Von Talita Schönberg

„Letzter Aufruf für die Passagiere des Fluges E77 nach Istanbul. Geplanter Abflug 18:30 Uhr, bitte finden Sie sich umgehend am Gate 35 ein …“ Schon seit Beginn der Durchsage wurde ich durchdringend von der Flugbegleiterin am Mikrofon angestarrt. Als wüsste sie ganz genau, dass ich einer dieser letzten Passagiere war, der noch an Bord des Flugzeugs fehlte. Ich konnte ihr die Blicke nicht verübeln, stand ich doch schon seit Beginn des Boarding wie angewurzelt an der Absperrung und sah den restlichen Gästen beim Einsteigen zu, nicht fähig diesen letzten Schritt in mein neues altes Leben zu wagen.

Ich musste an Tarik denken. Wahrscheinlich machte er sich gerade auf den Weg zur Schicht ins Restaurant von Ahmad, in dem er für einen Hungerlohn und illegal, der hungrigen Gesellschaft syrische Speisen servierte. Den Rest der Zeit verbrachte er an der Spüle beim Abwasch. Meine Nachricht, die ich filmreif auf dem Bettlaken drapiert hatte, würde er erst weit nach Mitternacht finden. Ceylin und Hani würden da schon seelenruhig in ihren Bettchen schlummern und neben den schönen Träumen nichts von dem Chaos mitbekommen. Ganz unwillkürlich berührte ich meine Narbe vom Kaiserschnitt und eine dicke Träne rollte mir über das versteinerte Gesicht. Mein kleiner süßer Hani, erst 2 Jahre alt und doch schon so ein aufgewecktes Kerlchen.

Ungefähr in seinem Alter hatten Tarik und ich uns damals kennengelernt und gefühlt nie wieder einen Tag ohne einander verbracht. Eine klassische Sandkastenliebe eben. Wir waren etwas Besonderes in unserem Dorf. Selten heiratete ein Mädchen einen Jungen, den sie selbst gewählt hatte und von ganzem Herzen liebte. Allzu oft wurde der Bräutigam je nach Religion und gesellschaftlichen Stand von den Eltern ausgewählt und die Ehe arrangiert. Nicht so bei uns! Mutter stand sofort auf meiner Seite und ließ Vater 3 Wochen keine Ruhe bis auch er schließlich unserer Hochzeit zustimmte. Mutter hatte schon immer gewusst, was mir guttat. Umso schlimmer war die Trennung von ihr, als Tarik mich nach Deutschland brachte, um für eine sicherere Umgebung für mich und das ungeborene zu Sorgen. Das war nun schon wieder 6 Jahre her und bis auf eine paar abgehackte Gespräche am Handy mit ihr hatten wir nichts mehr voneinander gehört. Und jeder weitere Tag ohne Mutter zerriss mich innerlich. Mir fehlten ihre Weisheiten, ihre Hingabe für Erläuterungen, ihre liebevolle Strenge, mit der sie einen auch schon mal laut zeternd mit dem Pantoffel um den Tisch jagte. Ihre Kochkünste, von denen ich nicht mal die Hälfte erlernen konnte, bis wir weggingen. Aber am meisten fehlte mir Mutters lächeln, wenn sie mein Kinn mit Daumen und Zeigefinger ergriff und meinen Kopf stolz von einer Seite zur anderen drehte und sagte: „Ah klug und auch noch schön, du bist ja doch ganz nach mir gekommen Habibti!“ Damals war ich überglücklich, fühlte mich wie der reichste Mensch der Welt. Ich hatte alles: Eltern, die mich liebten und mir die Wünsche von den Augen ablasen, einen sehr guten Schulabschluss und die Immatrikulationsbescheinigung für einen Studiengang, einen traumhaften Nebenjob im Friseursalon meiner Tante und meinen charmanten Tarik, der mein Herz jedes Mal aufs Neue zum Hüpfen brachte. Ich dachte, es würde ewig so laufen.

Wie naiv ich doch damals war. Es änderte sich alles. Mitten im Winter hielt der arabische Frühling Einzug, doch die geplanten Sonnenstrahlen und Lichtblicke kamen nie durch, stattdessen brach die Dunkelheit über uns allen aus. Und nach vier Jahren im dunklen, in der wir alle hoffnungsvoll gen Himmel flehten, auf das uns geholfen würde, starb auch die letzte Hoffnung. Spätestens als die ersten Angriffe aus der Luft erfolgten, lernten wir alle, dass nicht nur gutes von oben kam. Und so nahmen die Änderungen ihren Lauf. Der Salon meiner Tante in der Stadt lag in Schutt und Asche, ich trug Ceylin unter dem Herzen und Tarik organisierte unsere Flucht. Und viele Wochen und Tage voller Angst später gingen die Veränderungen weiter. Hier in Deutschland nahm man uns freundlicherweise auf, nur leider nie an. Tarik bekam keine Arbeitszulassung und das, obwohl er daheim für seinen Abschluss als Ingenieur hart geschuftet hatte. Von Tag zu Tag wurde er frustrierter und eifersüchtig auf alles und jeden. Oft wies er mich an die Wohnung nicht zu verlassen, damit mich kein fremder Mann angaffen oder mir deutsche Frauen ihre Emanzipation aufzwingen konnten. Und da mir da draußen sowieso oft der Unmut anderer entgegenschlug, verlor ich den Mut für Integration und blieb bei Haushalt und Kindern. Freunde hatte ich nicht, mir blieb nur unsere Nachbarin für kurze Gespräche über die Kinder. Häufig versuchte ich Tarik davon zu überzeugen zurückzugehen in gewohntes und geliebtes Terrain. Doch er lachte mich nur aus und meinte, dass selbst das Elend hier in dieser kleinen Wohnung besser wäre, als unsere Kinder in Angst und Sorge groß zu ziehen. Dieser Mix aus Gefühlen machte mich krank. Fühlte ich mich zum einen dankbar und beschützt, hier in deutscher Sicherheit meine Kinder aufziehen zu dürfen, spürte ich zum anderen große Einsamkeit und Trauer, die auf meinem Herz wie ein schwerer Stein lastete. Und oft trieb mir dieses Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung die Tränen in die Augen. Tarik verstand nicht, warum ich so oft weinte, mich vernachlässigte und manchmal nicht mal genug Kraft hatte die Kinder zu versorgen. Wir stritten oft und manchmal wen Tarik die Worte aus gingen ließ er seine Hände sprechen. An einigen Tagen stand ich morgens erst gar nicht auf, blieb ganz allein im Kreis meiner Emotionen zurück. 

Bei meinem letzten Telefonat mit Mutter, war Vater schlimm krank und bevor die Verbindung abbrach, sagte sie: „Komm zurück, hier im Dorf ist es doch noch ruhig!“ Sie weckte eine Sehnsucht ungeahnter Größe in mir. Noch einmal in meinem Dorf stehen an der Seite von Mutter. Und so wirkte es wie ein Wink des Himmels als meine Nachbarin von ihrem Neffen berichtete, der in unserer Botschaft die nötigen Papiere für eine 2-Wöchige Reise nach Istanbul beantragte, um von dort aus auf illegalen Umwegen nach Syrien einzureisen. Er würde sich um seine alten Eltern kümmern und danach zurückzukehren. Mit seiner Hilfe und hinter dem Rücken Tariks ergatterte auch ich eines dieser begehrten Papiere und je näher der Tag der Abreise rückte, desto schlimmer wurde meine Unruhe. „Du hast zwei Kinder hier, willst du echt dahin? Es ist gefährlich und verboten, keiner kann dir Versprechen, dass du lebend zu Hause ankommst!“, meinte meine Nachbarin. Ich schwieg. Nur ein kurzer Urlaub in der Heimat redete ich mir ein. Und so stand ich nun mit allem, was ich hatte am Gate und wusste, dass ich nicht mehr zurückkehren würde. Weder Tod, noch lebendig. Meine Worte und der Ehering auf dem Bett waren keine Entschuldigung für das, was ich tun würde. Eine Träne rollt über meine Wange und verschwindet auf meinem Mantel, als wär sie nie dagewesen. „Can i help you with boarding?“, reißt mich die Stimme der Flugbegleiterin aus den Gedanken. Mit schweißnassen Händen und klopfenden Herzen reich ich ihr die Papiere und murmle leise: „I´m sorry!“