Von Heike Weidlich

Lina warf einen prüfenden Blick zum bleiweißen Himmel: Bald würde der erste Schnee fallen –  egal was der Wetterfrosch heute Morgen im Radio verkündet hatte. Sie spürte eine zarte Berührung an den Beinen. „Komm her, Mohrle“, lockte sie den kleinen schwarzen Kater, der von jedermann unter einem anderen Namen gerufen wurde.

Sie öffnete schwungvoll die Haustür und zog einen fingerdicken Packen Werbung aus ihrem Briefkasten, um ihn gleich darauf in hohem Bogen in den bereitstehenden Mülleimer zu werfen. Mit einem Blick sah sie, dass Richards Briefkasten nach dieser neuesten Lieferung von bunten Angeboten und Versprechungen vollends überquoll.

Sie rechnete nach, wann sie Richard das letzte Mal gesehen hatte. Das müsste Samstag – oder nein, Freitag gewesen sein. Sie war auf dem Weg zum Friseur gewesen, als Richard ebenfalls gerade seine Wohnung verlassen hatte. Zu mehr als einem kurzen Gruß hatte es nicht gereicht. Da er ihr jedoch noch bedrückter als sonst erschienen war, hatte sie sich fest vorgenommen am Abend bei ihm vorbei zu schauen, dann jedoch unerwartet Besuch bekommen und es vergessen.

Sie stellte ihre Tasche neben Richards Wohnungstür und klingelte. Nachdem sie es ein paar Mal versucht hatte, packte sie ihre Einkäufe und stieg die Treppen zu ihrer eigenen Wohnung hinauf.

Sowohl gegen halb drei am Nachmittag, als auch kurz vor den Nachrichten klingelte sie ohne Erfolg bei ihrem Nachbarn. Er ging weder ans Telefon noch an sein Handy. Langsam machte Lina sich Sorgen.

Nach einer unruhigen Nacht fasste sie einen Entschluss: Wenn sie  Richard nicht bis spätestens nach dem Mittagessen erreicht hätte, würde sie die Polizei benachrichtigen.

 

 

Als es kurz vor drei läutete, war Lina beinahe schlecht vor Aufregung. Vielleicht war Richard nur ein paar Tage  weggefahren, er war ihr schließlich keine Rechenschaft schuldig. Womöglich blamierte sie sich mit dieser Aktion bis auf die Knochen. Sei‘s drum. Sie straffte die Schultern und hob den Kopf. Daran konnte sie jetzt auch nichts mehr ändern. Sie öffnete die Wohnungstür, vor der zwei Streifenbeamte warteten.

„Frau Hoffmann? Ich bin  Polizeihauptmeister Wilkens und das ist meine Kollegin Polizeimeisterin Reiners. Sie machen sich Sorgen um ihren Nachbarn Herrn…?“

„Ludwig. Richard Ludwig heißt er.“

„Und was ist der Grund Ihrer Besorgnis?“

„Na ja, sein Briefkasten läuft über.“

„Das ist alles?“ Wilkens zog die dunklen Augenbrauen zu einem dicken Strich zusammen.

„Ja, äh, nein“, stotterte Lina. Sie zuckte mit den Achseln: „ Ach, ich weiß auch nicht. Ich habe ihn seit mindestens fünf Tagen nicht mehr gesehen. Und beim letzten Mal erschien er mir so – hm, traurig. Und jetzt reagiert er weder auf Klingeln noch Klopfen.“

„Könnte er nicht einfach ein paar Tage in Urlaub gefahren sein?“

„Ja –  natürlich. Das habe ich mir auch schon gedacht. Aber …“ skeptisch verstummte Lina.

„Wie dem auch sei. Wollen wir doch mal sehen, ob er aufmacht, wenn die Polizei vor der Tür steht. Zeigen Sie uns bitte die Wohnung von Herrn Ludwig.“

Etwas großspurig, wie es Lina vorkam, drückte der Polizist auf Richards Klingelknopf.

„Herr Ludwig, machen Sie auf. Hier ist die Polizei.“

Keine Reaktion.

„Hat Herr Ludwig Verwandte, irgendwelche Angehörigen?“

„Nein. Also jedenfalls nicht dass ich wüsste.“

In diesem Moment betrat Frau Keller das Haus: „Was ist denn hier los?“

Lina wand sich. Dieser ganze Rummel, den sie womöglich völlig unnötig losgetreten hatte, war ihr peinlich.

„Richard, Herr Ludwig ist seit ein paar Tagen verschwunden.“

„Hm. Als ich gerade an seinem gekippten Küchenfenster vorbeigekommen bin, wehte mir ein äußerst übles Düftchen um die Nase. Müsste mal wieder richtig Lüften der alte Knabe hab ich mir noch gedacht.“ Frau Keller schlug sich die Hand auf den Mund: „T‘schuldigung!“

Zum ersten Mal meldete sich die junge Polizistin zu Wort und wandte sich an ihren Kollegen: „Sollten wir nicht lieber nachsehen, ob alles in Ordnung ist? Herr Ludwig könnte sich in einer hilflosen Lage befinden.“

Und so wurde Hausmeister Geiger beauftragt Richards Wohnungstür zu öffnen. PHM Wilkens wies die kleine Gruppe an im Flur zu warten und die beiden Beamten verschwanden in der Wohnung, aus welcher nun ein durchdringender Geruch drang.

Kurz darauf kam Polizeimeisterin Reiners wieder zu Tür: „ Frau Hoffmann, wenn Sie bitte mitkommen würden“.  Drinnen drehte sie sich zu Lina um und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen: „ Es tut mir sehr leid Ihnen sagen zu müssen, dass wir in der Wohnung einen Toten gefunden haben.“ Sie räusperte sich: „Das ist kein schöner Anblick und es wird nicht leicht für Sie sein. Ich muss Sie jedoch bitten uns zu bestätigen, dass es sich um Herrn Ludwig handelt.“

Lina war schwindelig, als sie hinter der Beamtin Richards Wohnzimmer betrat. Alles war so vertraut und doch plötzlich völlig anders. Bereits von der Tür aus, sah sie ihn in seinem Sessel mit der dunkelbrauen Decke sitzen. Sein Kopf mit dem grauen Haarschopf war auf die Brust gesunken. Die Brille hing schief. Obwohl er verändert aussah, handelte es sich ohne jeden Zweifel um Richard.

Lina fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in den Magen bekommen, ihre Beine knickten weg und die junge Polizistin konnte sie gerade noch auffangen.

„Ich werde alles Weitere veranlassen. In der Zwischenzeit kannst du Frau Hoffmann befragen“, wies der Polizeihauptmeister seine Kollegin an.

Im Hausflur lehnte Lina sich an die Wand und atmete tief durch, als die Beamtin einen Block aus der Tasche zog und anfing ihr Fragen zu stellen. Doch Lina nahm deren Stimme lediglich als stetes Rauschen wahr. Worte ohne jegliche Bedeutung.

Plötzlich hörte das Rauschen auf: „… Geburtstag von Herrn Ludwig?“

Lina holte Luft und brachte mit leiser Stimme hervor: „Hier geht es doch um das Leben eines Menschen. Auch wenn dieser Mensch jetzt tot ist. Es geht um Richard. Meinen Nachbarn und Freund. Das bespricht man doch nicht zwischen Tür und Angel.“

Die Polizistin blickte beschämt zu Boden.

„Kommen Sie bitte mit in meine Wohnung. Dann werde ich Ihre Fragen beantworten, so gut ich kann.“

 

 

Schweigend saßen sich die beiden Frauen an Linas Küchentisch gegenüber und PM Reiners sah sich unauffällig in Linas geschmackvoller Wohnung mit dem beeindruckenden Bücherregal um.

Als sie sich etwas gefangen hatte, ergriff Lina das Wort: „Richard ist am 24.12.1956 geboren. An Weihnachten wäre er 63 geworden.“

„Haben Sie sich gut gekannt?“

„So gut wie man sich nur kennen kann, wenn man seit beinahe dreißig Jahren im selben Haus wohnt. Ja, wir haben viele Höhen und Tiefen zusammen durchgestanden.“

„Sie waren“, vielsagend sah die Beamtin sie an: „Freunde?“

„Gute Freunde!“

„Sie sagten, Herr Ludwig hatte keine Verwandten. Und er war auch nicht verheiratet, oder?“

„Nein. Er hat wohl nie die Richtige gefunden.“ Sie machte eine kurze Pause und sah zum Fenster hinaus, vor dem jetzt die ersten Schneeflocken zu tanzen begannen: „Bis zu diesem Frühjahr.“

Die Polizistin blickte sie aufmerksam an.

„Ab April oder Mai war Richard wie ausgewechselt. So – wie soll ich sagen, fröhlich, unbeschwert.“ Lina überlegte: „ Beinahe jungenhaft,  wenn man in diesem Alter von so was sprechen kann. Verstehen Sie was ich meine?“

Die Beamtin nickte: „Und woran lag das?“

„Erst wollte er es mir nicht sagen. Tat sehr geheimnisvoll. Aber dann ist er doch damit herausgerückt. Er hatte im Stadtpark eine Frau kennengelernt. Beim Spazierengehen. Mit über sechzig war er so verliebt wie noch nie zuvor in seinem Leben.“ Lina strich die geblümte Tischdecke glatt: „Stellen Sie sich vor: Er hat sich sogar einen neuen Anzug gekauft. Den ersten seit 20 Jahren.“ Wieder musste sie um Fassung ringen und wischte sich über die Augen.

Nach einer Weile fragte die Beamtin vorsichtig: „Haben Sie die Dame kennengelernt?“

„Nein. Ich habe sie zwei-dreimal im Flur oder vor dem Haus gesehen. Sie sah nett aus. Richard wollte sie mir an Weihnachten offiziell vorstellen.“

„Haben Sie ihre Adresse? Wir müssen ihr die traurige Nachricht schnellstmöglich überbringen.

„Nein, die weiß ich nicht.“

Schweigend rührte sie in ihrer Teetasse, obwohl diese beinahe leer war: „Vor ungefähr vier Wochen ist mir dann aufgefallen, dass Richard völlig verändert war.“

„Inwiefern?“

„Na ja. Die letzten Monate hat er das Haus beinahe immer pfeifend betreten. Keine Gelegenheit hat er ausgelassen, mir von seiner großen Liebe vorzuschwärmen. Zu Weihnachten wollte er ihr eine Flugreise schenken. Richard war noch nie geflogen.“ Sie knetete ihre Hände: „ Und einmal hat er mir ein kleines Kästchen gezeigt, aber nur ganz kurz, und er hat es auch nicht aufgemacht. Überraschung – zeig ich dir später, hat er nur gesagt und ganz glücklich dabei gelacht.“

Eine Träne rollte über Linas Wange: „Wenige Zeit später hatte ich dann den Eindruck, dass er mir aus dem Weg geht. Als ich ihn einmal nach seinen Reisevorbereitungen fragte, fiel ihm ein angeblich wichtiges Telefonat ein, das er sofort erledigen müsse und er ließ mich auf dem Gang stehen. Das war sehr unhöflich und absolut untypisch für ihn. Wenn ich ihn von da an gesehen habe, kam er mir niedergeschlagen, ja regelrecht unglücklich vor. Aber er wollte partout nicht mit mir reden – ich hätte darauf bestehen müssen.“  Sie weinte nun heftiger und Frau Reiners strich ihr zaghaft  über den Rücken.

In diesem Moment klopfte es leise an die Tür.

„Der Arzt ist jetzt weg. Vorbehaltlich der weiteren Untersuchungen geht er davon aus, dass Herr Ludwig an einem Herzinfarkt gestorben ist. Das hatte er in der Hand.“ Polizeihauptmeister Wilkens übergab Lina einen Bogen hellgelbes Briefpapier. „Haben Sie eine Ahnung um was es sich dabei handeln könnte?“

 

 

In einer schön geschwungenen Handschrift standen lediglich zwei kurze Sätze darauf:

 

Es tut mir leid.

Es geht einfach nicht.

 

Darunter war ein schmaler Goldring mit Tesafilm festgeklebt.

 

 

Das war alles. Für Lina jedoch war es genug und ihre heißen Tränen tropften auf das Briefpapier.

Nach einer endlos scheinenden Weile, hob sie den Kopf:

„Wissen Sie was ein Broken-Heart Syndrom ist? Richards Herz ist zerbrochen.“

 

 

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