Von Eva Fischer

Er fiel mir sofort auf, weil er fragte, ob dies der Wagon 23 sei, obwohl er davor stand und die Zahl gut lesbar war. Er war groß und schlank Seine langen Beine steckten in kurzen Shorts und endeten in braunen Sandalen. Auf seinem Rücken baumelte eine Art Seesack. Sein volles weißes Haar wies auf ein fortgeschrittenes Alter hin.

Das Großraumabteil war leer. Noch steckte der ICE  im Sackbahnhof München fest, wartete auf seine Fahrt gen Norden in etwa einer halben Stunde.

Der Weißhaarige wuchtete seinen Reisesack  auf die Ablage. Kaum saß er, kam eine Frau mit spitzer Nase und strengem Blick, schaute auf ihr Ticket und machte ihn darauf aufmerksam, dass dies ihr reservierter Platz sei. Der Weißhaarige stemmte sich wieder in die Senkrechte, nahm sein Gepäck, verstaute es direkt über meinem Kopf und nahm neben mir Platz. Er legte beide Arme auf die Armlehnen und schränkte damit meine anfängliche Bewegungsfreiheit empfindlich ein. „Ist das Ihre Platzreservierung?“, wagte ich einen Vorstoß. Er nickte. „Wieweit fahren Sie?“ fragte ich. „Bis Köln.“

Meine Hoffnung, ihn bald loszuwerden schwand dahin. Er nahm seine Mütze ab und legte sie auf das Tischchen vor sich.

 

Kurz darauf setzte sich eine ältere Frau mit ihrer Tochter mir gegenüber. Es war Montag und ich hatte darauf spekuliert, nach der Ticketkontrolle gegenüber Platz nehmen zu können, um nicht eingequetscht und rückwärts fahren zu müssen. Beim nächsten Kopfbahnhof würde sich zumindest die Richtung ändern, hoffte ich.  

„Bin ich hier richtig? Ich will nach München!“, stieß der Weißhaarige plötzlich hektisch hervor.

„Sie sind in München und wollen nach Köln“, beruhigte ich ihn, was ich mehrfach wiederholen musste, weil er mir offensichtlich keinen Glauben schenken wollte.

Die blondgefärbte ältere Dame mir gegenüber schaute uns interessiert an.

„Ach, sind Sie der Betreuer?“, wollte sie wissen.

Ich verneinte schmunzelnd.

„Ich komme von der Taufe meiner Enkeltochter“, offenbarte sie mir. Das erklärte ihr elegantes Outfit.

„Sie ist schon sieben!“, fuhr sie in leicht vorwurfsvollem Ton fort. „Aber zum Glück wurde sie noch rechtzeitig vor der Kommunion getauft.“

„Wenigstens konnte ihre Enkelin frei wählen, was ein Baby nicht kann“, tröstete ich sie, obwohl ich selbst daran zweifelte, dass eine Siebenjährige eine Wahl hatte.

 

„Achtung, Achtung! Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Die Wagons 22 und 24 sind wegen einer defekten Klimaanlage für die Öffentlichkeit leider nicht zugänglich. Wir bitten die Passagiere, die übrigen Wagons zu benutzen.“

 

„Glück gehabt“, zwinkerte die blondierte Oma mir zu.

Kurz darauf setzte eine Völkerwanderung ein. Die Reisenden mit Platzreservierung in Wagon 23 nahmen triumphierend ihre Sitze ein, während die Reisenden mit Platzreservierung in den geschlossenen Wagons ein saures Gesicht machten und sich schließlich resigniert im Durchgang auf ihre Koffer setzten, was andere Reisende das Weitergehen erheblich erschwerte. Eine Frau mittleren Alters mit langem schwarzen Haar und Handy am Ohr stieß immer wieder gegen mich. „Entschuldigung, keine Absicht“, lächelte sie mich an.

„Ich will nach München“, brummte mein Sitznachbar erneut.

 

Es ertönte ein Pfiff und unser Zug setzte sich in Bewegung.

Ein Bahnschaffner ließ sich nicht sehen, um unsere Tickets zu kontrollieren. Wie hätte er sich auch durch die Flure quetschen können?

Die blondierte Oma zeigte mir auf ihrem Handy Fotos von der Taufe ihrer Enkelin, während ich einen jungen Pfarrer hinter ihr wahrnahm, den sein schwarzer Anzug mit weißem Krageneinsatz verriet. Sollte ich die Oma darauf aufmerksam machen? Dann könnte sie ihre Geschichte gleich nochmal erzählen.

 

„Achtung, Achtung“, plärrte es erneut aus dem Lautsprecher. „Das Bordrestaurant ist wegen eines technischen Defekts leider geschlossen. Wir bitten um Entschuldigung.“

 

Es war mittlerweile Mittagszeit und die Reisenden packten ihre mit Wurst oder Käse beschmierten Semmeln aus, die sie noch am Münchner Bahnhof erstanden hatten. Der Weißhaarige neben mir suchte geräuschvoll an die letzten Tropfen seiner Wasserflasche zu kommen.

„Möchten Sie etwas von meiner Semmel abhaben?“, fragte die blondierte Oma, der der hungrige Blick des Weißhaarigen nicht entgangen war.

Er nickte und verschlang in Windeseile die halbe Semmel, als fürchtete er, dass seine Spenderin es sich noch einmal anders überlegen könnte.

 

Ich schaute aus dem Fenster. Wir waren mittlerweile in Stuttgart. Erneut strömten Reisende in den ICE, in dem es mittlerweile wie in einem überfüllten Flüchtlingslager aussah.

Die Bahn wies per Lautsprecher darauf hin, dass die Passagiere aus Stuttgart besser auf andere Züge ausweichen sollten, auch die ohne Sitzplatz könnten aussteigen, was natürlich keiner tat.

 

Jeder gab sich wieder seiner Beschäftigung hin. Die meisten hörten Musik per Kopfhörer, andere tippten auf ihren Laptop oder unterhielten das Großabteil, indem sie ihren Frust ihren offensichtlich schwerhörigen Lieben durchs Handy brüllten. Andere vertieften sich in eine Lektüre oder wedelten sich damit Frischluft zu. Die Klimaanlage von Wagon 23 war an ihre Grenzen gekommen.

 

„Achtung, Achtung! Wegen einer Weichenstörung können wir den Bahnhof Mannheim leider nicht anfahren. Wir bitten um Ihr Verständnis.“

 

Offensichtlich hatte keiner in Wagon 23 vorgehabt, in Mannheim auszusteigen, so dass diese Durchsage nur mit einem Kopfschütteln und dem lapidaren Satz quittiert wurde: „Die Bahn ist doch immer für eine Überraschung gut.“

 

Ich schaute auf den Kilometerstandsanzeiger im Gang. 130 km/h, 187km/h, 205 km/h. Wahrscheinlich kam die Bahn diesmal zu früh und nicht zu spät wie gewohnt.

242km/h, 280km/h 300 km/h.

 

„Wenn das so weiter geht, fliegen wir bald“, sagte ich zu meiner Nachbarin und deutete auf die Anzeige.

„Heutzutage lohnt sich Fliegen nicht mehr. Im Flugzeug ist es nicht  konfortabler als in der Bahn. Man sitzt wie in einem Hühnerstall so eng. Wenn Sie etwas essen oder trinken wollen, müssen Sie es selbst bezahlen“, ereiferte sich die blondierte Oma.

 

Es wollten dann doch einige am Frankfurter Flughafen aussteigen. Keine Durchsage hatte ihnen angekündigt, dass wir auch hier vorbeirauschten.

„Halt!“, schrie ein Mann verzweifelt, der sich mit seinem Aktenkoffer vor die Tür gekämpft hatte.

„Irgendwas stimmt hier nicht“, kommentierte die Spitznäsige.

„Wo sind wir?“, wollte ein junger Mann mit Laptop wissen.

Mittlerweile waren wir bei 400 km/h angelangt, so dass es uns nicht mehr gelang, die Bahnhofsschilder zu lesen.

„Den Kölner Dom kenne ich, wenn wir da vorbeifahren“, sagte die Schwarzhaarige, die immer öfter gegen mich donnerte und es mittlerweile aufgegeben hatte, sich bei mir zu entschuldigen.

„Die Wege des Herrn sind unergründlich“, verkündete der Pfarrer und machte den Versuch aufzustehen, um von allen besser gesehen und gehört zu werden.

Die blondierte Oma mit der gerade getauften Enkelin drehte sich um und keifte ihn an.

„Seien Sie mal still! Sie haben keine Familie, aber ich möchte meine Enkelin und meinen Sohn wiedersehen.“

 

„Wir sind in den Händen von Terroristen“, kreischte die Spitznäsige.

Unwillkürlich wurden alle Gesichter der Anwesenden auf Migrationshintergrund gescannt. Die einzig mögliche Verdächtige war die Frau mit den langen schwarzen Haaren an meiner Seite auf dem Gang. Eine wirklich bildhübsche Polin oder Ungarin? Ich hatte nur einen leicht osteuropäischen Akzent bei ihren Entschuldigungen herausgehört. Sie schaute mich an und ich hatte den Eindruck, dass sie blasser wurde.

„Wo fahren wir hin? Ich will nicht zurück nach Russland zu Putin“, jammerte sie.

„Kommen Sie aus der Ukraine?“, wollte ich wissen, bekam aber keine Antwort. Momentan mochte es wohl wichtigere Informationen geben.

 

Plötzlich spürte ich, wie ein Gegenstand auf meinen Kopf fiel. Er war zwar groß, so dass mir die Luft erst mal weg blieb, aber er war auch weich, so dass ich nur einen dumpfen Schmerz spürte und nicht ernsthaft verletzt wurde.

„Wie können Sie Ihren Sandsack auch auf die Ablage stellen? Das musste ja so kommen!“, fauchte die blondierte Oma den Weißhaarigen an. Der Reisesack hatte sich scheinbar im Sturz geöffnet, denn als ich mich von ihm befreien wollte, hielt ich eine lange Hose in der Hand.

„Die hätte Ihnen besser gestanden als ihre Shorts“, sagte die blondierte Oma schnippisch und zwinkerte mir zu, während ich die Hose zurück in den Reisesack stopfte.

 

Mittlerweile schienen die Bäume sich aus dem Boden zu lösen und miteinander Fangen zu spielen. Immer wieder versuchte ein Bahnhofsgebäude sich dem entgegen zu stemmen. Vergeblich! Es war nicht ganz klar, wie lange der Zug sich noch der Schienen bediente. Zumindest wackelte er bereits bedenklich.

 

„Stop! Ich will hier raus!“, jammerte die Spitznäsige und versuchte die Notbremse zu ziehen, was ihr jedoch angesichts der Turbulenzen nicht gelang.

Die Tochter der blondierten Oma hämmerte ebenfalls gegen die Scheibe. „Ich will hier raus!“, stimmte sie in den allgemeinen Wunsch ein

„Ich bin im falschen Zug. Ich muss nach München“, lamentierte erneut der Weißhaarige.

„Sind wir das nicht alle? Ich meine im falschen Zug“, sinnierte ich.

„Häh?“

Mir war nicht klar, ob der Alte mich akustisch oder semantisch nicht verstanden hatte.

„Betrachten Sie das hier als eine Metapher für unser Leben“, rief ich ihm zu und drehte mich um, bevor er mir ein weiters „häh“ entgegenschleudern konnte .

 

*

 

„Ist das das Ende?“

Marlene runzelte die Stirn.

„Ist denn eine Geschichte jemals zu Ende, es sei denn der Autor ist gestorben?“

„Ach, Ulrich, der Leser möchte ein befriedigendes Ende.“

„Wer möchte schon gerne wissen, wohin unsere Reise geht und wie sie endet? Sei nicht so streng mit mir Marlene! Das ist meine erste selbstverfasste Geschichte. Meinst du nicht, dass sie die Teilnehmer deines Literaturkreises mögen werden?“

„Schauen wir mal“, lächelte Marlene.