Von Karolina Kaiser-Cichocka

Anne saß neben dem Krankenbett und senkte den Kopf. Ihre Haare bildeten einen Schleier vor ihrem Gesicht und verdeckten die geröteten Augen. Die Welt drehte sich: das Schneiden des Seils, Gespräch mit dem Rettungsdienst, die Fahrt ins Krankenhaus. Jetzt hatte sie Zeit.
„Vielleicht die ganze Zeit meines Lebens“, dachte sie und eine Träne rollte über ihre Wange. Sie öffnete langsam die Hand, auf der ein zerknittertes Papier lag. Es wurde aus einem kleinen Notizbuch rausgerissen und es standen nur die Worte ‚I’m sorry‘ drauf. Dazu lag ein Ehering. Anne sah die Sachen traurig an.
„Sollen das deine letzten Worte sein?“
Sie kreuzte die Hände und drückte den Ehering an sich.

Seit Tagen war sie hier. Das weiße Zimmer, das weiße Bett, Erik, der nicht aufwachte. Seine Hände waren kalt und die Ärzte konnten sich seinen Zustand nicht wirklich erklären.
„Es liegt an der Psyche“, meinten sie, „Vielleicht müssen sie ihn wachreden.“
Also redete sie, bis ihr die Stimme nachgab.

Heute wusste sie nicht, wie sie anfangen sollte. Sie sah Erik an und streichelte ihn sanft durchs Haar, ihr Blick war mit Liebe erfüllt.

„Erik“, die Stimme blieb in der stille des Raumes hängen, „Hörst du mich? Wach auf. Ich bin dir nicht böse für das, was du getan hast. Komm zurück. Ich warte.“

Er aber bewegte sich nicht. Sie erzählte, wie sie sich verliebten, von der Hochzeit. Sie lachte und weinte abwechselnd. Immer wieder sah sie zur ihm mit der Hoffnung auf irgendeine Reaktion. Aber er blieb regungslos. 

Da ergriff Anne die Wut. Sie stand auf, der Stuhl kippte und sie schrie. 

„Wie konntest du mir das antun? Denkst du ich leide nicht? Ich war es, die das Kind unter dem Herzen trug. Ich vermisse es auch. Du warst doch nicht allein damit“, sie konnte die Tränen nicht mehr halten, „Wir haben doch schon so viel gemeinsam gemeistert. Zusammen sind wir stark. Erinnerst du dich? Ich lasse dich nicht hier, ich finde einen Weg zu dir.“

Anne nahm auf dem Bett Platz und hob Eriks rechte Hand. Sie setzte ihm den Ehering auf.

„Nimm den Ehering nie mehr runter“, sagte sie farblos, „Er ist das Symbol unserer Entscheidung, dass wir zusammengehören.“

Sie nahm seine Hand in ihre, die Eheringe berührten sich. 

Ihr wurde schwindlig im Kopf und sie fiel nach hinten. Sie wartete auf den Aufprall, aber nichts passierte. Sie fiel weiter und alles wurde schwarz. Wie lange dauerte es? Hatte das etwas mit dem Ehering zu tun? Sie sah ihn an. Das Schwarz wechselte ins Gold und sie lag auf einem glatten Boden. Sie stand auf und betrachtete die goldene Oberfläche. Es war still und leer. Anne ging vor sich und auf einmal sah sie einen riesengroßen und doch stillen Tornado.
Der Weg war versperrt. Die Frau war verdutzt. 

„Soll ich weiter gehen? Ist Erik im Wirbelsturm?“, dachte sie und in dem Moment funkelte ihr Ring. 

„Du zeigst mir den Weg?“, sie war nicht wirklich überrascht, „Dann los.“

Sie atmete ein und trat in den Wind ein. Sie fühlte ihn nicht. Sie war in dem Wirbel, aber für sie existierte er nicht. Kurz danach trat sie in das Auge ein. Um sie herum wütete der Sturm und in der Mitte kniete gebückt ein Mann. Sie rannte zu ihm und drückte ihn an sich.

„Erik!“, rief sie voll Freude, „Ich habe dich gefunden!“. Sie nahm sein Gesicht zwischen die Hände, es war warm.
Erik erstarrte: „Anne? Bist du das wirklich? Aber wie…“, seine Augen waren voller Furcht, „Nein! Du hast dich doch nicht auch…?“
„Nein, habe ich nicht“, sagte sie beruhigend und setzte sich neben ihm. Sie seufzte: „Du liegst im Krankenhaus, im Koma. Niemand wusste, was mit dir ist. Ich bin bei dir geblieben und habe geredet. Als ich dir den Ehering aufgesetzt habe ist mir schwindlig geworden und bin dann hier gelandet.“
„Ich habe dich gehört und ich wollte antworten, aber die lassen mich nicht durch“, er krümmte sich, „nur hier in der Mitte habe ich meine Ruhe.“

Anne war überrascht: „Wen meinst du?“
Erik stand auf und deutete auf die Windmauer: „Ich zeige es dir.“ 

Wie eine Katze, die sich auf eine Attacke vorbereitet, ging er in dieser Richtung. Auf einmal flogen ihm verschwommene Gestalten zu, die den Mann umkreisten und redeten. Anne hörte aber kein einziges Wort. Sie sah nur wie ihr Ehemann gestikulierte und versuchte was zu sagen, aber die Geister drängten ihn immer tiefer bis er auf dem Boden hockte und den Kopf in den Händen versteckte.
Anne versuchte die Phantome zu verscheuchen, sie schrie, aber es wirkte nicht. Sie zog Erik zurück in die Mitte und alles beruhigte sich.

„Erik!“, Anne atmete tief, „Was war das?“

Erik war blass, aber ruhig.

„Du solltest Fragen: wer war das? Hast du nicht gehört was sie sagten?“
„Nein, das Einzige, was ich hier höre bist du. Und die Gestallten sind verschwommen.“
„Ich verstehe. Also…“, er atmete aus, „Ein Geist ist mein Großvater, er sagt: ‚Du bist ein niemand. Du bringst es zu nichts. Du enttäuschst sogar deine Frau.‘ Der zweite Geist ist ein Klassenschüler, der sich immer über mich lustig gemacht hat. Er sagt: ‚Du Vogelscheuche. Dich sollte man ins Feuer legen, damit du niemandem mehr Angst machst‘ und dann lacht er.“

Erik machte eine Pause. Es war schwer für ihn weiter zu erzählen. 

„Die dritte Erscheinung sind zwei Personen, du…und das Kind.“

Anne öffnete den Mund und nahm tief Luft. Sie brauchte einen Moment um zu Antworten.

„Unser Kind? Aber ich habe es doch in dem vierten Monat verloren.“
„Dein Geist sagt: ‚Du Erik bist schuld, durch dich ist es tot.‘ Und das Kind: ‚Du hast mich im Stich gelassen, du liebst mich nicht.‘ Und dann heult ihr.“

Anne schwieg. Sie war erschöpft und musste sich hinsetzen. Sie erinnerte sich an die Zeit, die schlimmste in ihrem Leben: erst war alles gut, sie sollten Eltern werden. Sie waren so glücklich. Doch dann, im vierten Monat, bekam sie höllenschmerzen und fing an zu Bluten. Erik fuhr sie ins Krankenhaus, wo sie ohnmächtig wurde. Sie wachte in einem weißen Bett auf und wusste es sofort: ihr Kind war Tod. Ein Jahr brauchte sie um wieder Lachen zu können und Erik ist depressiv geworden. 

Sie sah in den Tornado und konnte ihn hören.

„Ich weiß!“, Anne sprang auf, „Der Tornado zeigt, was in der Seele passiert. Ich kann ihn jetzt hören, weil ich mich wieder in die schwere Zeit versetzte.“ 

Ihre Energie war zurück und wollte ihrem Mann alles so schnell wie möglich erklären.

„Schatz, hör mir zu. Dein Großvater war immer eine Autorität für dich und du wolltest ihn stolz machen. Doch du konntest keine Arbeit finden und obwohl du jetzt eine Arbeit hast, wirfst du dir die Arbeitslosigkeit immer noch vor. Dann der Schüler. Er macht sich über dein Aussehen lustig. Deine Falten und die ersten grauen Haare betrüben dich. Ich kenne dich. Ich weiß nicht, ob du Angst hast alt zu werden oder ob ich recht habe. Ich kann dich nur über meine Gefühle versichern, dass ich dich so liebe, wie du bist“, sagte sie feurig. Sie konnte ihre Emotionen nicht mehr halten. Sie zitterte.

Erik dachte nach: „Hat Anne recht? Lass ich mich von meinen Gefühlen und Ängsten verrückt machen?“, er sah zum Tornado, „Ist das meine Seele?“ 

Anne wollte den dritten Geist besprechen, aber er unterbrach ihr mit einem Kuss. Sie standen kurz Stirn an Stirn.

„Sag nichts mehr. Ich weiss, was ich tun muss“, er ging auf den Seelenwind zu.
Anne blieb in der Mitte. Sie wusste, dass das nicht ihr Kampf ist.

Der Wind verstärkte sich und die Geister begannen dessen Monologe.

Der Großvater war gewaltig, wie ein Monolith und seine Stimme eiskalt.

„Du wieder? Du bist ein niemand. Komme mir nie wieder unter die Augen. Ich bin so enttäuscht von dir.“
„Nein“, Eriks Stimme wollte laut sein, „Ich arbeite doch, Opa. Ich habe eine Familie…“
„Die du nicht einmal zusammenhalten kannst. Du bist weggelaufen. Du hast sie in Stich gelassen.“, erwiderte der Geist.
Erik schaute auf den Boden, aber dann hob er den Kopf. Seine Augen glühten.
„Ich bin weggelaufen, das ist wahr. Ich konnte nicht mehr. Aber ich bin Stolz auf meine Arbeit, ich bin stolz, was wir mit Anne alles geschafft haben, was wir zusammen durchgehalten haben. Ich bin stolz darauf. Du kannst mich nicht mehr verunsichern. Verschwinde!“ Der Geist verschwand.

Die quietschende Stimme des zweiten Geistes drang durch die Luft. Die roten Haare waren wie Feuer.
„Du bist und bleibst eine, dazu noch eine alte, Vogelscheuche. Und diese Falten, wie ein ungenießbarer Apfel!“
„Na und?“, Eriks Gesicht war gelassen, „So lange meine Frau mich attraktiv findet, reicht es mir.“
„Ach ja?“, grinste der Schüler, „Und wenn sie erfährt, dass das Kind durch dein defektes Gen gestorben ist? Wird sie dich immer noch lieben?“ Er lachte.
Erik ballte die Faust und zischte durch die Zähne: „Das sind nur meine Ängste. Jede Frau kann ihr Kind verlieren und niemand ist daran schuld! Verschwinde Vogelscheuche!“ Der Geist verschwand.

Annes Geist war still. Das Kind war grau und glitschig. Es hob die Hände und sagte: „Wieso hast du mich nicht gerettet? Wieso bist du nicht schneller gefahren?“, dann schrie es, „Ich wollte leben. Du hast mich nie geliebt!“

Erik wollte sich rechtfertigen, entschuldigen, aber die Kindesstimme war zu laut. Er sah zu der lebenden Anne. Sie weinte und hielte die Hände, als würde sie ein Baby kuscheln.
„Ich muss dasselbe machen“, dachte er und umarmte die beiden Geister. Das Kind beruhigte sich.
Erik sagte: „Es ist passiert und damit werde ich leben müssen. Es tut mir leid. Aber mein kleiner Engel“, der Mann sah zum Kind. Es war ein Mädchen, „Ich werde dich immer lieben.“
Die Kleine lächelte und verwandelte sich in ein goldenes Licht, dass den ganzen Raum überflutete. Anne und Erik hörten noch wie ihre Tochter ruf: „Eines Tages treffen wir uns wieder“…und machten die Augen auf.

Sie lagen im Krankenbett. Sie sahen sich an und lachten aus den tiefsten Teilen der Seele.
Erik wollte Anne umarmen, aber da stellten sie etwas unglaubliches fest: sie konnten sich nicht trennen. Die Eheringe sind miteinander fest verschmolzen. Später ließen sie die Ringe auseinander sägen, aber polieren wollten sie sie nicht. Sie wurden an die Enkel weitergegeben.