Von Lina Monsé

Das Papier wog schwer in ihrer Hand. Tausend Worte rasten durch ihren Kopf, brandeten gegen ihre Lippen, bereit, herausgelassen zu werden. Doch da war niemand, der sie hören würde. Eine einzelne Träne bahnte sich den Weg über ihre Wange. Nein. Ich werde jetzt nicht weinen. Entschlossen fuhr das Mädchen, das jetzt eine junge Frau geworden war, über ihre Augen. Der Brief glitt ihr fast aus den zitternden Fingern. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, platzierte sie den goldenen Ring auf den gefalteten Bögen und trat einen Schritt zurück. Genevieve. Die Gravur war feingliedrig und elegant. Sie sprach von anderen Zeiten, anderen Sitten, anderen Geschichten. Doch egal, wie viel Vergangenheit in dem Erbstück steckte, ihre Großmutter hätte nicht gewollt, dass sie den Ring behielt. Nicht, wenn sie sich so von ihrer Familie abwandte. Ein letzter Blick auf ihre Abschiedsworte, dann drehte sie sich weg. Das dünne Papier enthielt nur vier Worte: Es tut mir leid. Was sonst sollte sie auch sagen? Ihr wusstet, dass es so kommen würde? Ich habe euch schon damals gesagt, dass es das ist, wer ich bin? Ihre Familie hatte gehört, was es zu hören gab. Und wenn sie sich trotzdem dazu entschlossen hatten, sie nicht zu akzeptieren, wie sie war, wurde es nun Zeit, sich weiterzuentwickeln. Zu wachsen. Kann mir mal jemand sagen, warum es trotzdem so wehtut? Mit schnellen Schritten überquerte sie die Terrasse und ließ das Gartentor zufallen.  

Wenige Minuten später klingelte ihr Handy. Immer noch zittrig und aufgewühlt nahm sie den Anruf entgegen. „Hey.“ „Hey.“ Stille. „Wie ist es gelaufen?“ „Ganz gut, denke ich. Ich habe den Brief hingelegt, die Zugtickets sind gebucht. In zwei Stunden bin ich da.“ „Okay. Dann bis in zwei Stunden. Frankfurt, Hauptbahnhof.“ „Frankfurt, Hauptbahnhof“, bestätigte sie. Wieder Stille. „Hör zu. Ich bin für dich da. Das weißt du doch, oder?“ Wieder brannten ihr tausend Worte auf der Zunge. Danke. Was würde ich nur ohne dich machen. Ich liebe dich. „Ich weiß. Bis dann.“ Mit einem Klick war der Anruf beendet. 

Die Hallen des Bahnhofs schienen bis in den Himmel zu reichen. So viele Menschen, mit so vielen Schicksalen und Geschichten. Ganz am Rande fragte sie sich, wie viele von ihnen wohl die gleiche Last wie sie mit sich herumtrugen. Welchem Kummer sie alle versuchten, zu entkommen. Es wurde langsam dunkel. 18 Uhr. Ob ihre Eltern wohl schon zu Hause angekommen waren? Ob sie den Brief schon entdeckt hatten? Das Rattern des einfahrenden Zuges riss sie aus ihren Gedanken. Die Menschenmassen drängten in den ICE, und wenige Minuten später lag das Gleis schon weit hinter ihnen. Benommen schaute sie aus dem Fenster und beobachtete, wie die Bäume vorbeizogen. Erst Wälder, dann Felder und Häuser, und irgendwann nur noch graue Betonareale. Die Zeit zog sich wie Kaugummi, und die Sonne neigte sich dem Horizont zu. Ich habe Angst, stellte sie irgendwann erstaunt fest. Große Angst. Die Tränen drohten ihr überzulaufen, doch ein Blick auf ihr Handy konnte sie beruhigen. Der Sperrbildschirm erinnerte sie daran, weswegen all das die Unsicherheit wert war. Wegen wem sie ihr ganzes Leben um 180 Grad herumgerissen hatte. Ein Blick, und ihr wurde klar: sie würde es jedes Mal wieder tun. Egal was die Zukunft für sie bereithielt, sie würde nicht verzweifeln, nicht aufgeben. 

Der ICE bremste ruckartig. Ihr Gepäck wurde fast über den Gang geschleudert. Die Lichter des Bahnhofs erleuchteten die Nacht, und langsam, wie in Trance erhob sie sich. Die letzten Schritte durch den Zug fühlten sich an wie Meilen. „Schwesterherz!“, ertönte da eine aufgeregte Stimme auf dem Bahnsteig. Als würde sie von unsichtbaren Schwingen getragen, rannte sie auf ihren Bruder zu und fiel ihm in die Arme. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Hey.“ „Ich hatte schon Angst, der Zug wäre in einen Graben gestürzt“, scherzte er. „Ist alles gut gelaufen?“ „Ja. Wie gesagt, der Brief und der Ring sind jetzt bei Mama und Papa.“ Ihr Bruder runzelte die Stirn. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst ihn behalten. Du weißt genau, dass Oma wollen würde, dass du ihn bekommst, egal, was zwischen dir und der Familie vorgefallen ist.“ „Es ist besser so. Ich will den Ring nicht mitgehen lassen wie eine schmutzige Diebin. Wenn ich schon kein Teil der Familie mehr bin, dann richtig.“ „Das ist so typisch für dich. Ich erinnere dich an deinem Hochzeitstag dran, wenn du feststellst, dass du 2000 Euro für einen neuen Ehering ausgeben musstest.“ Sie lachte schniefend. „Also. Wenn du möchtest, fahre ich dich jetzt.“ Zögerlich nickte sie. „Dann los.“

Das Auto kam schlitternd zum Stehen. Mittlerweile war es stockdunkel geworden, und nur die Scheinwerfer stanzten helle Kreise aus Licht in die Nacht. „Ich komme dich in zwei Wochen nochmal besuchen. Du weißt schon, um zu gucken, ob alles gut ist.“ „Danke. Du bist der beste Bruder der Welt.“ Er grinste. „Klar doch. Ich werde dich vermissen.“ „Ich dich auch.“ „Gibt es irgendwas, was ich Mama und Papa ausrichten soll?“, fragte er vorsichtig. „Sag ihnen, dass…dass es mir so unglaublich leidtut. Aber wir alle wissen, dass es so am besten ist.“ Er nickte. „Viel Glück.“ „Danke.“ Sie schwang die Beine aus dem Auto und schaute zu, wie es wegfuhr und immer kleiner wurde. Eine sanfte Stimme riss sie aus ihren Träumereien. „Rose!“ „Jane!“ Die zierliche Gestalt ihrer Freundin löste sich aus den Schatten. Sie zögerte keine Sekunde und beugte sich zu ihr herunter. Ihre Lippen trafen fast schon verzweifelt aufeinander, und sie fing Janes Seufzer mit dem Mund auf. „Du…du bist wirklich gekommen!“, hauchte diese. „Was dachtest du denn?“ „Ich hatte schon ein bisschen Angst, dass du es dir nochmal anders überlegst. Man kriegt ja schließlich nicht jeden Tag gesagt, dass seine große Liebe bei einem einziehen und ihre Familie dafür im Stich lassen will.“ Sie grinste. „Ich bin deine große Liebe?“ „Aber natürlich“, lächelte Jane. Jeder letzte Zweifel, der sie geplagt hatte, verpuffte restlos. Als sie nun in die Arme ihrer Freundin fiel, dachte sie nicht an Ringe, Briefe oder Entschuldigungen. Jetzt nicht, und hoffentlich nie wieder.