Reiten mit meiner kaputten Hüfte. Marietta ist sehr geschäftstüchtig, von Jahr zu Jahr wurde ihre Gier schlimmer. Ich hab das nicht mehr ausgehalten. Als sie dann noch diesen Hernandez als Reitführer einstellte, hat es mir gereicht. Dieser grobe Hammel! Die Tiere gehen kaputt!“

„Ich betreue sie gut, aber leider hat Marietta kein Einsehen. Die Pferde müssten ganz anders gehalten werden. Hernandez und manche Reitgäste sind richtig grob….“ Chiara kann nicht mehr weiter sprechen, ihre Stimme versagt bei dem Gedanken an die blutenden Pferde.

„Es war nur noch Streit und Krampf. Vor einem Jahr bin ich mit meinem Hund und den Schafen einfach abgehauen, es war ihr egal. Am liebsten hätte ich auch die Pferde mitgenommen, ganz weit weg von hier. Die Behörden in Spanien machen leider nichts.“

Das erste Morgenlicht blinzelt durch das Fenster. Ein Hund bellt auf der Hacienda.

„Die Hunde! Wieso schlagen die Hunde nicht an, wenn du hier rum geisterst in der Nacht?“ Roland lacht laut auf. „Die Hunde kennen mich doch, die wedeln sogar mit dem Schweif. Und die Pferde gehe ich auch besuchen, die sind mucksmäuschenstill, wenn ich den Stall betrete.“ Jetzt müssen beide lachen. Der Hund von Roland läuft zur Tür, als wolle er sagen: Komm, es wird höchste Zeit.

„Wie heißt er?“, will Chiara wissen. „Das ist mein Flash, der beste Hund der Welt.“ Roland erhebt sich mühsam. „Danke, Chiara.“

„Wann kommst du wieder?“ Roland lächelt sie an, zuckt mit den Schultern und verlässt mit Flash die Hütte.

Die folgenden Wochen kümmert sich Chiara liebevoll um die Pferde, sie sind ihr zur Herzensangelegenheit geworden. Roland und Flash kommen nun öfter vorbei. Nicht nur, um Essen zu klauen, sondern auch, um Chiara zu besuchen. Sie sitzen dann die halbe Nacht im Pueblo, naschen vom gestohlenen Brot, Käse und Wein und schmieden Pläne. Und was für Pläne! Chiara kann ihren letzten Arbeitstag kaum erwarten.

„Willst du nicht verlängern? Ich kann jede Arbeitskraft gebrauchen.“ Marietta sitzt an ihrem Schreibtisch und holt die Geldbörse aus der Schublade.

„Nein, Marietta. Ich kann die geschundenen Seelen im Stall nicht mehr sehen.“ Feindselig grinst Marietta Chiara an und reicht ihr das Geld.

Sorgfältig verstaut Chiara spät abends alles im Mietwagen. Um vier Uhr, wie vereinbart, ein leises Klopfen an der Tür.

„Bist du bereit?“, flüstert Roland. Sie nickt und reicht ihm den Autoschlüssel. Gemeinsam gehen sie zu den Stallungen.

„Mein Flug geht mittags.“

„Wir treffen uns in etwa zwei Stunden. Danke, Chiara. Dich hat der Himmel geschickt!“

„Psst, Diego, wir machen eine Reise.“ Chiara streift dem Pferd sanft das Stallhalfter über. Als sie den Innenhof erreichen, öffnet Roland alle Boxentüren. Ruhig folgen alle Pferde, als wüssten sie, dass sie leise sein müssen. Roland hilft Chiara auf den Rücken von Diego, sie hält sich an seiner Mähne fest.

„Vamos, Diego!“ Nach kurzer Zeit erreichen sie die Wiesen der Ebene, sie galoppieren in den Sonnenaufgang. Chiaras dunkles Haar und Diegos weiße Mähne wehen im Wind. Bald werden die Pferde auf saftigen Wiesen in den Bergen der Grazalema für immer frei sein!