Von Hans-Günter Falter

Ja, die Strafe war verdient, sehr verdient. Er hatte ein Blutbad ohne Gleichen angerichtet. Alles nur aus einer blöden Verletzung heraus, aus diesem Minderwertigkeitsgefühl, dieser kindlichen Traumatisierung. Dabei konnte Daniel noch nicht mal genau sagen, was in seiner Kindheit eigentlich schiefgelaufen war.
Eigentlich war es ja alles Mareikes Schuld.
Auch der Psychologe, hier im „Vollzug“, schaffte es nicht, ihm zu erklären, wie es dazu kommen konnte. Er vermutete, negative Emotionen hatten sich massiv aufgestaut und es bedurfte nur eines winzigen Funkens, um diese Überreaktion auszulösen.
„Ja, er hat recht“, sagte sich Daniel, aber für diese Erkenntnis brauchte es doch nun wirklich keinen Psychologen.
Überhaupt hatte er das Gefühl, dieser Weißkittel interessiere sich nicht sonderlich für ihn. Natürlich hatte der sehr viele Patienten hier im Knast und einige wollten auch gar nicht an ihren Problemen arbeiten, sondern sich einfach nur mit einer halbwegs normalen Person, einer von „draußen“, unterhalten. Sie suchten nach Abwechslung in dem ansonsten gleichförmigen, drögen Tagesablauf hier im Gefängnis. 

Der Psychologe hatte sich wohl auf diese Erwartungen eingestellt und deshalb ging es in den Gesprächen mit ihm auch nie so richtig in die Tiefe.
Allerdings beabsichtigte Daniel schon an sich zu arbeiten, auch wenn die Chance, jemals wieder in die Freiheit entlassen zu werden, doch recht bescheiden war.
Er wollte wirklich etwas aufarbeiten, … aber andererseits nicht zu viel dafür tun, … und nicht alles von sich preisgeben. Das hätte er als Schwäche empfunden. Vielleicht nicht die allerbesten Voraussetzungen, um seine Probleme zu bewältigen, das war ihm schon auch klar; aber richtig verweigert hatte er sich jedenfalls nicht.

 

„Aufgrund der Schwere der Tat und der mangelnden Schuldeinsicht wird die Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der Haftstrafe angeordnet“, sagte der Richter damals in seiner Urteilsbegründung.
Dabei hatte Daniel doch in der Gerichtsverhandlung betont, wie sehr ihm die Tat leid tue und dass er auch einsehe, dafür bestraft werden zu müssen; ganz so, wie er es mit seinem Rechtsanwalt abgesprochen hatte.
Dass ihn die Situation tatsächlich aber nicht übermäßig belastete und er tief in seinem Innersten auch über Mareikes Tod froh war, sagte er in der Gerichtsverhandlung natürlich nicht. Er wollte sich ja nicht unnötig selbst belasten.

 

In seiner Erinnerung war alles noch ganz präsent. Es war einer dieser trübsinnigen verregneten Abende und Nächte gewesen, bevor es geschah. Und alles endete damit, dass er sie im folgenden Morgengrauen mit einem Beil erschlagen hatte.
Das ganze Geschehen war wie ein Déjà-vu für ihn. Er hatte alles, was passiert war, schon Wochen vorher immer und immer wieder geträumt. Diese Träume hatten ihm zuerst Angst gemacht und er wachte schweißgebadet auf, regelmäßig, wenn schon alles geschehen war.
Jedesmal endeten die Träume, nachdem ein Polizist auf ihn zukam, während er noch am Tatort stand, um nach seinen Personalien zu fragen, in diesen Momenten wurde er also wach. 

Mit der Zeit hatte er sich an den Traum gewöhnt; das Szenario wurde ihm vertraut und er empfand die Vorstellung, dass Mareike getötet wird – von ihm getötet wird –  gar nicht mehr so beängstigend.
Die eigentliche Tat geschah dann ganz automatisch, irgendwie war es unvermeidlich sie zu töten. Es brauchte nur noch diesen kleinen Auslöser.
„Trotzdem bin ich doch immer ein sehr friedliebender Mensch gewesen“, sagte er leise vor sich hin. „Nein, ich bin es nicht gewesen, ich bin es immer noch“, ergänzte er sich.

 

Mareike arbeitete als Krankenschwester auf der chirurgischen Station des Kreiskrankenhauses, nur wenige Gehminuten von der Wohnung entfernt. Sie blühte in ihrer Arbeit auf und unternahm auch privat viel mit ihren Kolleginnen und Kollegen. Daniel fühlte sich in diesem Kreis nie so richtig wohl, konnte einfach nicht mitreden, fühlte sich ausgeschlossen. Nach fünf Ehejahren war ihre große Liebe schon lange abgeflaut und es hatte sich sehr viel Gewohnheit in den Alltag geschlichen und dort fest eingenistet.
Irgendwann kam in Daniel der Verdacht auf, Mareike könnte eine Affäre mit ihrem Kollegen Eddi haben.
„ … ausgerechnet mit diesem unsympathischen, dicklichen Eddi. Was ist das überhaupt für ein Name? Wie kann man bloß Eddi heißen?“, sagte er halblaut, als ihm dieser Gedanke in den Sinn kam. 

Er hatte seine Frau direkt auf den Verdacht angesprochen, aber sie stritt alles ab, hatte behauptet, Eddi sei nur ein guter Kollege und Freund.
„Aber wer soll sowas denn glauben … guter Kollege und Freund, pah, so eine Unverschämtheit“, entfuhr es ihm, wie schon so oft in den letzten Wochen.
Die Situation war nur sehr schwer zu ertragen für Daniel, … damals genauso wie heute. 

Zugegeben, etwas ganz Eindeutiges hatte er nicht gesehen oder erfahren, aber sein Argwohn und das Misstrauen waren doch immer präsent und steigerten sich zusehends. Mareike war davon angenervt, nannte ihn grundlos eifersüchtig.
Allerdings hatte er sie doch mehrmals heimlich in der Krankenhauskantine beobachtet, hatte gesehen, wie sie sich mit Eddi unterhielt, wie sie zusammen lachten und wie Mareike vollkommen glücklich schien.
„Zuhause war sie doch ganz anders! Also musste da einfach noch mehr sein“, und er traute seiner Ahnung, instinktiv!

 

„Niedrige Beweggründe“, nannte es der Staatsanwalt in der Gerichtsverhandlung immer und immer wieder.
„Quatsch, betrogen zu werden ist doch kein niedriger Beweggrund“, dachte Daniel, „oder?“
Eddi wurde auch als Zeuge vernommen und er behauptete, niemals eine intime Beziehung zu Mareike gehabt zu haben. Sie seien nur kollegiale Freunde gewesen.
„ … warum hat er bloß so gelogen?“
Auch die anderen Kolleginnen und Kollegen von Mareike waren als Zeugen in der Gerichtsverhandlung und sie erzählten alle dasselbe, garniert mit falschen Tränen und gespielter Betroffenheit. Klar, sie konnten ihn ja nie richtig leiden, jetzt war die letzte Gelegenheit, es ihm nochmal so richtig zu zeigen, er konnte sich ja nicht wehren.
Für ihn und seine Situation hatten sie keinerlei Verständnis.  Aber egal, er kannte ja die Wahrheit, mehr war nicht nötig. Mareike hatte ihre Strafe verdient.

Der Richter, die Beisitzer und der Staatsanwalt hatten ihm auch gar nicht richtig zugehört, besonders nicht, als er erklärte, wieso es ausgerechnet an diesem Morgen passierte; was ihn dazu veranlasst hatte, Mareike zu folgen, als sie zum Frühdienst in die Klinik gegangen war. Hätten sie ihm zugehört, hätten sie es bestimmt verstanden und seine Strafe wäre sicherlich viel milder ausgefallen.

 

Er hatte schon etwas geahnt an diesem Morgen, wurde von ihrem Wecker wach und konnte nicht mehr, wie sonst üblich, sofort wieder einschlafen. Nachdem sie die Wohnung verlassen hatte und die Haustür ins Schloss gefallen war, stand er deshalb auch gleich auf und fand auf dem Esstisch einen kleinen Zettel und ihren Ehering. Mareike hatte beides dort abgelegt, bevor sie ging.
„I´m sorry“, stand auf dem Zettel, weiter nichts! Wenn das nicht das Eingeständnis war. Sie wollte ihn verlassen, … wegen diesem Eddi. Würde womöglich gleich zu ihm ziehen. 

 

Daniel verließ das Haus durch die Garage, griff sich das Beil, das er sonst benutzte, um Feuerholz für den Ofen zu spalten, und folgte ihr auf dem kurzen Weg in Richtung Klinik. Schon nach wenigen Schritten sah er sie im dämmrigen Licht vor sich auf der Straße und rief ihren Namen. Sie drehte sich zu ihm um, blieb stehen und schaute ihn fragend an. Er sagte nichts mehr, … folgte nur noch seinem Instinkt.

 

  1. Version