Von Denise Fiedler

Das Haus war eines von vielen. Hinter einer Konifere fand er Deckung und hatte ungehinderte Sicht ins Innere. Eine junge Frau sammelte Kleidungsstücke in einem Wäschekorb. Er wartete, bis sie die Kellertreppe heruntergestiegen war, dann ging er zur Haustür. Das Seltsame an Türschlössern war die vermeintliche Sicherheit, die sie ihren Besitzern vorspielten. Mit dem richtigen Werkzeug war es ein Leichtes, sich Zugang zu verschaffen. Er zog die Schuhe aus, behielt sie in der Hand und inspizierte das Haus. Erst die obere Etage, wobei er darauf achtete, dass keine der Stufen unter seinem Gewicht knarzte, dann die untere. Ein penetranter Geruch lag in der Luft und erinnerte ihn auf merkwürdige Weise an zu Hause.

Bis auf die Küche und dem leichten Schein aus dem Keller, lagen die Räume im Dunkeln. Von den Briefen auf der Ablage entnahm er ihren Namen.

Marie …

Er schmeckte jeden einzelnen Buchstaben auf seiner Zunge. Das Gefühl freudiger Erwartung prickelte von den Fußspitzen bis zu seinem Kopf hoch.

Marie schien verheiratet zu sein, das besagten die Herrenschuhe in der Diele und die Fotos an der Wand, dennoch stand auf dem Esstisch nur ein Teller. Die Schlieren zeigten, dass jemand zuvor mit einer Scheibe Brot versucht hatte, auch die restliche Soße aufzunehmen.

Vielleicht hatte der Ehemann Nachtschicht oder zog mit seinen Kumpels von Kneipe zu Kneipe. Der Gedanke, wie der seine Frau später fand, ließ ihn erschauern.

Der Boden der Küche war frisch gewischt, aber nicht mehr feucht genug, dass er verräterische Spuren hinterlassen würde. Er ging zum Herd und hob den Deckel von einem der Töpfe. Heißer Dampf stieg auf, an Gewürzen hatte Marie nicht gespart. Auf der Arbeitsplatte lag eine aufgerissene Fleischpackung. Nieren stand darauf. Das erklärte den vertrauten Geruch, seine Mutter hatte die Nieren auch nie lange genug gewässert.

Er wählte am Esstisch einen Stuhl, von dem aus er die Tür gut im Blick hatte, aber nicht direkt gesehen werden konnte. Jetzt hieß es warten.

Ihre Schritte verrieten sie, kurz darauf erschien Marie im Türdurchgang, erstarrte mitten in der Bewegung, als sie ihn sah. Er wusste um die Wirkung seines Lächelns, das darüber hinwegtäuschte, dass jeder Muskel in seinem Körper angespannt war, bereit, jederzeit aufzuspringen, um sie an der Flucht zu hindern. Doch Marie tat nichts dergleichen, starrte ihn nur an. Ihr Kehlkopf hob sich, als sie schwer schluckte. »Wer sind Sie?« Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

»Guten Abend«, sagte er, so charmant wie er konnte. »Bitte setzen Sie sich doch.«

Marie regte sich nicht, also wiederholte er, diesmal mit drohendem Unterton: »Setzen Sie sich!«

Sie gehorchte. Mit weit aufgerissenen Augen und zitternden Händen nahm sie Platz.

Ein Reh, dachte er verzückt, ich habe ein Reh gefunden. Dies würde eine amüsante Nacht werden.

Er genoss es, den Moment des Schweigens in die Länge zu ziehen, beobachtete jede ihrer Regungen, das Zucken in ihren Gesichtsmuskeln, die rasenden Gedanken in ihren Augen.

»Marie«, fing er an. »Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, ich bin hier, um Sie zu töten. Sie haben sicherlich schon von mir gehört.«

Ihre Stimme krächzte mehr aus ihrem Hals heraus. »Sie sind der Mitternachtsmörder.«

Er verzog den Mund. »Ein schrecklicher Name, den mir die Presse da gegeben hat, als ob ich mich zeitlich festlegen würde. Aber bevor wir zu dem amüsanten Teil des Abends kommen, möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Wo ist Ihr Mann?«

Wieder das Heben ihres Kehlkopfes. »Er ist tot.«

Er hob die Augenbrauen.

»Er ist erst kürzlich verstorben«, fügte sie hinzu.

Irgendetwas störte ihn bei dieser Neuigkeit, er konnte aber nicht genau sagen, was. Es lag nicht an dem Platzen seiner Vorstellung, wie der Mann sie fand, irgendwer würde sie finden und das Entsetzen darüber könnte er in der Tageszeitung nachlesen. Vielleicht die Tatsache, dass sie ihm nicht mit einem bald heimkehrenden Ehemann drohte? Der Schock über den plötzlichen Verlust saß eventuell noch zu tief und erklärte das Fehlen jeglicher Abwehr. Er schob diesen flüchtigen Moment des Unbehagens, den Gedanken, irgendetwas übersehen zu haben, zur Seite und widmete sich lieber wieder Marie.

»Nun, dann können Sie ja beruhigt sein, dass Sie bald wieder mit Ihrem Mann vereint sind.«

»Warum ich?« Eine Träne löste sich aus Maries linkem Auge, er verfolgte ihren Weg über die Wange bis hinab zum Kinn, wo sie sich löste und als dunkler Fleck mit dem Pulli verschmolz.

»Nennen Sie es Zufall oder Schicksal. Mein Weg hat mich an Ihrem Haus vorbeigeführt, ist es da wirklich wichtig, nach dem Warum zu fragen?«

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Ich bin froh, dass ich Ihr Haus ausgewählt habe. Dieser Geruch hat mich an meine Mutter erinnert. Sie hatte eine Vorliebe für Nieren, auch wenn sie die nie richtig hinbekommen hatte.«

»Wo ist Ihre Mutter jetzt?«

Ah, jetzt kam doch etwas Schwung in die Sache, das instinktive Bemühen um eine vertraute Atmosphäre, die Annahme, eine persönliche Bindung böte einen Ausweg aus der Situation, könne vielleicht sogar Mitleid in ihm erwecken, ungeahnt, dass es lediglich das Gegenteil bei ihm bezweckte.

»Mein Vater hat sie erschlagen.«

»Das ist schrecklich«, sagte Marie. »Was ist mit ihm passiert?«

»Ich habe ihn getötet, er hätte meine Mutter nicht erschlagen sollen!«

Sie zuckte zusammen, dann räusperte sie sich. »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen einen Teller zurechtmachen. Das Essen ist noch warm.«

Amüsiert lachte er auf. »Denken Sie, Sie könnten mich damit umstimmen?«

»Nein, aber Sie würden mir damit einen Gefallen tun. Ich vermisse es, für jemanden zu kochen.«

Zeit schinden, dachte er, aber er hatte Zeit, warum, die Vorfreude nicht noch etwas in die Länge ziehen, den Appetit auf das Vergnügen ins Unermessliche steigern? Er nickte.

Marie stand auf, er folgte ihrem Blick zu dem Messerblock. »Denk nicht daran, Marie! Sei dir gewiss, ich bin schneller als du.«

Sie ließ die Schultern sinken, was vielleicht auch daran lag, dass er die Förmlichkeit hatte fallen lassen. Kurz darauf stellte sie einen gut gefüllten Teller auf den Tisch.

Der erste Bissen trieb ihm die Tränen in die Augen.

»Zu scharf?«, fragte Marie.

Er schüttelte den Kopf.

»Vielleicht ein Schluck Wasser?«

Nicken. Dankbar nahm er das Glas an, das sie ihm kurz darauf hinhielt.

»Das ist wirklich gut«, sagte er, nachdem der erste Schweißausbruch um war. »Meine Mutter hat die nie so hinbekommen.«

»Es ist ein neues Rezept, was ich ausprobieren wollte. Meinem Mann hat mein Essen nie geschmeckt.« Für einen Moment ging ihr Blick ins Leere.

»Dieses hätte er bestimmt geliebt.«

Sie nickte. »Ich denke, das hat er.« Sie griff in den Brotkorb und reichte ihm ein Stück Baguette.

Er wartete, bis sich das Brot von der Soße rot gefärbt hatte und schob es dann in den Mund.

Eine Weile sah sie ihm schweigend zu. »Wie werden Sie es anstellen?«, fragte sie schließlich.

Er hob die Augenbrauen.

»Wie werden Sie mich töten?«

»Oh, ich bin immer sehr spontan. Du hast eine nette Auswahl in dem Messerblock, aber auch mit dem Bügeleisen oben in deinem Schlafzimmer lässt sich manches anfangen.« Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.

»Haben Sie je einen Mord bereut oder im Vorfeld schon Gewissensbisse gehabt?«

»Falls du dir Hoffnungen machst, muss ich dich enttäuschen. Ich bin ein Künstler, da ist kein Platz für Reue. Sieh es als Ehre an, du darfst Teil dieser Kunst sein.« Er nahm ein weiteres Stück Baguette und tunkte damit die restliche Soße auf. Dann lehnte er sich zurück, öffnete den oberen Knopf seines Hemdes und weitete den Kragen. Die Hitze schien aus ihm heraus zu brennen.

Irgendetwas hatte sich in Maries Blick verändert, die Rehaugen fixierten ihn.

»Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen etwas blass aus.«

»Alles bestens«, sagte er. »Es war doch etwas scharf.«

Er hatte das Gefühl, das Wasser sammelte sich in seinem Mund, immer wieder schluckte er, obwohl es ihm mit jedem Mal schwerer fiel. Die Zunge fühlte sich seltsam taub an.

»Ich habe keine Ahnung von Kunst«, sagte Marie. »Mein Mann meinte immer, ich hätte von nichts eine Ahnung.«

Ein plötzlicher Krampf warf seinen Oberkörper nach vorne. In weitem Bogen erbrach er sich über den Küchenboden, gleichzeitig entleerte sich sein Darm und ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Marie sah ihn missbilligend an. »Ich habe befürchtet, dass dies passieren würde, obwohl ich hoffte, dass Sie sich besser im Griff hätten.«

Er sprang auf, die Füße gaben unter ihm nach, er versuchte, sich mit den Händen abzufangen, doch sie rutschten auf dem nassen Boden weg, sodass er mit dem Gesicht mitten in seinem Erbrochenen landete. Jegliches Gefühl war aus seinen Füßen verschwunden, nach und nach krabbelte diese Taubheit die Beine hoch.

»Was hast du Miststück getan?«, fragte er, nachdem er sich erneut entleert hatte.

»Das Internet ist wirklich eine Bereicherung. Man erfährt so viel. Kann alles nachschlagen. Wussten Sie, dass Sokrates an den Folgen eines Gifttrunkes gestorben ist? Eine recht unscheinbare Pflanze, dieser Schierling.«

Sie hockte sich neben ihn, allerdings weit genug entfernt, dass seine umherschlagenden Hände sie nicht erreichten.

»Sie haben nicht gefragt, wie lange ich schon Witwe bin. Seit dem Abendessen, um es genau zu sagen. Sie werden meinen Mann bald kennenlernen, er wartet im Keller auf Sie.« Marie legte den Kopf schief. »Sie sind um einiges größer als er, ihn konnte ich mit einer Decke die Treppe runterziehen. Ich befürchte, Sie sind zu schwer für mich.« Einen Moment dachte Marie nach, dann lächelte sie, verschwand durch die Tür, nur um kurze Zeit später mit einer Säge zurückzukehren. »Zu dem Bügeleisen ist mir leider nichts eingefallen, aber die wird helfen.« Dann sah sie sich in der Küche um. »Das wird eine ganz schöne Schweinerei geben, ich werde die Nacht durchputzen müssen, bis ich den Mist weggemacht habe.«

Das Atmen fiel ihm schwer, mittlerweile konnte er sich kaum noch regen. Die Post, fiel ihm ein, es waren keine Beileidskarten dabei.

 

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